Führungskrise beim „Spiegel“ - Diagnose: Verantwortungsdiffusion

Eigentlich hatte der Führungswechsel beim „Spiegel“ – Steffen Klusmann als Chefredakteur „einvernehmlich“ raus, Dirk Kurbjuweit rein – kurz, schmerzlos, ohne Gebrüll und Türenknallen, zur Zufriedenheit aller Beteiligten über die Bühne gehen sollen. War das der Plan, so ist er grandios schiefgegangen. Aber worum ging es eigentlich?

Das wars dann wohl: Der zufünftige ehemalige Spiegel-Chefredakteur Steffen Klusmann / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Die Expedition, bestehend aus den Verlagsgeschäftsführern und der von den Mitarbeitern auf jeweils drei Jahre gewählten Geschäftsführung der Mitarbeiter-Kommanditgesellschaft, muss sich vorkommen wie eine Bergsteiger-Gruppe, die zehn Meter vor dem Gipfel um ein Haar der Blitz trifft, der sie zwar äußerlich unversehrt lässt, für die kommenden Stunden aber blind und taub macht. Fast wäre es gelungen, mit der unseligen Tradition des Hauses zu brechen und einen Wechsel an der Spitze der Redaktion einmal ohne Drama, Chaos und eine raumgreifende Mischung aus Aggression und Depression über die Bühne zu bringen, wütende Unterschriftensammlungen inbegriffen. Es war aber Amtsinhaber Steffen Klusmann selbst, der den schönen Plan eines gesitteten Übergangs in der Redaktionskonferenz am Mittwoch mit einigen kryptischen Andeutungen zunichtemachte.

Er habe eine schöne Zeit beim Spiegel gehabt, wird Klusmann zitiert, der 2019 an die Spitze der Redaktion inmitten schwieriger Verhältnisse trat, und die Vergangenheitsform, die er wählte, elektrisierte die offensichtlich völlig ahnungslosenden Anwesenden von einer Sekunde auf die andere. Nachfragen sei er ausgewichen, als hätte ihm das Unterbewusstsein einen Streich gespielt, woraufhin er sich verplapperte. Verdatterte Redakteure hätten ihm auf der Stelle ihre Solidarität und Unterstützung versichert und ihn ermuntert, nicht vorschnell aufzugeben, doch der 57-Jährige habe erwidert, er werde nur einen Kampf führen, den er auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gewinnen könne.

Branchendienste sprechen von einem „Schockzustand“ in der Sitzung, während andere sein absehbares Aus „erleichtert“ zur Kenntnis genommen hätten. Seither überschlagen sich Gerüchte, Spekulationen und Deutungsversuche, denn zu einer halbwegs vernünftigen Kommunikation in eigener Sache ist dieses Haus auch dieses Mal wieder nicht fähig.

Insider gehen davon aus – und die zur Stunde vorliegenden Indizien sprechen absolut dafür –, dass sich Klusmann mit seinem Abschied vom Chefsessel im Verlauf der vergangenen Wochen bereits abgefunden hatte und es nur noch um ein letztes Detail seines Abfindungsvertrages ging, als der Plan am Mittwoch – möglicherweise aus Versehen, in einem schwachen Moment – kurz vor dem Ziel aufflog. Vielleicht aber war es auch Absicht, weil er eine letzte Chance nutzen wollte, die Stimmung zu testen.

Heillos überfordert und Besserung nicht zu erwarten

Anscheinend hatten Verlagsleitung und Mitarbeiter-KG vor, den Laden vor vollendete Tatsachen zu stellen – Steffen Klusmann „einvernehmlich“ raus, Dirk Kurbjuweit (60), seit 1999 beim Blatt, rein. In seinen bisherigen 24 Jahren dort arbeitete Kurbjuweit in verschiedenen, auch hohen Führungspositionen, aktuell jedoch lediglich als „Autor“ im Hauptstadtbüro, dieses aber im Impressum seltsamerweise an herausgehobener Stelle noch über der Büroleitung. Kurz, schmerzlos, ohne Gebrüll und Türenknallen sollte diesmal der Austausch stattfinden, ohne subversive Durchstechereien an normalerweise verfeindete Konkurrenten, zur äußerlichen Zufriedenheit aller Beteiligten. Bevor sich jemand größer aufregen kann, wäre die Sache gelaufen gewesen. War das der Plan, so ist er grandios schiefgegangen.   

