Impfstoffverträge - Waffengleichheit vor Gericht?

Der Umgang mit den Corona-Impfstoff-Deals hebelt nicht nur Transparenzrichtlinien aus. Inhaltlich werden wichtige Rechtsstaatsprinzipien infrage gestellt. Das merken derzeit diejenigen, die gegen die Hersteller auf Schadensersatz klagen.

Ursula von der Leyen während eines Besuchs bei Pfizer / dpa
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Autoreninfo

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikations- recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Davor war er Rechtsanwalt und Professor für Europarecht, öffentliches Wirtschaftsrecht und Medienrecht an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) in Berlin.

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Eines ist sicher: Die Corona-Pandemie wird ein langes juristisches Nachspiel haben. Inzwischen laufen zahllose Klagen auf Schadensersatz gegen die Impfstoffhersteller. Die Kläger machen schwere gesundheitliche Schäden durch die Impfungen gegen das Coronavirus geltend und fordern Schadensersatz. Seit 2020 hat die EU Verträge mit den Impfstoffherstellern geschlossen, die auch die Bundesregierung binden. Sie enthalten Klauseln, die sich auf die Prozesse auswirken. Immer stärker werden die Zweifel, ob diese Verträge überhaupt verfassungsgemäß sind. Durfte die Bundesregierung sich überhaupt verpflichten, mögliche Schadensersatzforderungen gegen die Impfstoffhersteller zu übernehmen? Ist es verfassungsrechtlich erlaubt, dass die Regierung die Anwaltskosten der Impfstoffhersteller vollständig übernimmt?

Das Ende der Transparenz: Die Pfizer-Deals der EU

Die Europäische Union hat während der Pandemie Lieferverträge mit dem Impfstoffhersteller Pfizer geschlossen. Was genau in diesen Verträgen vereinbart wurde, ist bis heute unbekannt. Die EU und die Mitgliedstaaten, die durch diese Verträge verpflichtet werden, halten die Inhalte weitgehend geheim. Das ist ein Skandal ersten Ranges, der bisher kaum bekannt ist. Inzwischen gibt es Klagen bei unterschiedlichen Gerichten, die auf eine Offenlegung der Verträge zielen. Seit Oktober 2022 ermittelt sogar die Europäische Staatsanwaltschaft gegen die EU-Kommission. Sie ist zuständig für Straftaten, die die finanziellen Interessen der EU verletzen.

Für die EU ist Transparenz – jedenfalls in der Theorie – ein wichtiger Wert. Sie ist keine bloße politische Absichtserklärung, sondern ein rechtliches Prinzip, das sogar in den europäischen Grundlagenverträgen festgeschrieben ist. Eigentlich ist das eine pure Selbstverständlichkeit. Immerhin versteht sich die EU als demokratische Organisation, und ohne Transparenz ist Demokratie wenig wert. In der Praxis findet dieser hehre Grundsatz allerdings schnell eine Grenze. Besonders strikt wird die Auskunft verweigert, wenn Journalisten oder Abgeordnete nach dem Inhalt der Verträge fragen. Da sind sich die Europäische Kommission und die deutsche Bundesregierung sehr einig.

Verfassungsverstöße in den Deals?

Trotz der Blockaden sind einzelne Inhalte dieser Verträge mit den unterschiedlichen Impfstoffherstellern inzwischen an die Öffentlichkeit durchgesickert. Da geht es natürlich um die Impfstoffmengen und die – wie man hört – horrenden Preise dafür. Wichtig sind aber auch die nur scheinbar uninteressanten juristisch-technischen Details. Die nationalen Regierungen tragen sämtliche Prozessrisiken, die den Impfstoffkonzernen aus gerichtlichen Auseinandersetzungen drohen könnten. Die Bundesregierung übernimmt alle Schadensersatzzahlungen, die den Konzernen aus den Prozessen wegen Impfschäden entstehen könnten. Wenn also Pfizer einen Prozess verliert, zahlt nicht Pfizer den Schadensersatz, sondern der deutsche Steuerzahler. Eine zweite, genauso großzügige Klausel wird bisher erst wenig beachtet. Die Bundesregierung hat sich verpflichtet, sämtliche Anwaltskosten der Konzerne zu tragen. Politisch kann man die Frage stellen, woher diese Großzügigkeit kommt. Darüber muss in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Ganz brisant ist aber neben der politischen Einordnung die rechtliche Problematik: Ist diese Klausel überhaupt verfassungsrechtlich zulässig? Oder verletzt die Regierung damit das Rechtsstaatsprinzip und die Verfassung?

Waffengleichheit vor Gericht 

Das Grundgesetz ist sehr eindeutig. Deutschland muss ein Rechtsstaat sein. Das hat weitreichende Konsequenzen, gerade auch im Bereich der Justiz. Gerichtsverfahren im Rechtsstaat müssen strenge Anforderungen erfüllen. Richter müssen unabhängig sein, Betroffenen muss immer ein rechtliches Gehör eingeräumt werden. Ganz entscheidend: Vor Gericht muss Waffengleichheit herrschen. Diesen Grundsatz leitet das Bundesverfassungsgericht aus dem Rechtsstaatsprinzip und dem Gleichheitsgrundsatz ab. Dieser Gedanke findet sich genauso im europäischen Recht. Die Prozessbeteiligten müssen gleichmäßig mit dem Prozessrisiko und den Prozesskosten belastet werden – das verstehen die Karlsruher unter Waffengleichheit im Gerichtsverfahren. Waffengleichheit vor dem Richter – das hat Auswirkungen bis in die kleinsten Details eines Gerichtsverfahrens. Dass der Staat einem Angeklagten, der sich keinen Anwalt leisten kann, einen Pflichtverteidiger zur Seite stellt, ist nur ein Beispiel dafür, wie dieser Grundsatz den rechtsstaatlichen Prozess prägt.

