Karl Lauterbach und das Infektionsschutzgesetz - Das verhunzte Gesellenstück

Gegen alle politische Wahrscheinlichkeit ist der Sozialdemokrat Karl Lauterbach Bundesgesundheitsminister geworden – und wird jetzt in diesem Amt mit neuen Realitäten konfrontiert. Denn seine Fachexpertise ist nicht mehr gefragt, stattdessen geht es um Handlungsfähigkeit. Der aktuelle Streit um die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes zeigt: Lauterbach wird sich neu erfinden müssen.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach während der Bundestagsdebatte an diesem Freitag / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Dass Karl Lauterbach vor einigen Monaten zum Bundesgesundheitsminister aufstieg, ging gegen alle politische Wahrscheinlichkeit. Um Spitzenämter im Staate zu erklimmen, gibt es für gewöhnlich nämlich nur zwei Wege: Entweder gehört man zum Lager der skrupellosen Machtpolitiker, denen es um die eigene Karriere weit mehr geht als um die Sache. Mangelnde Sachkenntnis wird hier einfach durch politische Brutalität wettgemacht, die zumindest Respekt verschaffen kann. Oder man ist ein ausgesprochener Teamplayer und wird auf einer Woge der institutionsinternen Sympathie nach oben getragen. Karl Lauterbach aber ist weder das eine noch das andere.

Politiker mit autistischen Zügen

Am ehesten kann man ihn wohl als einen Wissenschaftler mit autistischen Zügen in einem Staatsamt charakterisieren, und das ist gar nicht despektierlich gemeint. Man erinnere sich: Während die Republik in der Pandemie ein ums andere Mal kopfstand und nicht recht wusste, was zu tun ist, pilgerte Lauterbach von Talkshow zu Talkshow und vermittelte beharrlich den aktuellen Stand der Wissenschaft. Die Voraussetzung hierfür war, dass er selbst schon fast manisch alle aktuellen Studien gelesen und persönlich ausgewertet hatte. Und das ging nur, weil er kein Staatsamt inne- und deshalb Zeit hatte.

Allein in der Corona-Pandemie war es Lauterbach daher möglich, aus seinen politischen Schwächen eine echte Stärke zu machen. Er war der sachliche Ruhepol und schien aller Parteipolitik enthoben. Deutschlands Öffentlichkeit labte sich an dieser Entlastung von parteipolitischer Polemik in ungewissen Zeiten.

Ohne Corona jedenfalls wäre er nie und nimmer Minister geworden. Denn genau so, wie er in seinem stillen Kämmerlein wissenschaftliche Studien auswertete und deren Ergebnisse stupend öffentlich erklärte, macht er schon seit vielen Jahren Politik. Er gilt als der vielleicht eigenbrötlerischste und eigensinnigste Sozialdemokrat in der Bundestagsfraktion der SPD. Als er im Jahr 2019 gegen Olaf Scholz für den SPD-Parteivorsitz antrat, blieb er auch aus diesem Grunde völlig chancenlos.

Seiner Beliebtheit tat das in der Öffentlichkeit keinen Abbruch. „Endlich ein Fachmann als Gesundheitsminister“, tönte es aus Verbändemund und Leserbriefen. Allerdings verkannten diese Beifallsbekundungen, dass ein Gesundheitsministerium keine Patienten operiert und auch nicht selbst Gesundheitsforschung betreibt. Während man in der Wissenschaft als Eigenbrötler überleben kann und dies in manchen Gebieten sogar zur Fachkultur dazugehört, müssen Politiker an führender Position Menschen mit gegensätzlichen Meinungen erfolgreich zusammenführen, um kollektive Handlungsfähigkeit zu erzeugen. Und das ist etwas ganz anderes als fachwissenschaftliche Expertise.

Wie sehr die Welten von Wissenschaft und Politik in dieser Hinsicht auseinanderklaffen, konnte man dieser Tage mit der Novellierung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) live und in Farbe betrachten. Der mit so großen Vorschusslorbeeren gestartete Lauterbach musste harsche Kritik von allen Seiten einstecken – für das Ergebnis genauso wie für das Verfahren. Und das ausgerechnet bei seinem gesetzgeberischen Gesellenstück.

Die Beratung von Gesetzen durchläuft stets mehrere Stufen. Bevor die Bundesregierung dem Parlament ein Gesetz vorlegt, werden für gewöhnlich Experten und Verbände um Stellungnahme gebeten. Diesmal scheint das Prozedere aber aus den Fugen geraten zu sein. Der Deutsche Landkreistag jedenfalls beschwerte sich darüber, dass er die Aufforderung zur Anhörung erst am 9. März 2022 erhielt und bis 10.00 Uhr des selben Tages seine Stellungnahme abgegeben haben sollte. Der Kommunalverband hielt mit seiner Kritik daher nicht hinter dem Berg: „Es liegt auf der Hand und bedarf keiner näheren Begründung, dass diese Umstände nicht den Anforderungen eines ordnungsgemäßen Beteiligungsverfahrens entsprechen. Das ist umso unverständlicher, als bereits seit längerer Zeit klar war, dass das IfSG vor dem 19.3.2022 geändert werden muss“, heißt es in einem Schreiben an den Deutschen Bundestag.

