Grüne Selbstgerechtheit - Schleichende Entfremdung

Wer nicht grün wählt, ist reaktionär. So zumindest dachte unser Autor über viele Jahre – bis er sich nicht mehr länger am Riemen reißen wollte.

Joschka Fischer im Jahr 1983 während einer Demo gegen Nachrüstung / Ullstein Bild
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Autoreninfo

Jan Fleischhauer war 30 Jahre lang Redakteur beim Nachrichtenmagazin Der Spiegel – u. a. als stellvertretender Leiter des Hauptstadtbüros. Populär wurde er durch seine Kolumne „Der schwarze Kanal“ sowie durch sein 2009 erschienenes Buch „Unter Linken. Von einem, der aus Versehen konservativ wurde“. Seit 2019 ist Fleischhauer Redakteur beim Nachrichtenmagazin Focus.

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Viele Leute denken, ich sei aus Prinzip gegen die Grünen. Das ist ein Missverständnis. Ich habe die Grünen über Jahre gewählt. Am Anfang aus Auflehnung, später aus Opportunismus. 

Meine erste Bundestagswahl war 1990, Lafontaine gegen Kohl. Meine Stimme ging an Joschka Fischer. Es war ein Akt jugendlichen Aufbegehrens. Meine Mutter erwartete eine Stimme für die SPD. Wenn sie gedurft hätte, wäre sie zu mir in die Wahlkabine gekommen, um sicherzustellen, dass ich mein Kreuz an der richtigen Stelle machte.

Für mich waren die Sozialdemokraten schon damals nichts für junge Menschen. Zu lasch, zu kompromissbereit, wenn es darauf ankam. Die CDU wiederum lag völlig außerhalb der Vorstellungskraft. Für Helmut Kohl zu stimmen, wäre so gewesen, wie sich beim Opus Dei einzuschreiben. Von heute aus betrachtet, wäre es die eigentlich revolutionäre Wahl gewesen, aber so konnte ich es damals natürlich nicht sehen.

Entfremdung 

Ich blieb den Grünen treu, wie alle, die ich kannte: die Kommilitonen an der Uni, meine Professoren, dann die Mitschüler an der Journalistenschule und die Kollegen in den Redaktionen. Dass man sich zu den Grünen bekannte, war so selbstverständlich wie das Bekenntnis gegen Atomkraft und den Hunger in der Dritten Welt. Wer anders dachte, war entweder zurückgeblieben oder reaktionär, in jedem Fall also jemand, mit dem man lieber nichts zu tun haben wollte.

Ich kann nicht genau sagen, wann ich den Grünen untreu wurde. Es war ein schleichender Prozess. Irgendwann ertappte ich mich dabei, dass mir die Selbstzufriedenheit auf die Nerven ging, die aus dem Bewusstsein erwächst, auf der richtigen Seite zu stehen, ja eigentlich immer recht zu haben.

Wenn ich sagen soll, was mich an den Grünen am meisten stört, dann ist es der pädagogische Ton, der alle Programme und Ankündigungen durchzieht. Vermutlich schlägt hier meine linke Erziehung durch. Der Widerspruch gegen Autoritäten wurde bei mir früh angelegt.

Nicht Verbot sondern Selbstdisziplin

Den Grünen hängt der Ruf an, sie seien Verbotspartei. Aber das trifft es nur zur Hälfte. Klar, die Liste der Dinge, auf die man besser verzichten sollte, ist bei ihnen lang. In einer Diskussion machte mich neulich eine Mitarbeiterin von Annalena Baerbock darauf aufmerksam, dass einige ihrer Bekannten glaubten, die Kanzlerkandidatin wolle jetzt Haustiere verbieten. Sie war erschüttert, wie viele Leute, die sie kannte, das für bare Münze nahmen. Aus meiner Sicht zeigt es, wie tief das Image als Verbotspartei verankert ist, sonst würde man den Haustierbann ja nicht für plausibel halten.

Mehr als Verbote zeichnet die Grünen allerdings der Optimismus des deutschen Pfarrhauses aus. Im Grunde gibt es kein Problem, das man nicht mit gutem Willen und Selbstdisziplin in den Griff bekommen kann. Was andere als Verbot bezeichnen, sehen die Grünen eher als Anleitung zu einem besseren Leben. Deshalb reagieren sie auch mit solchem Unverständnis, dass manche Menschen einfach nicht erkennen wollen, wie einfach es wäre, wenn alle sich ein wenig mehr am Riemen rissen.

Am deutschen Wesen...

Man sah das sehr schön in der Corona-­Krise. Nirgendwo war die sogenannte No-Covid-Strategie so populär wie im grünen Milieu. Auf die Frage, wie man denn dafür sorgen wolle, dass sich in einem offenen Europa auch Nachbarn wie Polen oder die Tschechei an die dann in Deutschland geltenden Regeln hielten, erhielt man zur Antwort, dass sich die anderen ein Beispiel am deutschen Vorbild nehmen würden. 

Wenn es eine Kandidatin gibt, die perfekt zum grünen Milieu passt, ist das Annalena Baerbock. Typ höhere Tochter, aber eben ökologisch sozialisiert, also Menschenkette mit den Eltern gegen Atomtransporte und später dann ein Master in Amnesty International. Wenn die eigenen Kinder über die Stränge schlagen, ist sie nicht wütend, sondern traurig.

Mehr Radwege gerne

Das Exzentrischste an Annalena Baerbock ist der Hang zur Flunkerei. Das macht sie mir wieder sympathisch. Wenn die Parteivorsitzende von einem rassistischen Vorfall an der Schule des Sohnes eines Bekannten berichtet, kann man mit fast hundertprozentiger Sicherheit davon ausgehen, dass sie auf Nachfrage nicht sagen kann, wo sich der Vorfall zugetragen hat oder wie die Schule heißt.

Man muss halt wissen, wann es klug ist, die Grünen zu wählen und wann nicht. Als neulich in meiner Gemeinde Bürgermeisterwahlen anstanden, habe ich ohne lange nachzudenken für die grüne Kandidatin gestimmt. „Mehr Radwege sind doch gut, das hebt den Wert unseres Hauses“, sagte meine Frau, die aus der Finanzindustrie kommt und der ich auch in politischen Fragen blind vertraue. Nur im Bund solle man die Grünen besser nicht ranlassen, meinte sie: Da könne zu viel Unsinn passieren. 

 

Dieser Text stammt aus dem Sonderheft zur Bundestagswahl des Cicero, das Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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