Über den „Kampf gegen rechts“ - Die halbierte Demokratie

Wie keine andere Demokratie lebt die Bundesrepublik im Schatten einer dunklen Vergangenheit. Begrenzungen der Freiheit des politischen Diskurses und des politischen Wettbewerbs bedürfen daher starker, konsensfähiger Begründungen. Wenn es „gegen rechts“ geht, gerät das erstaunlich leicht in Vergessenheit. Hier verwischen häufig die Grenzen zwischen der extremen demokratiefeindlichen Rechten und dem demokratieloyalen Konservativismus. Eine ungute Entwicklung.

Wer Andersdenkende aus dem Diskursraum drängt, halbiert damit die Demokratie / Karsten Petrat
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Peter Graf von Kielmansegg ist Politikwissenschaftler und Publizist. 

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Der Feind steht rechts!“ Wer mit der Geschichte der Weimarer Republik vertraut ist, weiß, dass es der Reichskanzler Joseph Wirth war, der diesen Satz nach dem Mord an Walther Rathenau in einer leidenschaftlichen Reichstagsrede der republikfeindlichen Rechten entgegenschleuderte. Das ist genau 100 Jahre her. Wirth hatte recht, jedenfalls was den Feind angeht, der ein Jahrzehnt später der Republik tatsächlich den Todesstoß versetzte.

Neuerdings – die zweite deutsche Demokratie ist inzwischen fast 75 Jahre alt – hören wir Sätze, die ganz ähnlich klingen. Die Bundesinnenministerin sagt es immer wieder beschwörend: „Die größte Gefahr für die Demokratie ist der Rechtsextremismus.“ Und sie hat dabei die deutsche Demokratie im Blick. Schon ihr Vorgänger hat es gesagt. Und der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz bestätigt diese Einschätzung mit Entschiedenheit. Haben die Warnungen, fragt man sich beunruhigt, die höchst bedrohlich klingen, eine Wirklichkeit im Visier, die ähnlich bedrohlich ist wie die von 1922? Was heißt das – „die größte Gefahr für die Demokratie“?

Unterscheidung krimineller und politischer Gefahr

Wer über die Grenzen Deutschlands hinausblickt und die Welt der Demokratien insgesamt ins Auge fasst, wird mit dem Stichwort „rechte Gefahr“ wohl am ehesten die rechtspopulistischen Bewegungen und ihre Wahlerfolge in nicht wenigen Demokratien assoziieren – Trump, Le Pen, Meloni, Orbán, Kaczynski, um sie an Namen festzumachen.

Diese Bewegungen sind nicht einfach als demokratiefeindlich einzustufen, wohl aber mit ihrem übersteigerten Nationalismus, ihrer Verachtung des politischen Gegners, ihrem uneindeutigen Verhältnis zum Regelwerk der Demokratie als demokratiegefährdend. Und wer sich wie Trump weigert, die Ergebnisse demokratischer Wahlen anzuerkennen, sie vielmehr mit Betrugslügen beharrlich zu delegitimieren versucht oder, wie es in unserer Nachbarschaft geschieht, darangeht, die Unabhängigkeit der Justiz oder der Medien auszuhebeln, der legt in der Tat die Axt an die Wurzeln des demokratischen Verfassungsstaats. 

Nun ist aber gerade Deutschland von diesen Entwicklungen deutlich weniger stark betroffen als andere große Demokratien. Ein Trump ist hierzulande noch nicht aufgetreten. Nichts deutet darauf hin, dass eine rechtspopulistische Bewegung Regierungsmacht erobern könnte. Die AfD, wie immer man sie einstuft, ist eine stagnierende Partei, die sich einer geschlossenen Abwehrfront der anderen Parteien gegenübersieht und trotz ihrer Stärke in den ostdeutschen Bundesländern nirgends auch nur in die Nähe einer Regierungsbeteiligung gelangt ist. 

Tatsächlich sind die politischen Bewegungen des rechten Randes in kaum einem anderen Land so isoliert, so entschieden politisch exkommuniziert wie in Deutschland. Dass sie eine ernste politische Gefahr für die deutsche Demokratie darstellten, ist eine kühne Behauptung. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass der Rechtsextremismus mit seinen Versuchen, sich mit Protestbewegungen verschiedenster Art zu verbünden, nicht ganz erfolglos war – zu einem anderen Urteil führt das nicht.

