Flucht aus Afghanistan - Der ewige Krieg

Deutschland erklärt sich bereit, im Zuge eines EU-Programms 25.000 Afghanen aufzunehmen. Wer sind die Menschen, die nun zu uns kommen? Wie weit soll der Kreis derer gezogen werden, denen die Bundesregierung Zuflucht gewährt? Die Erinnerung an 2015 ist frisch.

Schatten von Ahmad, der von der Bundeswehr in letzter Minute aus Kabul ausgeflogen wurde / Jens Gyarmaty
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Der Krieg kam, ohne anzuklopfen. Ein ungebetener Gast, der mit ihnen zusammen in die neue Wohnung einzog und jetzt keine Anstalten mehr macht, wieder zu gehen. Manchmal muss Leila die Tür zum Wohnzimmer schließen, damit die Kinder nicht sehen, was er mit ihr macht. Sie sollen nicht sehen, dass sie weint.

Der Krieg ist ein Film, er spult die immer gleichen Bilder in ihrem Kopf ab. Sie haben sich in ihr Gedächtnis eingebrannt, als sie noch ein Kind war. Männer mit Turbanen, die Menschen auf der Straße erschießen. Tote Körper, die an Bäumen baumeln. Ihr Vater, der sich nach einem Raketenangriff schwer verletzt nach Hause schleppt. Leila sagt, sie halte den Gedanken nicht aus, dass ihre Familie jetzt ein zweites Mal Opfer eines Krieges werde. „Ich habe das Gefühl, die Geschichte wiederholt sich.“ 

Wenige Ortskräfte, dafür Kriminelle evakuiert

Leila hat als Übersetzerin für die Bundeswehr in Masar-i-Scharif gearbeitet, bevor sie 2015 mit einem Visum nach Deutschland kam. Ortskräfte, so nennt die Bundesregierung Menschen wie Leila, die dem Westen geholfen haben, erst bei ihrem Krieg gegen die Taliban und dann beim Aufbau der neuen Ordnung. Wie viele von ihnen heute noch in Afghanistan sind, weiß keiner. Die Bundesregierung hat erst von 2.500 und dann von 10.000 gesprochen, inzwischen ist von 40.000 die Rede, inoffiziell sogar von 70.000. Hunderte von ihnen wurden in den vergangenen Jahren evakuiert. Die Ortskräfte hatten sich dieses Recht erkämpft. Wer mit dem Feind zusammenarbeitete, musste schließlich damit rechnen, dass sich die Taliban an ihm rächten. Er begab sich in Lebensgefahr. Ortskraft, der Name steht für einen befristeten Aufenthaltstitel in einer humanitären Notlage. Er gilt auch für die „Kernfamilie“ – Ehepartner und minderjährige Kinder. 

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Um diese Ortskräfte ist eine politische Kontroverse entbrannt. Denn obwohl Geheimdienste vor einer schnellen Machtübernahme der Taliban gewarnt hatten, lief die Evakuierung der Ortskräfte schleppend. Unter den 5.000 Passagieren, die die Bundeswehr in letzter Minute ausflog, waren dann aber nur 139 Ortskräfte – plus deren Familien. Seit bekannt wurde, dass unter den Ausgeflogenen auch verurteilte Straftäter und mutmaßliche Terroristen waren, liegen die Nerven in Berlin blank. 

In Gedanken in Afghanistan

Die Erinnerung an 2015 ist frisch. Wer sind die Menschen, die nun nach Deutschland kommen? Wie weit soll der Kreis derer gezogen werden, denen die Bundesregierung Zuflucht gewährt? 

Eine Kleinstadt im Westen der Republik, ein Mehrfamilienhaus in einer ruhigen Wohngegend, Geranien in Balkonkästen, aus Salzteig gebackene Namensschilder an den Türen. Hier wohnt Leila mit ihrem Mann Amer und den Kindern Fasila und Casim – in Wirklichkeit heißen sie anders. Auch die Stadt, in der Leila lebt, darf nicht genannt werden. 

