Grünen-Parteitag beschließt Grundsatzprogramm - Und Baerbock sprach: „Fürchtet euch nicht!“

Eine Mischung aus Apple-Event und evangelischem Kirchentag: Die Grünen haben mit ihrem digitalen Parteitag mehr als nur ein Grundsatzprogramm beschlossen. Sie wollen uns ein Gefühl verkaufen.

Alles ist dunkel, nur Annalena Baerbock strahlt / dpa
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Marko Northe hat die Onlineredaktion von cicero.de geleitet. Zuvor war er Teamleiter Online im ARD-Hauptstadtstudio und Redakteur bei der "Welt". Studium in Bonn, Genf und Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 

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Bundesgeschäftsführer Michael Kellner empfängt den Zuschauer auf der atomgrünstrahlenden Showtreppe. Gerade lief ein bedeutungsschwangerer Imagefilm mit dramatischen Bildern und dem Motto des Grünen-Parteitags, der in diesem Jahr coronabedingt digital stattfindet: „Jede Zeit hat ihre Farbe“. 

In diesem Slogan und der Farbe, diesem strahlenden Atomgrün, ist eigentlich schon fast alles enthalten, was über die Bundesdelegiertenkonferenz, wie die Grünen ihre Parteitage traditionell nennen, zu sagen wäre. Es ist der Anstrich, auf den es ankommt, die Inhalte gehen unter in einer aufwändigen Produktion, salbungsvollen Worten und technischen Problemen. 

Ein verbales Dampfbügeleisen

Und es ist das Atomgrün, das uns den Weg in die Flexibilität der neuen Grünen unter Annalena Baerbock und Robert Habeck leuchtet: Um auch mit der Union regieren zu können, darf nicht alles so moosgrün sein wie früher. Die Erderwärmung sollte gestoppt werden, wie es im Pariser Klimaabkommen steht, aber 1,5 Grad, diese Forderung aus dem linken Teil der Partei bügelt die Vorsitzende Baerbock mit einem verbalen Dampfbügeleisen dermaßen sanft ab, dass sich alle in eine warme, flauschige Decke gewickelt fühlen können. „Am Pariser Vertrag zu rütteln, und sei es noch so gut gemeint, verhindert doch gerade, dass wir ihn mit Leben füllen.“ Natürlich sei jedes Zehntelgrad weniger besser, aber der ökologische Wandel müsse jeden mitnehmen. „Zum Versprechen von Paris gehört deshalb auch: Dieser Wandel muss für alle funktionieren.“ Schließlich wolle doch auch der Kohlekumpel nur das Beste für seine Kinder.

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Ob die Grünen nun für oder gegen Gentechnik in der Landwirtschaft sind – niemand weiß es nach den Parteitags-Beschlüssen so genau. Ein wenig ja, ein wenig nein, alle haben irgendwie recht: Mit dieser Uneindeutigkeit ist Robert Habeck einfach nicht zu schnappen und präsentiert sich in Merkelscher Tradition als perfekter Kanzler. Er legt sich nicht fest und hat damit alle irgendwie auf seiner Seite. Die Delegierten beschließen im Sinne des Vorsitzenden: Gentechnik jein. Und auch bei dem Streitthema Homöopathie, für die einige ökologisch bewusste Mitglieder anfällig sind, drückt sich der Parteitag mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit um klare Worte im Grundsatzprogramm. 

Digital ist besser, außer für Jürgen Trittin

Digital ist besser, so scheint es, denn der Parteitag läuft geordneter und ruhiger ab, als man das von früheren Bundesdelegiertenkonferenzen kennt, auf denen oft genug eine Änderungsantragsdebatte nach der anderen ausuferte und die Delegierten immer wieder zur Ruhe ermahnt werden mussten, weil die Redner sonst ihr eigenes Wort nicht verstehen konnten. Zu den Grünen gehörte bis zuletzt immer noch ein kleines bisschen Anarchie, doch der digitale Kehrbesen scheint diese Unartigkeit hinweggefegt zu haben. In einer wichtigen Grundsatzabstimmung zumindest stellen sich die Delegierten zum Schluss gegen den Bundesvorstand: Das Grundeinkommen kommt als „Leitidee“ in das neue Programm der Grünen.

Nur selten kochen die Emotionen hoch und wenn, dann liegt es eher an der Technik. Denn nicht jeder kommt mit dem digitalen Fortschritt mit. Mal fehlt der Ton der zugeschalteten Delegierten, mal gibt es ein unangenehmes Feedback. Jürgen Trittin, der den Eindruck vermittelt, dass er sich auch 15 Jahre nach seinem letzten Ministeramt noch für den besseren Vorsitzenden hält, rastet aus, als er sich bei seiner Video-Einbringung zeitverzögert hört, und schlägt mit der Faust auf den Tisch. „Och, Mann!“, ruft der Ex-Flaschenpfandminister, und sicherlich ist er in diesem Moment auch wütend darüber, dass er nicht im Berliner Tempodrom gut ausgeleuchtet und in HD gefilmt auf der Bühne steht, sondern dass das Baerbock und Habeck vorbehalten bleibt. 

