Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz 2021 - Anne Spiegels wahre Sorgen

Bevor sie Bundesfamilienministerin wurde, war Anne Spiegel Umweltministerin in Rheinland-Pfalz. Während ihrer Amtszeit ereignete sich die Flutkatastrophe im Ahrtal. Der SMS-Verkehr zwischen Spiegel und ihren Mitarbeitern vom Juli 2021 liegt dem Untersuchungsausschuss des Landtags zur Flutkatastrophe vor. Er zeigt, dass die Landesregierung nur zögerlich auf die Flut reagiert hat und Ministerin Spiegel vor allem um ihr Image besorgt war.

Wird vor dem Mainzer Untersuchungsausschuss einiges erklären müssen: die heutige Bundesfamilienministerin Anne Spiegel / dpa
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Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Es ist ein gruseliges Bild, das die jüngsten Veröffentlichungen des SMS-Verkehrs zwischen der Grünen Anne Spiegel und ihrem Stab zeichnen. Das Bild einer Landesministerin für Klimaschutz und Umwelt, die am Abend des 14. Juli 2021, als das große Sterben im Ahrtal gerade erst begann, nur eines im Sinn hatte: Wie stelle ich mich und meine Rolle in der sich abzeichnenden Katastrophe am besten dar? Wie verhindere ich, dass mir SPD-Innenminister Roger Lewentz die Show als kompetenter Krisenmanager stiehlt? Wie komme ich Regierungschefin Malu Dreyer zuvor, wenn es darum geht, wer sich in den Augen der Öffentlichkeit am rührendsten um die Opfer der Flutkatastrophe kümmert? Und vor allem: Wie blocken wir schon im Ansatz vorsorglich ein „Blame Game“ anderer Ressorts ab und finden ein „Wording, dass wir rechtzeitig gewarnt haben, ich im Kabinett“ und „ohne unsere Präventions- und Vorsorgemaßnahmen alles noch viel schlimmer geworden wäre etc.“?    

Alle diese Zitate stammen aus den Akten des Untersuchungsausschusses des Mainzer Landtags, der das Desaster vom Sommer 2021 seit Monaten akribisch aufarbeitet. Jemand hat den SMS-Verkehr dieser dramatischen Stunden zwischen der Ministerin, ihrem Staatssekretär, ihrem Pressesprecher und weiteren leitenden Akteuren der Landesregierung von Rheinland-Pfalz an mindestens zwei Redaktionen durchgestochen. Die Echtheit wird von niemandem bestritten. Hauptmotiv demnach: eventuelle Schuldzuweisungen umlenken, Kompetenz und Tatkraft behaupten, Verantwortung für Fehleinschätzungen und Unterlassungen bestreiten, optimale Voraussetzungen schaffen für den sofort einsetzenden Kampf um Deutungshoheit und Image.

Dies alles geschah in einer Situation an jenem Sommertag, als Anne Spiegels Ministerium noch um 17 Uhr, die ersten Menschen waren bereits ertrunken, per Pressemitteilung Entwarnung gab. Eine Stunde später erfuhr ihr Stab von ersten verzweifelten Rettungsaktionen per Hubschrauber am Campingplatz Stahlhütte und wollte von Staatssekretär Erwin Manz wissen: „Müssen wir jetzt was machen?“ Seine Antwort: „Heute nicht.“ Anfragen seien ohnehin an das Landesumweltamt zu richten. Doch das war zu diesem Zeitpunkt bereits blind, weil die Messstationen reihenweise ausgefallen waren, und arbeitete mit völlig unbrauchbaren Pegelständen. Die ersten Häuser an der Ahr brachen bereits weg.

„Es darf nicht nach politischer Instrumentalisierung aussehen“

Die Orte und ihre Feuerwehren im weiteren Verlauf des Flusses blieben ahnungslos, was in den nächsten Stunden auf sie zukommen sollte. Spiegels Pressesprecher Dietmar Brück arbeitete da schon an einem Plan für seine Chefin mit allerlei Ortsterminen in maximaler Pressebegleitung, um sie ab dem kommenden Tag möglichst perfekt dastehen zu lassen: „Anne bei Reparaturarbeiten, bei Hochwasserschutzprojekten, dort wo neue Gefahren drohen, Besuch mit Journalisten bei Hochwassermeldezentren.“