Leila und Amer haben für die Bundeswehr im Lager Marmal in Masar-i-Scharif gearbeitet. Er hat Magazine für den Informationskrieg gegen die Taliban gestaltet, sie hat Meldungen von der Front übersetzt, von Dari ins Englische. Leila ist eine zierliche Frau, ein weißes Kopftuch rahmt ein ernstes, sorgfältig geschminktes Gesicht. Sie hat seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen. Die Angst um ihre Eltern und ihre Schwestern hat ihr den Appetit und die Lebensfreude geraubt. Sie sagt: „Manchmal denke ich, die Taliban stehen schon vor der Tür.“ 

Eine gute Gelegenheit

2015 ist sie vor ihnen geflohen. Der Job bei der Bundeswehr habe ihr Spaß gemacht. Nur bei den Außeneinsätzen sei ihr mulmig zumute gewesen. An manchen Tagen musste sie die Presseoffiziere zu Terminen begleiten. Ein riskanter Einsatz. Dort stießen sie auch auf bärtige Männer mit Turbanen. In der Welt der Mullahs haben Frauen in der Öffentlichkeit nichts zu suchen, schon gar nicht als Kollaborateurinnen mit den Besatzern.

Leila war 21, als sie ihren Job bei der Bundeswehr begann. Für eine Frau war er ein Hauptgewinn, das Fenster zu einer Welt, in der Frauen dieselben Rechte hatten wie Männer. Selbstverständlich war das nicht. Sie war sieben, als die Taliban die Herrschaft übernahmen. 


Leila sagt, es sei die Hölle gewesen. Von heute auf morgen durfte sie nicht mehr in die Schule gehen. Schreiben und Lesen hat ihr der Vater beigebracht, ein Leutnant bei der afghanischen Armee. Lern Englisch, riet er ihr.

Rückkehr immer unwahrscheinlicher

Die Sprache hat ihr Türen geöffnet. 500 Dollar im Monat verdiente Leila im ersten Jahr. Es war genug, um die ganze Familie zu ernähren, zwei Brüder und fünf Schwestern. Der Vater fuhr am Wochenende Taxi, seit er beim Angriff der Taliban schwer verletzt wurde. Was er bei der Armee verdiente, reichte nicht.


Die Tür geht auf. Fasila, drei Jahre alt, stürmt ins Zimmer und fällt der Mutter um den Hals. Amer hat die Tochter nach der Arbeit aus dem Kindergarten abgeholt. Ein freundlicher Schlaks, der perfekt Deutsch spricht. Er hat in Deutschland noch einmal von vorn angefangen und eine Ausbildung zum Mediengestalter gemacht. Er sagt, er hätte nie damit gerechnet, dass sie mal in Deutschland landen würden. Sein Herz hängt noch immer an Afghanistan. 

Doch langsam gewöhnt er sich an den Gedanken, dass es mit der Rückkehr nicht mehr klappen könnte. Sie haben ihren Aufenthaltstitel jedes Jahr neu verlängert. In diesem Jahr könnte er zum ersten Mal entfristet werden. Amer versucht, es positiv zu sehen. „Nette Kollegen, toller Job, eine schöne Stadt.“ 


Sie sind erst vor einigen Wochen in die neue Wohnung eingezogen. Die Wände sind noch nackt, sie haben noch keine Zeit gehabt, alle Möbel auszupacken. Im Wohnzimmer stehen zwei Stühle auf einem handgeknüpften Teppich. Den haben sie von zu Hause mitgebracht. 

„Für sie ist das Leben vorbei.“

Der Krieg ist 5.200 Kilometer Luftlinie und 13 Flugstunden entfernt, doch er bestimmt ihren Alltag auch hier. Sie haben Kommentare und Kontakte auf ihren Facebook-Accounts gelöscht, damit die Taliban keine Rückschlüsse auf Verwandte ziehen können. Sicher ist sicher. Sie hängen stundenlang an ihren Smartphones. Die Sorge um ihre Familien zehrt an den Nerven. Leila sagt, ihre Eltern und Schwestern versteckten sich bei Freunden. Zwar haben die Taliban Amnestie für Ortskräfte und ihre Angehörigen versprochen, doch wer glaubt das? 