Wer einen Prozess beginnt, geht finanzielle Risiken ein. Es kann ja sein, dass er diesen Prozess verliert. Das ist nicht nur frustrierend, sondern auch teuer. Wer vor Gericht verliert, muss die Gerichtskosten und die Anwaltskosten tragen. Gerade die – eigenen und gegnerischen – Anwaltskosten sind nicht zu unterschätzen. So hart es klingt: Man muss es sich leisten können, vor Gericht für sein Recht zu kämpfen. Denn das kann kostspielig sein.


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Hier liegt das verfassungsrechtliche Problem der Impfstoff-Verträge. Die Bürger, die Klage erheben, tragen das volle Prozessrisiko. Sie müssen die vollständigen Prozesskosten zahlen, wenn sie verlieren. Die Pharmaunternehmen, die von ihnen verklagt werden, tragen überhaupt kein Risiko. Der Staat übernimmt ihre Anwaltskosten ohne Begrenzung. Und wenn sie vor Gericht verlieren, übernimmt der deutsche Staat sogar den Schadensersatz, zu dem sie verurteilt werden. Das ist eine wunderbare Regelung für die Pharmakonzerne – und eine eklatante Verletzung der Waffengleichheit vor Gericht.

Vertrauen in die Gerichte?

Die Klauseln in den Verträgen sind nicht nur rechtsstaatswidrig. Sie sind brandgefährlich für das Vertrauen in den Rechtsstaat. Weil der Staat den Unternehmen die Risiken abnimmt, wird es teuer für ihn, wenn die Impfstoffhersteller die Prozesse verlieren. Es wird um Dutzende von Millionen gehen, wenn nicht noch deutlich mehr. Er hat also ein deutliches finanzielles Interesse daran, dass die Gerichtsverfahren gut für die Unternehmen ausgehen. Denn dann muss er nicht zahlen. Diese Interessenkonstellation ist in einem Rechtsstaat fatal. Als Rechtsstaat darf sein einziges Interesse sein, dass das Recht siegt. Oder weniger pathetisch formuliert: Es muss ihm darum gehen, dass die Gerichte unparteiisch, nur nach Recht und Gesetz entscheiden. Vertrauen die Bürger noch auf die Unparteilichkeit der staatlichen Gerichte, wenn es um so viel Geld geht?

Das Bundesgesundheitsministerium verweigert bei allen Fragen, die sich auf diese Klauseln beziehen, beharrlich-arrogant die Auskunft. Begründung: „vertragliche Vertraulichkeit“. Das macht es nicht besser. Die Geheimniskrämerei weckt natürlich Misstrauen und befeuert Verschwörungstheorien. Für den Rechtsstaat, der ohne das Vertrauen der Bürger langfristig nicht überlebt, ist das fatal.

Verfassung in der Krise

Natürlich muss man die Impfstoff-Verträge und ihre problematischen Klauseln im historischen Kontext sehen. Im Frühjahr 2021 war die Corona-Pandemie auf ihrem Höhepunkt. Massenimpfungen mit den gerade neu entwickelten Impfstoffen galten als der Königsweg aus der Pandemie. Gleichzeitig waren die Impfstoffe noch knapp. Es gab einen globalen Wettbewerb um die Impfstoffe. Aus diesen Gründen waren die Impfstoff-Hersteller in einer traumhaften Verhandlungsposition. Hier liegt sicher eine der Ursachen für die überaus großzügigen Vertragsklauseln. Trotzdem: Diese Verträge sind bei allem Verständnis für die schwierige historische Situation ein weiteres Beispiel für einen schweren Grundfehler der gesamten Coronapolitik. Während der Pandemie hat der Staat zu oft die Verfassung einfach missachtet. Die oft panikgesteuerte, nicht selten hysterische Logik der Krisenpolitik war: Die Pandemie wird bekämpft, koste es, was es wolle. Und wenn das Grundgesetz dabei stört, wird es ignoriert. Oder simpler formuliert: Der Zweck heiligt die Mittel. Das widerspricht der Idee und dem Sinn und Zweck der Verfassung völlig. Eine Verfassung gilt immer, auch und gerade in der Krise. Sie soll ja die Bürger vor dem Staat schützen. Und das ist in Krisensituationen nötiger denn je. Das ist es, was einen Staat zu einem echten Verfassungsstaat macht.

Über dieses Problem in der Corona-Krise wird viel zu wenig gesprochen. Das wäre ein wichtiges Thema für eine juristische Aufarbeitung der Pandemie-Zeit. Die Bereitschaft dazu scheint bisher nicht groß zu sein. Ohne eine schonungslose Aufarbeitung ist allerdings die Gefahr groß, dass sich die Relativierung der Verfassung in der nächsten Krise wiederholt. Eine Verfassung, die ignoriert wird, wenn es darauf ankommt? Die ist wenig wert.

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