Brück hatte speziell Ministerpräsidentin Malu Dreyer und den Innenminister im Auge, die „mit einem Fünf-Punkte-Plan davonpreschen“ könnten, wie man auf solche Katastrophen künftig reagieren werde: „Da müssen wir dazu; und selber überlegen.“ Und: „Annes Rolle muss meines Erachtens immer mit einer konkreten Rolle oder Zuständigkeit verbunden sein, es darf nicht nach politischer Instrumentalisierung aussehen.“ Anne war umgehend einverstanden; um 08:07 Uhr kam, ebenfalls per SMS, ihr Okay.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt wusste die für den Hochwasserschutz verantwortliche Ministerin immerhin, dass in den Stunden zuvor eine Menge schiefgelaufen war und es Erklärungsbedarf geben werde. Ihre Reaktion, wiederum mit Fokus auf den SPD-Innenminister: „Ich traue es Roger zu, dass er sagt, die Katastrophe hätte verhindert werden können oder wäre nicht so schlimm, wenn wir als Umweltministerium früher gewarnt hätten und dass es an uns liegt, weil wir die Situation unterschätzt hätten.“ Deshalb, so Spiegel, gehe es jetzt darum, einen „Mini-Krisenstab zusammenzutrommeln und uns die Themen vorzunehmen, um handlungsfähig zu sein“.

Die Bewohner des Ahrtals hätten mühelos 24 Stunden vorher gewarnt werden können

Es ist ein inzwischen riesiges Haus mit neun Abteilungen, Vorbild für die ganze Welt beim Ziel „Klimaneutralität“ mit auch dafür eigener Stabsstelle, das Anne Spiegel vor ihrem Wechsel als Bundesfamilienministerin nach Berlin in Mainz leitete. Laut Organigramm gibt es ein eigenes Referat 37 „Hochwasserrisikomanagement“ sowie ein eigenes „Kompetenzzentrum Hochwasservorsorge“. An ihrer Zuständigkeit und Verantwortung, genau das abzuwenden, was dann in der Nacht zum 15. Juli 2021 in Rheinland-Pfalz geschah, gibt es keinen vernünftigen Zweifel. Bis zuletzt hatte sie aber laut Organigramm vom 2. November 2021 keinen Anlass gesehen, die seit langem verwaiste Leitung der hier speziell zuständigen Abteilung 3 (Wasserwirtschaft) endlich neu zu besetzen, nachdem ihre Vorgängerin wegen gerichtlich attestierter Spezl-Wirtschaft samt Staatssekretär Ende 2020 aus dem Amt hatte getragen werden müssen.

Die überraschende Berufung der 41-Jährigen zur Bundesfamilienministerin erschien Beobachtern bereits bei der Regierungsbildung durch Olaf Scholz Anfang Dezember als hochriskant. Sie konnten sie sich nur erklären mit einer ganz besonderen Quotenlogik der Grünen (männlich/weiblich, Fundi/Realo, biodeutsch/zugewandert). Spiegel gilt als radikal linke, kompromisslose Befürworterin ungebremster Einwanderung und füllte so eine leere Sollstelle.

Dass sie von schweren Fehlern aus ihrer bisherigen Karriere in Rheinland-Pfalz eingeholt werden würde, und zwar so heftig, dass es die ganze Ampel-Koalition erschüttern könnte, galt Beobachtern bereits damals als absehbar und wurde mit jeder neuen Sitzung des Mainzer Untersuchungsausschusses wahrscheinlicher. Etwa, als der Meteorologe Jörg Kachelmann dort als sachverständiger Zeuge klarstellte, ein „extremes Wettereignis“ habe sich bereits seit dem Montag jener Juliwoche abgezeichnet. Kachelmann: „Die Informationen waren alle da.“ Die Bewohner des Ahrtals hätten mühelos 24 Stunden vorher hinreichend präzise und eindringlich gewarnt werden können und müssen.

Für Spiegel steht die politische Agenda über allem

Wenn der Südwestrundfunk (SWR) heute nun meldet, die SMS-Protokolle von der Flutnacht und dem Morgen danach „werfen ein neues Licht auf Spiegels Rolle“, dann ist das eine nicht wirklich plausible Wahrnehmung. Dies gilt umso mehr, als Frau Spiegel bereits in ihrer früheren Funktion als Integrationsministerin wiederholt durch ein eigenwilliges Rechtsverständnis aufgefallen war und sich bei der Durchsetzung ihrer weltweit vorbildlichen Asyl- und Einwanderungspolitik nur ungern durch Zwischenrufe von Verwaltungs- und Verfassungsgerichten bremsen lassen mochte. Wenn die Grüne eine Rechtslage anders sah, also meistens, stufte sie auch höchstrichterliche Urteile gerne herunter auf den Status eines vielleicht interessanten, aber nicht weiter beachtenswerten Diskussionsbeitrags.