Sie hat ja die Bilder gesehen, auf denen Taliban Frauen und Kinder auf der Straße auspeitschen und Männer erschießen. Sie sagt, ihre Schwestern arbeiteten als Lehrerinnen, aber sie trauten sich nicht mehr vor die Tür. Ihre Stimme wird brüchig: „Für sie ist das Leben vorbei.“

Peinliche Ministerien-Geplänkel

Sie hat Anfragen an das Auswärtige Amt (AA) und das Verteidigungsministerium gestellt, ob ihre Angehörigen auf einer Mitte August erstellten Liste mit 10.000 Menschen stehen, die vorrangig evakuiert werden sollen – hinter vorgehaltener Hand erfährt man, wie schwer sich die AA-Mitarbeiter damit taten auszusieben, wer kommen durfte und wer nicht. Auf Druck des Innenministers hätten sie die Liste schließen müssen. Horst Seehofer habe versucht, das Thema Flucht und Migration aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Bestätigen will das niemand. Das Innenministerium antwortet auch auf die vierte Anfrage nicht.  

Das Auswärtige Amt schreibt, für Menschen wie Leila sei die Bundeswehr zuständig, also müsse man sich ans Verteidigungsministerium wenden. Das wiederum antwortet, zuständig sei das AA. Es ist ein Trauerspiel.

In der ganzen Welt verteilt

Andere Länder haben ihre Ortskräfte rechtzeitig evakuiert. Die USA haben sie nach Ramstein gebracht: Die US-Airbase wurde zum Drehkreuz für Tausende Afghanen, die nach Amerika ausreisen. Auch ein Bruder von Amer wartet dort. Seine Eltern und eine Schwester leben jetzt in Norwegen. Sein Vater hat als Bauingenieur für eine norwegische Hilfsorganisation gearbeitet. Amer sagt, er habe Tag und Nacht mit Behörden und Botschaften telefoniert, damit die Eltern das Land mit einem der letzten Flüge verlassen konnten. 

Die Familie hat es in alle Richtungen verstreut. Eine Schwester, die als Journalistin in Afghanistan gearbeitet hat, ist in Wien, eine andere in Indien. So geht es vielen Familien, die unter dem Schutz des Westens Karriere bei der Bundeswehr oder bei Hilfsorganisationen gemacht haben. Es sind Jungakademiker zwischen Mitte zwanzig und Mitte vierzig, eine urbane Klientel, die mit ihren Abschlüssen auch im Ausland gefragt ist. 

Flucht der Eliten

Prominenteste Vertreterin ist Zarifa Ghafari. Mit 26 wurde sie jüngste Bürgermeisterin des Landes und so etwas wie Klassensprecherin ihrer Generation. Dreimal versuchten die Taliban, sie zu töten, ihren Vater brachten sie um. Auch Ghafari ist es gelungen, sich in eine der Maschinen der Bundeswehr zu retten.
Sie hat Glück gehabt. Doch es geht ihr wie den meisten anderen: Aufatmen kann sie nicht. „Wir waren nie Teil des Krieges, warum müssen wir den Preis dafür bezahlen?“, fragt sie.

Sie sorgt sich nicht nur um ihre Angehörigen, sondern auch um ihr Land. Welche Zukunft hat Afghanistan, wenn die Hoffnungsträger in Scharen fliehen – und nur die bleiben, die sich mit den Taliban arrangiert haben? Das sind weit mehr, als es die Bilder vom Flughafen Kabul suggerieren. Experten schätzen den Anteil der ländlichen Bevölkerung auf 80 Prozent. Viele von ihnen können weder schreiben noch lesen. 