„Der Bund trägt jetzt die Verantwortung“

Aber nicht nur mit den Experten und Verbänden hat es sich Lauterbach verscherzt. Dasselbe trifft auch auf die Länder zu, die immerhin für die Umsetzung des Infektionsschutzgesetzes zuständig sind. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wurde der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, Hendrik Wüst (CDU), in dieser Woche überdeutlich: Das Gesetz sei nicht nur ohne „intensive Einbindung der Länder“ zustande gekommen, sondern werde „parteiübergreifend“ von den Länderchefs abgelehnt, da es „praktisch nicht umsetzbar“ sei. „Der Bund trägt jetzt die Verantwortung dafür, dass den Ländern die Werkzeuge für einen schnellen und effektiven Basisschutz genommen werden“, so Wüst.

Gemeint ist damit nicht nur, dass bis auf wenige Ausnahmen die als effektiv geltenden Maßnahmen wie das Tragen von Masken demnächst ausgesetzt werden, sondern auch die Erfindung so genannter „Hotspot“-Regelungen. Gemäß Infektionsschutzgesetz soll den Ländern damit die Möglichkeit eingeräumt werden, doch noch – wie bisher – schärfere Maßnahmen zu ergreifen.

Und das soll dann der Fall sein, wenn es „lokal begrenzt zu einer bedrohlichen Infektionslage“ kommt. Als Kriterien hierfür nennt der Gesetzesentwurf der Ampel eine „gefährlichere Virusvariante“, die „drohende Überlastung der Krankenhauskapazitäten wegen besonders vieler Neuinfektionen“ oder den „besonders starken Anstieg der Neuinfektionen“.

Was der Gesetzesentwurf indes nicht enthält, sind konkrete Kriterien dafür, wann die vom Gesetz gemeinten Umstände denn erreicht sind. Stephan Pilsinger (CSU) bezeichnete in der Bundestagsdebatte zur zweiten Lesung daher nicht ohne Grund das „gesamte Gesetz“ als einen „unbestimmten Rechtsbegriff“. Es ist diese Schwammigkeit, die aus Sicht der Länder das Gesetz „praktisch nicht umsetzbar“ (Hendrik Wüst) macht. Und anfällig für Klagen aller Art.

Aber nicht nur die Uneindeutigkeit ist ein Problem. Hinzu kommt, dass nicht die Regierungen, sondern die Landesparlamente über den Status von Regionen als „Hotspots“ entscheiden sollen. Einer angemessenen Reaktionsgeschwindigkeit des Staates in Zeiten der Pandemie, wie sie unter Experten als unverzichtbar gilt, steht dies freilich entgegen. Landesparlamente tagen nämlich in der Regel nur einmal im Monat. Was Justizminister Marco Buschmann (FDP) als Prozess der Demokratisierung in der Pandemielage gelten dürfte, ist für seine Kritiker wie Oppositionspolitiker Hendrik Hoppenstedt (CDU) daher nichts anderes als eine „Beschädigung der Gewaltenteilung“ mit möglicherweise verheerenden Konsequenzen. 

Lauterbach muss sich neu erfinden

Überhaupt Marco Buschmann. Er gilt seit Monaten als „Mr. Freedomday“ und hat entscheidenden Anteil an der gegenwärtigen Misere des Bundesgesundheitsministers. Karl Lauterbach war eingezwängt zwischen den Freiheitsversprechen der Liberalen auf der einen und den Beteiligungswünschen von Experten und Länderchefs auf der anderen Seite. Ohne eine Kompromisslösung, wie sie nun mit dem neuen Infektionsschutzgesetz vorliegt, wären nämlich sämtliche Möglichkeiten zur Freiheitseinschränkung mit dem 20. März 2022 ersatzlos ausgelaufen.

Und die FDP hat dieses Nötigungspotenzial kaltschnäuzig ausgenutzt. Um ein Maximum an Instrumenten zu sichern, musste Lauterbach mit Buschmann bis zum letzten Moment verhandeln. Den Preis dafür zahlt aber er allein: Sein Renommee hat nicht nur unter Experten, sondern auch Landespolitikern erheblichen Schaden genommen. Überhaupt wurde jene Einheit des staatlichen Handelns, die im föderalen Deutschland in den letzten beiden Jahren erst so mühsam hergestellt werden musste, über Nacht wieder zur Disposition gestellt.

Will Lauterbach daher nicht auf Dauer scheitern, wird er seine Rolle neu erfinden müssen. Dazu gehört auch, die Auswertung wissenschaftlicher Studien künftig den Experten in seinem Haus zu überlassen und sich auf das zu konzentrieren, wozu er da ist: die Experten und verschiedenen politischen Lager und Institutionen zur kollektiven Handlungsfähigkeit zu führen. Denn genau dafür ist Politik in Wahrheit da.

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