Apple-Event und Kirchentag

Abgesehen von solchen Ausfällen ist der Grünen-Parteitag, auf dem es eigentlich um ein neues Grundsatzprogramm gehen soll, die perfekte Show, eine Mischung aus Apple-Event und Kirchentag. Schon der eingangs erwähnte Michael Kellner spricht zur Eröffnung langsam, salbungsvoll, als sei das hier kein schnöder Parteitag, sondern der Abend vor der Schlacht: „Jede Zeit. Hat auch die Momente. Aus denen aus tausendfacher Erfahrung. Aus einem überwältigenden Wissensschatz. Und aus so vielen mit Herzblut geführten Diskussionen. Politische Wirklichkeit entsteht.“ Als Zuschauer erwartet man nun, dass Kellner jetzt entweder das neue iPhone vorstellt oder die Revolution ausruft. Aber dann geht er doch nur ein paar Schritte weiter zu den beiden Präsidiumsmitgliedern, die den ersten Abend des Parteitags leiten werden, und fragt sie, ob sie aufgeregt seien.

Baerbocks „Wort zum Sonntag“

Es ist diese Widersprüchlichkeit, diese Divergenz, die sich durch den ganzen Parteitag zieht und beim Zuschauer immer wieder das unangenehme Gefühl der Fremdscham hinterlässt. Hineingesprochen in die leere Veranstaltungshalle wirkt das Pathos der Grünen umso aufgesetzter. Besonders krass ist dieser Kontrast in den Reden von Habeck und Baerbock zu spüren. Baerbock, die einen weißen Trechcoat trägt, der – unfreiwillig oder nicht – an Kamala Harris Kostüm bei ihrer ersten Rede als Vice President elect erinnert, steht auf der überdimensionierten Bühne, der ganze Raum ist dunkel, nur sie strahlt. 

Und sie spricht salbungsvoll ihr „Wort zum Sonntag“ wie eine evangelische Pastorin, der ja im Fernsehstudio ebenfalls ihre Schäfchen fehlen. „Für alle, die unser grünes Klimamotto noch nicht so ganz kennen: Fürchtet euch nicht! Diese Klimarevolution ist in etwa so verrückt wie ein Bausparvertrag“, sagt Baerbock. Amen.

Das Problem ist ja nicht, dass sie mit ihrer Sorge um das Weltklima und den Naturschutz nicht recht hätte. Aber es ist dieses Besserwisserische, dieses Pastorale, diese Mischung aus Pathos und Bräsigkeit, die den geneigten Zuschauer abschalten lässt. 

Laut Habeck leben Menschen in Gruppen auf Schollen

Doch Baerbock bleibt im Unterschied zu ihrem Co-Vorsitzenden Habeck verhältnismäßig noch auf dem Boden, wird relativ konkret. Habeck, der ja nicht nur Politiker, sondern auch Schriftsteller sein will, ergeht sich in Sprachbildern, die sich vielleicht gut anhören, wenn man nicht so genau hinhört, aber wenn man es dann tut, bleibt man mit einer grundsätzlichen Frage zurück: Hä?

„Was ist die Geschichte hinter der Geschichte unserer Zeit?“, fragt Habeck da. Und sagt später: „Der gemeinsame Grund unserer Gesellschaft ist ausgetrocknet. Er hat Risse bekommen und kleine Schollen sind entstanden. Auf diesen Schollen leben Menschen in Gruppen und Grüppchen. Wenn es aber stark regnet, dann kann ein solch ausgetrockneter Boden all das Wasser nicht mehr aufnehmen. Dann bildet sich ein Graben, der das Land in zwei Hälften teilt.“ 

Der Realo wird zum Irrealo

Habeck sagt das mit großer Ernsthaftigkeit, er trägt einen dunklen Anzug und steht im dunklen Tempodrom, wie Baerbock ohne Rednerpult auf der Bühne. Man kennt das von amerikanischen Präsentationen – Steve Jobs hat sie einst perfektioniert und auch deutsche Grünenvorsitzende wollen ihm offensichtlich nacheifern, auch wenn Jobs’ Konzern Apple alles andere als ein umweltfreundliches und ressourcenschondes Unternehmen ist. 

Wie einst Jobs verkauft Robert Habeck nicht ein schnödes Produkt, sondern eine Idee, ein Gefühl. Der Realo Habeck wird hier zum Irrealo, und es ist diese anbiedernde, pathetische Verkaufe, die einen schalen Geschmack von Bigotterie hinterlässt. Denn die Grünen wollen am liebsten das globale Wirtschaftssystem umkrempeln, damit die Klimakrise abgewendet werden kann. Aber sie bedienen sich marktwirtschaftlicher Werbemethoden, wenn es darum geht, ihre Politik an den Mann zu bringen. Habecks vorgebliche Authentizität entlarvt sich so als Inszenierung und mit ihm die ganze Veranstaltung. Dann doch lieber die echten Emotionen eines Jürgen Trittin.

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