Traumatisierung erschwert Integration

Man erreicht Ghafari im nordrhein-westfälischen Hilden, wo sie mit ihrer Familie Zuflucht bei einer Tante gefunden hat. Sie klingt erschöpft. Sie sagt: „Man lässt sein Leben und die Träume zurück und kommt an mit ein bisschen Sand in der Hand.“ Aufgeben sei aber keine Option. Sie werde den Dialog mit den Taliban suchen und ihre Stimme für die erheben, die in Afghanistan jetzt keine Stimme mehr haben: die Frauen.

Der Krieg bleibt ihr Begleiter. Selbst wenn sie fliehen konnten, werden sie ihn nicht mehr los. Leila ist traumatisiert. Auf dem Weg zur Integration ist das eines der größten Hindernisse, sagt Thomas Elbert. Der emeritierte Psychologieprofessor ist einer der renommiertesten Experten auf dem Gebiet der Trauma­forschung. 2018 hat er als Mitglied der Leopoldina ein Gutachten für die Bundesregierung erstellt. Danach ist jeder zweite Flüchtling traumatisiert. 50 Prozent von ihnen brauchen therapeutische Hilfe.    

Er sagt, ein Geruch oder ein Geräusch reichten manchmal aus, um die Menschen an den Krieg zu erinnern. Sie erlebten den Schrecken dann ein zweites Mal – sogar dann, wenn sie in Sicherheit seien. Sie seien erschöpft und übererregt zugleich. Sie könnten sich nicht mehr konzentrieren. Die Folgen könnten bis zur Berufsunfähigkeit führen. 

Erinnerungen begraben

Leila ist jetzt Hausfrau und Mutter. Ihre Kinder sprechen besser Deutsch als sie. Es ist ihr peinlich. Sie sagt, zu Hause falle ihr langsam die Decke auf den Kopf. Natürlich würde sie gerne arbeiten. Aber sie komme in ihrem Sprachkurs nicht weiter: „Mein Kopf ist einfach zu voll.“

Amer wirft ihr einen besorgten Blick zu. Sie weiß selbst, dass sie Hilfe braucht. Doch einen Termin beim Psychologen sagte sie wieder ab. Thomas Elbert wundert das nicht. Er sagt, Traumatisierte versuchten, die Erinnerungen zu begraben. Es koste viel Kraft, den ersten Schritt zu gehen und eine Therapie zu beginnen. „Einige Leute schaffen das nie.“ 

Beste Freundin wurde erstochen

Dabei hat Leila Glück gehabt. Sie sagt, das Aufnahmeprogramm hätte sie gerettet: „Wäre ich in Afghanistan geblieben, wäre ich längst tot.“ Vielleicht wäre es ihr ergangen wie ihrer besten Freundin Pawlisha. Sie sucht auf dem Handy nach einem Foto von ihr. Es zeigt eine junge Frau mit Kopftuch und Brille. Sie sitzen mit Kolleginnen zusammen an einem Tisch. Leila sagt: „Pawli­sha war gerade vom Studium in Thailand zur Bundeswehr zurückgekehrt. Deshalb haben wir eine Party gefeiert.“ 

Eine Woche später war die Freundin tot, erstochen von einem Taliban, der unter dem Vorwand an ihrer Tür geklingelt hatte, er wolle ihr eine Einladung zu einer Hochzeit bringen. Fragt man Leila, warum es Pawlisha getroffen hat und nicht sie, muss sie überlegen. Dann sagt sie: „Ich glaube, weil Pawlisha die einzige Frau in Masar-i-Scharif war, die Auto gefahren ist.“ Auf die Taliban muss das wie eine Kriegserklärung gewirkt haben. Weiblich, ledig, Kollaborateurin – und dann noch mit Führerschein.