Was tags darauf bleibt, ist immerhin ein gewisser Respekt interessierter Beobachter, „dass diese Sache so lange unter der Decke gehalten werden konnte“. Was natürlich mit einer externen Lösung von vornherein niemals hätte klappen können. Merkwürdig wie so oft stattdessen aber der Frontverlauf. Es stehen die beiden Verlagsgeschäftsführer und die drei Sprecher der Mitarbeiter-KG zusammen mit einer unbekannten Anzahl meist erfahrener Redakteure gegen den Rest der Redaktion sowie die Unentschlossenen. Und das, obwohl die Mitarbeiter-KG ja nichts anderes ist als eine Art Mega-Betriebsrat mit durchgreifenden, wenn auch nicht unbegrenzten Möglichkeiten, die Geschicke von Verlag und Redaktion zu bestimmen, und dies alles in Kombination mit einer Gewinnbeteiligung, die andere Journalisten seit jeher vor Neid erblassen lässt.

Deren Führung jetzt mitten in einer neuen Führungskrise abzumeiern, wäre also nicht besonders schlau, zumal nach den Ereignissen der vergangenen 24 Stunden ein Verbleib von Klusmann ausgeschlossen erscheinen muss. Einen, der schon resigniert hat, per Protestaufruf als Chef zu reanimieren, wobei ein halböffentlicher Brief an die „lieben“ Geschäftsführer der Mitarbeiter-KG, die Gesellschafter und die Geschäftsführer des Verlags als Defibrillator dienen soll, wäre unsinnig. Klusmanns Autorität ist dahin.

Man hat ihm immer wieder und verstärkt seit Jahresbeginn klarzumachen versucht, dass er mit seiner Aufgabe, auch harte Entscheidungen zu treffen, heillos überfordert ist und Besserung nicht mehr zu erwarten. Nach allem, was zu hören ist, hat er das ab Januar nach und nach eingesehen und in Verhandlungen zur Auflösung seines Vertrages eingewilligt.
Folge: Allenfalls könnte die Belegschaft Kurbjuweit als Nachfolger mindestens für gewisse Zeit verhindern, nur würde das den Scherbenhaufen noch vergrößern und genau jene Lähmung erzeugen, die die Verfasser und Unterzeichner meinen, verhindern zu müssen:

Es ist für uns nicht ersichtlich, warum nun womöglich erneut ein Chefredakteur gehen soll, anstatt dass Geschäftsführung und Chefredaktion eine gemeinsame Strategie erarbeiten und für Stabilität und Kontinuität sorgen. Alle Kolleg:innen in der Redaktion arbeiten täglich daran, den SPIEGEL noch erfolgreicher zu machen und haben in den vergangenen Jahren eine enorme Leistung bei der Fusion und der digitalen Neuausrichtung des SPIEGEL vollbracht, die auch zu den Rekordgewinnen der letzten beiden Jahre geführt hat.

Ein Auswechseln der Chefredaktion würde keines unserer aktuellen Probleme lösen, wie die sich eintrübenden Geschäftsaussichten. Im Gegenteil, dies hätte eine erneute, mehrmonatige Lähmung des ganzen Hauses zur Folge. Wir fordern daher die KG sowie die Geschäftsführung auf, diesen destruktiven Kurs zu verlassen und zu einem konstruktiven Miteinander der gesamten Führung im Haus beizutragen. 