Was also kann gemeint sein? Gemeint ist, darf man vermuten, die kriminelle Gefahr, die vom Rechtsextremismus ausgeht, die Gefahr politisch motivierter Gewalttaten, bis hin zu Morden. Ob sich im rechtsextremistischen Milieu tatsächlich das bedrohlichste Potenzial politisch motivierter Gewalt herausgebildet hat, können nur die Fachleute beurteilen. Es mag so sein. Aber selbst wenn es so ist – die Notwendigkeit, zwischen der politischen Bedrohung des demokratischen Verfassungsstaats und der kriminellen Bedrohung des gesellschaftlichen Friedens zu unterscheiden, wird davon nicht berührt.

Verwischung zwischen Konservativismus und Extremismus

Gerade Deutschland sollte über die Unterscheidung zwischen der politischen und der kriminellen Dimension der „rechten Gefahr“ nicht einfach hinwegsehen. Denn für Deutschland ist aus Gründen, die auf der Hand liegen, die Auseinandersetzung mit dieser Gefahr eine besondere Herausforderung. Wie keine andere Demokratie lebt die Bundesrepublik im Schatten einer dunklen Vergangenheit. Auf der einen Seite verpflichtet diese Vergangenheit das Land zu strenger Wachsamkeit. Auf der anderen setzt sie die politischen Akteure der ständigen Versuchung aus, sich ihrer als Waffe im politischen Tagesgefecht zu bedienen. Denn die Beschwörung der Dämonen der Vergangenheit ist in den politischen Debatten dieses Landes immer ein Argument, das gehört wird. Aber sie ist keineswegs immer ein legitimes Argument.

Zu den problematischen Konsequenzen des unentrinnbaren Hineinwirkens der Vergangenheit in die Gegenwart gehört vor allem die, dass der Kampf gegen die „rechte Gefahr“ über die Grenzen hinausgetrieben wird, die das für die Demokratie konstitutive Prinzip Offenheit ihm zieht. Demokratisch verfasste, also ihrem Selbstverständnis nach offene Gesellschaften suchen Lösungen für die Aufgaben, die sich ihnen stellen, in prinzipiell offenen Diskurs- und Wettbewerbsräumen. Begrenzungen der Freiheit des politischen Diskurses und des politischen Wettbewerbs bedürfen starker, konsensfähiger Begründungen. Wenn es „gegen rechts“ geht, gerät das erstaunlich leicht in Vergessenheit.

Die Gefahren, die dem Demokratieprinzip Offenheit in den besonderen deutschen Verhältnissen immer dann drohen, wenn die Vergangenheit gegen den politischen Gegner aufgeboten wird, treten am sichtbarsten in der Tendenz hervor, in der Auseinandersetzung mit der „rechten Gefahr“ die Grenzen zwischen der extremen demokratiefeindlichen Rechten und dem demokratieloyalen Konservativismus zu verwischen, wenn möglich, sie vergessen zu machen. Gelegentlich mag dabei Fahrlässigkeit im Spiel sein. Vor allem aber ist politische Absicht am Werk; die Absicht, den als „rechts“ etikettierten politischen Gegner aus dem Raum legitimen politischen Diskurses und Wettbewerbs hinauszudefinieren. Wer aus diesem Raum hinausdefiniert ist, hat keinen Anspruch auf Gehör und Stimme mehr.

Was aus dem demokratischen Diskurs gedrängt wird

In der im politischen Sprachgebrauch – bis hin zu Großorganisationen wie Kirchen und Gewerkschaften – weitverbreiteten Kampfparole „gegen rechts“ findet die Strategie alles, was als Rechtsabweichung von den Positionen des linksliberal geprägten Zeitgeists wahrgenommen wird, ins politische Abseits zu drängen, ihren deutlichsten und schlichtesten Ausdruck. „Rechts“ – diese Assoziation soll der konturlose Kampfbegriff wecken –, da ist der Ungeist einer furchtbaren Vergangenheit irgendwie noch am Werk. Man muss ihn ausrotten.

Aber um welche politischen Streitfragen geht es denn tatsächlich in den Feldzügen, die „gegen rechts“ geführt werden? Gewiss, gelegentlich auch um Antisemitismus oder einen tief völkisch eingefärbten Nationalismus, um wirklichen Rechtsextremismus. Viel häufiger aber, beispielsweise, um die Überzeugung, dass Kinder Vater und Mutter brauchen; um die Auffassung, dass Demokratien, zumal wenn sie zugleich ausgebaute Sozialstaaten sind, nicht mit offenen Grenzen leben können; um das Urteil, dass ein europäischer Bundesstaat kein vernünftiges Ziel ist und das europäische Projekt nur gelingen kann, wenn es die europäischen Nationalstaaten als seine konstitutiven Träger anerkennt; um die Befürchtung, dass eine starke islamische Einwanderung den Kulturraum Europa in einer Weise verändern wird, die wir nicht wünschen können; am Ende gar nur um die Weigerung, sich der Gender-Sprache zu bedienen – und so fort und so fort. Man mag diese Positionen „rechts“ nennen, mag ihnen politisch entgegentreten. Aber dass sie im demokratischen Diskurs Anspruch auf Stimme und Gehör haben, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. 