Gefahrenfaktor Bekanntheit

Der Mord an Pawlisha schaffte es bis in deutsche Medien. Leilas Antrag auf Ausreise wurde auf Anhieb bewilligt. Kurz nach dem Mord war bei ihr eingebrochen worden. Der Täter verlor auf der Flucht ein Kopftuch, wie es Taliban tragen. Amer kaufte sich sofort eine Waffe. Er sagt: „Die wussten jetzt, wo wir wohnen. Es war klar: Die kommen wieder.“ 

Als sie 2015 nach Deutschland kamen, hatte die Bundeswehr für sie eine Wohnung gemietet. Davon kann Amir* nur träumen. Man erreicht ihn per Telefon in Kabul. Wie tausend andere Ortskräfte hängt er mit seiner Familie in einem Versteck fest. Er sagt: „Ich habe in den vergangenen Wochen 13 Kilo abgenommen.“ Als TV-Journalist ist er besonders gefährdet, denn in Afghanistan kennen viele sein Gesicht. Sechs Jahre lang hat er es als Angestellter des Medienzentrums Bayan e Shamal in Masar-i-Scharif für die Bundeswehr in die Kamera gehalten. Amir hatte sich einen Namen als Ankläger der Taliban gemacht. 

In letzter Sekunde abgelehnt

Doch Anspruch auf eine Ausreise nach Deutschland hatte er nicht. 2016 hatte ihm die Armee gekündigt und ihre Medienarbeit an eine afghanische Tochtergesellschaft outgesourced. Damit erlosch sein Recht auf einen Aufenthaltstitel. Ein Skandal, findet er. Erst nachdem deutsche Medien über den Fall berichteten, gab ihm die Bundeswehr das „Go!“ 

Trotzdem ist er immer noch da. Dabei hatte er es schon auf das Rollfeld des Flughafens geschafft. Ein deutscher Soldat wies ihn in letzter Minute zurück. Er behauptete, seine Einreisebestätigung sei gefälscht. Amir sagt, er stehe noch immer unter Schock. Er erlebte, wie andere Männer die Taliban am Eingang des Flughafens bestachen oder niederschlugen, um auf das Gelände zu gelangen. Er sagt: „Die Bundesregierung hat mich als Waffe im Kampf gegen die Taliban benutzt. Jetzt befreit sie Kriminelle, aber mich lässt sie nicht aus dem Land.“ 

Der Beitrag der Ortskräfte

Das Einreiseprogramm sei total an der Zielgruppe vorbeigegangen, sagt ein Mitarbeiter im Bundesinnenministerium, der nicht genannt werden will. Ursprünglich hatte die Bundesregierung das Aufnahmeprogramm für Ortskräfte nur für Mitarbeiter der Bundeswehr aufgelegt. Inzwischen hat sie es auf Mitarbeiter von Hilfsorganisationen ausgeweitet. Viele von ihnen waren nicht nur Fahrer, Reinigungskräfte oder Köche. Sie waren Lehrer, Projektmanager, Entscheider.  

Was ist das Verdienst dieser Leute? Wie wichtig war ihr Beitrag beim Versuch, eine neue Ordnung aufzubauen? Ohne sie wäre es nicht gegangen, sagt Roderich Kiesewetter. Der CDU-Bundestagsabgeordnete war als Soldat mehrere Male zu Kontrollbesuchen in Afghanistan. Er sagt, Ortskräfte seien schon deshalb unverzichtbar gewesen, weil der Bundestag die Zahl der deutschen Soldaten begrenzt habe. Der tatsächliche Personalbedarf sei höher gewesen. Umso gründlicher habe man die Ortskräfte ausgesucht.  

Ortskräfte kannten sich in der Region aus. Sie wussten, welche Straßen man meiden sollte oder welche Warlords miteinander verfeindet waren. Ihr Wissen habe es der Bundeswehr erleichtert, die Risiken für Einsätze abzuschätzen. „Sie waren so etwas wie ein Frühwarnsystem.“ 

Kritik an Ortskräften

Nicolas Scheidtweiler bewertet die Arbeit der Ortskräfte kritischer. Er war 2006 und 2007 in Afghanistan, koordinierte den Einsatz afghanischer Nachrichtenredakteure. Heute erreicht man ihn in Tirol, wo er als PR-Berater arbeitet. Er sagt, die Afghanen hätten den Job in erster Linie gemacht, weil er überdurchschnittlich gut bezahlt worden sei. Deshalb könnten sie auch nicht beanspruchen, nach Deutschland auszureisen – jedenfalls nicht samt ihrer Großfamilie.    