Etat heillos überzogen

Echte Feinde im klassischen Sinn scheint sich der Amtsinhaber in seinen vier Jahren gar nicht gemacht zu haben. Es sei nur nach der Bewältigung der Relotius-Affäre und der Fusion von Print und Online, die er nach allgemeiner Wahrnehmung erstaunlich harmonisch über die Bühne brachte, nichts mehr vorangegangen. Die nächsten Schritte hätten gefehlt.
Doppelbesetzungen der Ressortleitungen, anfangs im Interesse des Betriebsfriedens unvermeidbar, zumal sich die Onliner seit je her benachteiligt und zu wenig wertgeschätzt fühlten, hätten mittlerweile nach und nach abgebaut werden müssen, heißt es, anstatt es zu jener „Verantwortungsdiffusion“ kommen zu lassen, die den Redaktionsalltag lähme und selbst einfache Entscheidungen zu unendlichen Geschichten verunstalte.

Grotesk aufgeblasenes Impressum / Foto: JPP

Das Impressum sei durch immer neue Stabsstellen und Sonderpöstchen inzwischen grotesk aufgeblasen. Klusmann habe Arbeitsverträge abgeschlossen ohne Rücksicht auf den vereinbarten Etat und diesen dadurch heillos überzogen.

Nachdem das erste Quartal 2023 „eine Katastrophe“ gewesen sei von den Werbeumsätzen her, also dringend die Kostenstruktur verschlankt gehöre, hätten Mitarbeiter-KG und Verlagsgeschäftsführer keine andere Wahl mehr gehabt, als diese Entwicklung mit einer abrupt erscheinenden, aber sich lange anbahnenden Personalentscheidung zu stoppen. Steffen Klusmann sei für die Herausforderungen von 2019 sicherlich der richtige Mann gewesen, nur seit diese abgearbeitet seien, hätten ihm Spirit und Führungskraft gefehlt. Politisch gedacht habe er als Wirtschaftsfachmann ohnehin nie, was ihn nach und nach den Respekt auch der entsprechenden Ressorts kostete.

Wenn dann noch ein seit – so heißt es – vielen Jahren schwelendes Führungsproblem in der Wissenschaftsredaktion ungelöst bleibe mit Therapien, Mediation, Nervenzusammenbrüchen, Versetzungsgesuchen und Kündigungen, eindeutig zu verantworten von einer „dysfunktionalen Ressortleitung“ – namentlich genannt werden Michail Hengstenberg und Kurt Stukenberg – bei Duldung durch den Chefredakteur ausgerechnet des MeToo-Chefanklägers Spiegel, der Verlag und Kommanditgesellschaft auch bei diesem Thema immer wieder vertröstet habe – dann, so ist in Hamburg zu hören, sei weiteres Hoffen auf Besserung irgendwann nicht mehr vertretbar.

Toxische Führungskultur befördert

Ein Branchendienst will wissen, Klusmann habe die „toxische Führungskultur“ im Wissenschaftsressort sogar „aktiv befördert“, um „ältere, teurere und widerspruchslustige Print-Redakteure loszuwerden“. Eine Bestätigung für diese vergleichsweise giftige Darstellung seiner Führungsqualitäten, die andere nicht so stehen lassen möchten, weil Klusmann eben kein mieser Typ sei, gibt es zur Stunde nicht. Pressesprecherin Anja zum Hingst will sich auch diesbezüglich zu „internen Vorgängen nicht äußern“.

Fazit: Was ein cleverer Coup werden sollte, der alte Unsitten und Eklats vermeidet, droht nach jetzigem Stand in Hamburg wieder einmal schiefzugehen – anders als früher, aber ebenso gründlich. Dem Spiegel täte ein selbstbewusstes Schlachtross gut, wie es zuletzt Stefan Aust eines war, allerdings in modernisierter und achtsamer, also zeitgemäßer Version 2.0. Doch sogar Aust wurde damals ohne Not rausgeekelt, weil er zu viel von dem bot, was jetzt im „deutschen Nachrichtenmagazin“ so schmerzlich vermisst wird: Ansage, Orientierung, Führung.

Ob Dirk Kurbjuweit in diese Rolle hineinwachsen kann, ob er überhaupt die Chance erhält, wird sich schon bald zeigen. Wichtig ist zunächst, dass er es selbst will. Das immerhin scheint (aktuell jedenfalls noch) der Fall zu sein – mit Feuerprobe in einem Moment, in dem er noch gar nicht auf dem Feuerstuhl sitzt.

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