Eine offene Gesellschaft zerstört sich selbst, wenn sie zulässt, dass eine hegemoniale Meinungsströmung die Grenzen des demokratischen Diskurs- und Wettbewerbsraums einseitig festlegt. Dass der Kampf für die exklusive Geltung der eigenen Weltsicht sich als Kampf für die Demokratie versteht oder auch nur maskiert, macht die Sache nicht besser, sondern problematischer.

Die Verfassung wird normativ aufgeladen

Dort, wo er sich das Etikett „antifaschistisch“ gibt, begegnet uns die Illiberalität des Kampfes „gegen rechts“ – eines Kampfes, der weit mehr und anderes im Visier hat als den demokratiefeindlichen Rechtsextremismus – in potenzierter Form, manchmal ins Absurde gesteigert. Da „Faschismus“ der Inbegriff alles Bösen ist, steht der Antifaschist per definitionem für das Gute schlechthin. Dabei definiert, was „Faschismus“ ist, der antifaschistische Kämpfer selbst. Damit ist der Begriff zur fast beliebig einsetzbaren Wortwaffe geworden. Man könnte meinen, spätestens jetzt, da Putin nun auch seinen Eroberungskrieg gegen die Ukraine mit dem antifaschistischen Vokabular rechtfertigt, müsse jeder über die deutlich gewordene bedenkenlos beliebige Indienstnahme dieses Vokabulars zu Diffamierungszwecken erschrecken. Aber darauf ist wohl nicht zu hoffen.
 

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Neuerdings drängt der antifaschistische Kampf selbst in die Verfassungen hinein. Erste Bundesländer haben Antifaschismus-Artikel in ihre Verfassungen aufgenommen. Niemand, so scheint es, wagt auszusprechen, dass angesichts der völligen Konturlosigkeit des Faschismusbegriffs mit solchen Klauseln der politischen Instrumentalisierung der Verfassung Tür und Tor geöffnet wird. 

Diese neueste Entwicklung fügt sich ein in einen längerfristigen Entwicklungstrend des Verfassungsdenkens in Deutschland: Das Grundgesetz wird aufgeladen mit immer mehr normativer Substanz. Das hat seine historischen Gründe wie so vieles hierzulande. Die Bundesrepublik ist und will sein ein Verfassungsstaat im emphatischen Sinn, weil das Deutschland der Jahre 1933 bis 1945 das Gegenteil war. Aber auch wenn sie erklärbar ist, unproblematisch ist die Tendenz, immer mehr normativen Gehalt in die Verfassung hineinzuschreiben oder hineinzuinterpretieren, deshalb nicht. Auch diese Tendenz gefährdet die Offenheit der Demokratie.

Raum für Kontroversen muss immer bleiben 

Das viel besprochene Urteil des Verwaltungsgerichts Köln im Streit zwischen der AfD und dem Bundesamt für Verfassungsschutz macht das exemplarisch sichtbar. Das Gericht hat seine Entscheidung zugunsten des Bundesamts nicht zuletzt darauf gestützt, dass die AfD einen „ethnischen“ Volksbegriff propagiere. Der sei mit dem Volksbegriff des Grundgesetzes unvereinbar. Aber ist die Frage, was das sei, das „deutsche Volk“, von dem die Präambel des Grundgesetzes spricht, nicht im Staatsangehörigkeitsrecht, also vom Gesetzgeber, zu beantworten? 

Die Ausgestaltung des Staatsangehörigkeitsrechts vollzieht sich in einer freien Gesellschaft, die in einer Welt globaler Migration unter hohem Einwanderungsdruck steht, notwendig kontrovers. Das gilt in besonderem Maße für die Regeln der Einbürgerung. Die Verfassung muss Raum für diese Kontroversen lassen, die immer nur auf Zeit und meistens durch Kompromisse entschieden werden. Wer seine eigene Antwort als die einzig zulässige in die Verfassung hineininterpretiert, verweigert den Dialog, den das Thema dringlich fordert. Natürlich zieht die Verfassung Grenzen. Die Antwort des Nationalsozialismus auf die Frage nach dem deutschen Volk ist mit dem Grundgesetz ganz sicher nicht vereinbar. Aber Grenzen ziehen für den Raum, in dem Antworten ausgehandelt werden, ist das eine, definitive Antworten geben ein anderes.