Kiesewetter macht die Aussage wütend. Er sagt: „Diese Menschen haben Leib und Leben für uns riskiert.“ Scheidtweiler spreche nicht für die Mehrheit der Soldaten. „Der Geist bei der Bundeswehr ist von Kameradschaft geprägt, nicht von elitärem Standesdünkel.“  

Scheidtweiler ficht das nicht an. Der Traum, in Afghanistan eine Demokratie zu errichten, sei eine Totgeburt gewesen. Schuld daran sei der Islam. Homosexuelle Kameraden hätten sich nicht zu erkennen geben dürfen, Männer und Frauen seien nicht zu Betriebspartys gekommen. Leila hat es anders erlebt. Ihre Geschichte passt nicht in das Bild, das er zeichnet. Trotzdem bleibt er dabei. Nur eine Minderheit seiner afghanischen Kollegen sei offen für westliche Werte gewesen. Er fragt: „Wie soll solchen Menschen die Integration in Deutschland gelingen?“

Lehren aus der Flüchtlingswelle

Doberlug-Kirchhain, eine Kleinstadt in Brandenburg. In der Erstaufnahmestelle auf einem ehemaligen Kasernengelände sind 266 Afghanen angekommen, die einen Bundeswehr-Flug erwischt hatten, darunter: 125 Kinder und Jugendliche und  38 „Ortskräfte“. Der Titel greife zu kurz, sagt Martin Burmeister, Sprecher des brandenburgischen Innenministeriums, denn in der jetzigen Lage hätten auch die übrigen Evakuierten gute Chancen auf Asyl. Angst davor, dass auch Straftäter durchrutschen könnten, habe man nicht. Alle Personalien seien doppelt geprüft. 

Es ist eine Lehre aus der Flüchtlingswelle 2015: mehr Sicherheit, mehr Dolmetscher, mehr psychologische Betreuung. Die Ankömmlinge nähmen die Angebote dankbar an, sagt Burmeister. Es sind Fahrer, Köche, Techniker, Journalisten, Professoren. Einige hätten schon Jobangebote bekommen.

„Helden“ sind schwer zu integrieren

Ahmad* gehört nicht dazu. Aber er ist auch keine Ortskraft. Er hat einfach nur Glück gehabt, dass er es in einen Flieger geschafft hat. Ein durchtrainierter Endzwanziger, der breitbeinig wie ein Sheriff durch den Ort federt. Es ist mittags, die Straßen sind menschenleer. Nur eine Rentnerin kommt ihm entgegen, schaut zu Boden. Er weiß, was die Leute von ihm denken: „Schon wieder ein Flüchtling, der seine Religion mitbringt.“

Dabei sei er in Afghanistan Kommandeur einer Polizeieinheit gewesen. Zwei Bodyguards hätten ihn begleitet. Ahmad drückt den Rücken durch. Sogar der afghanische Präsident Ghani habe ihm nach einem Einsatz im Taliban-Gebiet die Hand geschüttelt, bei dem 15 seiner Kollegen gestorben seien. Er überlebte schwer verletzt. Zum Beweis zeigt er seinen Bauch, über den sich im Zick-Zack eine Narbe zieht.


Eine wahre Geschichte? Die Erstaufnahmestelle konnte sie nicht bestätigen. Es bleiben Fragen. Ein Handy, ein wichtiges Beweismittel bei der Identitätsfeststellung, hatte er nicht dabei. „Da waren Nummern von Ministern drauf. Hätten die Taliban mich geschnappt, wäre das mein Tod gewesen“, erklärt er.

In seiner Welt ist Ahmad ein Held. Mit dieser Einstellung wird er es in Deutschland schwer haben. Von Ortskräften wird erwartet, dass sie offen für westliche Werte sind. Bei ihm ist davon wenig zu spüren. Er sagt, Hitler sei ein guter Staatsmann gewesen. Wie er sich sein Leben vorstelle? Er sagt. er wolle als Polizist arbeiten. Er träume von einer Familie mit zehn Kindern.

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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