Das ging so lange, bis vor vier Jahren Lars Brocker, Präsident des Verfassungsgerichtshofes von Rheinland-Pfalz, der Kragen platzte und er Anne Spiegel öffentlich vorwarf, Gerichtsurteile vorsätzlich zu missachten. Das wiederum veranlasste den Journalisten Jörg Rehmann zu der Einschätzung, die Grüne verkenne Recht und Justiz als „eine Diskussionsveranstaltung, die es so nicht ist“. Für sie stehe die politische Agenda über allem. „Zudem kommt sie aus einem parteipolitischen Umfeld, das sich via Klima-Hype stark radikalisiert hat. Ein solches Umfeld kann auch lautere Charaktere irgendwann verbiegen.“ Die Regionalzeitung Trierischer Volksfreund bezeichnete Spiegel schon damals als „Problembärin“.

Klar muss bei alledem aber auch folgendes sein: Wer auch immer die Chat-Protokolle jetzt an die Presse durchgestochen hat, verfolgte damit ganz sicher keine freundlichen Motive gegenüber Frau Spiegel und ihrer Partei. Joachim Knapp, Sprecher ihres ehemaligen Ministeriums in Mainz, sagte auf Anfrage von Cicero, das Vorgehen sei selektiv gewesen; die Auswahl der Zitate erwecke absichtlich den Eindruck, als seien Ministerin Spiegel und ihr ganzes Ressort alleine um ihr Image besorgt gewesen und hätten sich um die Bewältigung der Krise nicht gekümmert. Diese Wahrnehmung sei aber unzutreffend, wie sich, so Knapp, noch zeigen werde. Vor Spiegels Aussage vor dem Mainzer Untersuchungsausschuss, die am Freitag stattfinden soll, könne er aber Details nicht nennen. Der ganze Vorgang sei jedenfalls „ungehörig“, sagte Knapp. Auch er bestritt die Authentizität der SMS-Texte aber nicht.

Von der Staatsanwaltschaft nichts zu befürchten

Unbeantwortet blieb bis zur Stunde in Mainz die Frage, warum der oben erwähnte Pressesprecher Brück zwar im Internetauftritt der Staatskanzlei noch als stellvertretender Regierungssprecher genannt wird mit Foto und Durchwahl, er diese Position aber – so vorliegende Informationen – am 28. Februar verloren hat und zurück in seine ursprüngliche Wirkungsstätte geschickt wurde, das Ministerium für Klimaschutz, Umwelt und Mobilität. Dort kam er, so Knapp, bis heute jedoch nicht an, denn er sei krank.        

Von der in Sachen Flutkatastrophe seit dem Sommer ermittelnden Staatsanwaltschaft Koblenz hat Anne Spiegel unverändert – jedenfalls offiziell – nichts zu befürchten. Auf Anfrage von Cicero teilte die Behörde heute mittag mit, das „wegen des Anfangsverdachts verspäteter Warnungen eingeleitete Ermittlungsverfahren“ richte sich nach wie vor ausschließlich gegen den früheren Landrat und ein Mitglied des Krisenstabs des Landkreises Ahrweiler – und zwar „wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung ggf. im Amt durch Unterlassen“.

Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt seien „weiterhin mit Nachdruck dabei, den genauen Hergang der Flutkatastrophe zu rekonstruieren und ein komplexes Bild zum Ablauf zusammenzusetzen, um auf dieser Grundlage möglichst tragfähig feststellen zu können, wer wann was im Einzelnen von welchen Gefahren erfahren hatte und wie, wann, von wem und mit welchen Konsequenzen hierauf ggf. Maßnahmen ergriffen oder in strafrechtlich verantwortlicher Weise unterlassen wurden“.

Mit Blick auf die ehemalige Klimaministerin Spiegel schreiben die Koblenzer Staatsanwälte: „Die andauernde Auswertung der angefallenen Erkenntnisse hat bislang allerdings keine Grundlage für die Annahme eines Anfangsverdachts gegen die von Ihnen benannte Ministerin erbracht.“

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