Mit der Tendenz, immer mehr normative Substanz in die Verfassung hineinzuinterpretieren, geht im Übrigen auch eine Steigerung der Erwartungen an den verfassungstreuen Bürger einher. Er soll nicht nur die Regeln des Zusammenlebens, die die Verfassung festgelegt, respektieren, er soll sich zur Verfassung als einem Kodex von Werten bekennen. Verfassungsloyalität wird zu einer Sache nicht des Verhaltens, sondern der Gesinnung. Anders formuliert: Die Verfassung wird zu einem Bekenntnistext – und die Bürgerschaft zu einer Glaubens- und Bekenntnisgemeinschaft. 

Alle haben Privilegien, außer die AfD?

Ein solches Verfassungsverständnis grenzt aus. Die Antwort auf die Frage „Wer gehört zur Verfassungsbekenntnisgemeinschaft?“ ist eine andere als die auf die Frage nach der Verfassungsloyalität. Dabei versteht sich, dass Verfassungsloyalität für die, die im Dienst des Gemeinwesens stehen und für das Gemeinwesen handeln, etwas anderes bedeutet als für die Bürger im Allgemeinen. Doch auch dort, wo die Anforderungen gesteigert sind, bleibt es dabei, dass die wehrhafte Demokratie des Grundgesetzes nicht Gesinnungen, sondern Verhalten im Visier hat.

Das Kölner Urteil rückt im Übrigen noch ein anderes Thema in den Blick: Was wird aus Artikel 21 des Grundgesetzes im Zuge des Kampfes „gegen rechts“? Das Grundgesetz privilegiert bekanntlich Parteien. Sie haben einen Verfassungsauftrag und sie können nur vom Bundesverfassungsgericht verboten werden. Der Kampf „gegen rechts“ reibt sich auch an diesem Privileg, wenn es rechten Parteien zugutekommt.

Man muss kein Sympathisant der AfD sein, um sich zu fragen, ob die einmütig geübte Praxis aller anderen Parteien, der AfD, so gut es eben geht, den Zugang zur Ämterordnung des Parlaments zu verwehren, Artikel 21 Absatz 2 Satz 2 des Grundgesetzes nicht ein Stück weit unterläuft. Der Schluss, dass allen nicht verbotenen Parteien die gleichen Rechte der Teilhabe am parlamentarischen Leben zustehen, ist, vorsichtig formuliert, jedenfalls keineswegs abwegig. Aber offensichtlich ist es nicht jedermanns Sache, die Verfassung auch dann ernst zu nehmen, wenn es contre cœur geht.

Der Verfassungsschutz ist kein Gericht

Dass man ziemlich ungeniert so verfährt, als gäbe es Artikel 21 Absatz 2 Satz 2 nicht, hat viel damit zu tun, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz inzwischen zu einer Art von Vor-Verfassungsgericht avanciert ist. Seine Entscheidung, dass eine Partei ein Verdachtsfall sei, kommt zwar nicht in der rechtlichen, wohl aber in der öffentlichen Wirkung einem Parteiverbot schon ziemlich nahe.

Eine zum Verdachtsfall erklärte Partei steht in den Augen der Öffentlichkeit nicht viel anders da als eine Partei, deren Verfassungsfeindlichkeit förmlich festgestellt wurde. Dazu passt, dass die Entscheidungen des Bundesamts inzwischen, mit Spannung erwartet und feierlich verkündet, wie ein Urteil daherkommen. Je unwahrscheinlicher Parteiverbote durch das Bundesverfassungsgericht werden, desto mehr Gewicht scheint den Urteilssprüchen des Bundesamts für Verfassungsschutz zuzuwachsen. Das ist keine gute Entwicklung.

Die erste deutsche Demokratie trat mit dem Aufschrei „Der Feind steht rechts“ einem Gegner entgegen, der sie in ihrer Existenz bedrohte und am Ende, durch die Wähler in der Weltwirtschaftskrise stark gemacht, tatsächlich zerstörte. Die zweite deutsche Demokratie ist in einer ganz anderen Lage. Das sieht und weiß im Grunde jeder. Doch gibt es eine Rhetorik, die das Offensichtliche verdeckt. Eine gewaltbereite rechtsextremistische Szene mag eine beunruhigende kriminelle Gefahr darstellen, eine ernsthafte politische Gefahr geht vom Rechtsextremismus nicht aus. Das heißt nicht, dass er ein Thema nur für polizeiliche Gefahrenabwehr wäre. Aber Kampagnen „gegen rechts“, die selbst essenzielle Unterscheidungen einebnen, um möglichst viele Andersdenkende aus dem Diskursraum Demokratie hinauszudrängen, verteidigen nicht die Republik, sie halbieren die Demokratie.

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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