Nach Nancy Faesers Vorstoß - Die Clans und der Deutungskampf der Ideologen

Die Reaktionen auf die jüngsten Vorschläge Nancy Faesers, Clan-Angehörige einfacher abzuschieben, offenbaren die Unausgewogenheit und Ideologisierung des Diskurses. Der Migrationsjurist Martin Manzel weist auf konkrete Probleme hin.

Polizei nimmt Männer aus dem Clanmilieu in der Essener Innenstadt fest, 17.06.2023 / picture alliance
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Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Nach Nancy Faesers Ankündigung einer verstärkten Rückführung krimineller Migranten zeigt sich in der darauffolgenden medialen Diskussion ein Phänomen, das politische Debatten seit vielen Jahren begleitet: Statt kritischer Reflektion gesellschaftlicher Phänomene befeuern Journalisten und andere Meinungsmacher den sich zuspitzenden Kulturkampf: Unausgewogen kommentieren woke Linke und Rechtspopulisten den Diskussionsentwurf des Innenministeriums. Damit treiben sie nicht nur die Ideologisierung politischer Diskussionen voran, sondern werfen auch die Frage auf, ob die jüngst erschienenen Veröffentlichungen wirklich eine Wiedergabe des von Faeser angekündigten 35-seitigen juristischen Diskussionstextes darstellen oder nicht viel mehr kreative Eigeninterpretationen sind.

„Wir müssen den Kampf gegen organisierte Kriminalität konsequent führen. Clankriminalität ist ein Teil davon. Der Rechtsstaat muss hier Zähne zeigen“, äußerte sich Nancy Faeser am 12.August gegenüber der Rheinischen Post. Ungewohnte Töne von der Bundesinnenministerin, die 2022 bei den Weltmeisterschaften in Katar mit ihrer „One Love“-Binde diplomatische Codes brach, sich über das im Gastgeberland geltende Scharia-Recht stellte und sich der Weltöffentlichkeit als Kämpferin gegen Rassismus, Antisemitismus und Queer-Feindlichkeit präsentierte. Ein Blick in den Bericht des Verfassungsschutzes von 2022, in dem Zehntausende migrantische Bürger dem Spektrum des islamistischen Terrors oder auslandsbezogenem Extremismus zugeordnet und als Gefährder bezeichnet werden, wirft die Frage auf, wieso Faeser kriminelle Strukturen bei manchen radikalen Zugewanderten nicht schon zuvor als gesamtgesellschaftliches Problem thematisierte, und sich nun auf die zahlenmäßig kleinere Gruppe der mehrheitlich arabischen und kurdischen Familienclans stürzt.

 

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Ein Blick in aktuelle Umfragewerte erklärt Faesers politischen Stilbruch: Das Meinungsforschungsinstitut Civey (Befragungszeitraum 09.- 16.August) deutet für die nächsten hessischen Landtagswahlen auf ein Wahlergebnis von 15 Prozent für die AfD hin. Faesers Strategie kriminellen migrantischen Strukturen den Kampf anzusagen und so bei AfD-Sympathisanten zu punkten, könnte ihr bei den anstehenden Landtagswahlen zum erhofften Sieg verhelfen: Eine Umfrage von Forsa für das Magazin Stern zeigt, dass 67 Prozent der Deutschen die Idee der schnelleren Abschiebung krimineller Clan-Mitglieder unterstützen.

Nicht weniger bedeutend sind die Reaktionen der zwei Lager und Meinungsmacher, die in öffentlichen Diskussionen am lautesten sind: Das Lager linker Woker, die jegliche Thematisierung von kriminellen Strukturen bei Migranten mit Tabuisierung und dem KO-Kriterium des Rassismus-Vorwurfs begegnen, und auf der anderen Seite Rechtskonservative, denen Migration nicht behagt, die Migranten per se Kriminalität unterstellen und die unfähig sind, die Entstehung von kriminellen migrantischen Großfamilien statt auf Kultur, auf die planlose Integrationspolitik der letzten Jahrzehnte zurückzuführen.

Wo die Clans herkamen

Die Diskussionen beider Lager zeigen nicht nur Wissenslücken, sondern auch das Fehlen differenzierter Betrachtungen gesellschaftlicher Phänomene und Entwicklungen. Ein Blick auf die Einwanderung und fehlgeschlagene Integration der kriminellen Clans in Deutschland erklärt das Zustandekommen ärgerlicher Zustände in deutschen Großstädten, die Bürger verunsichern und ängstigen: Die mehrheitlich arabischen und kurdischen Großfamilien, um die es aktuell geht, stammen meist aus dem Libanon. Dorthin waren palästinensische Familien nach der Gründung Israels 1948 und im Zuge der Suezkrise 1956, in Folge des Sechstagekriegs 1070/1971 und wegen weiterer Krisen in ihrer einstigen Heimat Israel geflüchtet. Auch kurdische Großfamilien aus streng hierarchisch und patriarchalisch- ländlichen Strukturen wanderten aus den ostanatolischen Städten Diyarbakir und Mardin in den Libanon ein. Von der libanesischen Bevölkerung wurden beide Gruppen als Sicherheitsrisiko wahrgenommen und als Bürger zweiter Klasse behandelt, sie verelendeten nicht selten in Flüchtlingscamps.

Deutschland wurde für einige dieser Familien mit dem Beginn des libanesischen Bürgerkriegs in den 80er Jahren zu einem stabilen Aufnahmeland, in das sie ihre patriarchalischen Clan-Strukturen und eigenen konservativen Wertkompass mitnahmen und sich bis zur gehäuften medialen Berichterstattung über ihre kriminellen Aktivitäten frei entfalten konnten. Viele der Clan-Mitglieder verfügten über keine Staatsangehörigkeit oder gaben vor, keinen Pass zu besitzen. Ein Grund, wieso sie nicht arbeiten durften und der sie in die Illegalität trieb. Wegen Aufenthaltsauflagen konnten Kinder der Eingewanderten bei Klassenfahrten außerhalb ihres Wohnortes nicht teilnehmen, ihr Außenseiterstatus verstärkte sich, zudem bestand keine Schulpflicht für Kinder von Geflüchteten.

Es folgte die lange Liste der „Clan-Verbrechen“: Betrug, Sozialbetrug, Drogenverstöße, Diebstahl, Geldwäsche, Tötungsdelikte. Politik und Gesellschaft reagierten mit Gleichgültigkeit gegenüber der Herausbildung von weiteren Parallelgesellschaften, in denen auch Kinderehen, Zwangsverheiratung innerhalb der Familien zum Standard wurden. Wie gewohnt reagierten woke Linke auf den Diskussionsbedarf über frauenfeindliche Strukturen in patriarchalisch migrantischen Großfamilien mit der Rassismuskeule und würgten so dringend notwendige Debatten über die Fehler der Integrationspolitik ab. Rechtspopulisten wiederum führten die kriminellen Umtriebe der Clans auf kulturelle Zugehörigkeit und nicht auf Armut und eine undurchdachte Migrationspolitik zurück.

„Schwierigkeiten, Probleme in Worte zu fassen“

Für Martin Manzel, Fachanwalt für Migrationsrecht, beginnt die Kritik an den medialen Erörterungen bei dem Begriff der „Clan-Kriminalität“: „Es wird juristisch kaum möglich sein, mit einem derart schwammigen Begriff zu arbeiten, da verfassungsrechtlich Bedenken bestehen“, so Manzel. Falls es dann zu ersten Abschiebungsentscheidungen gegen Mitglieder krimineller Großfamilien komme, von denen viele ohnehin die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, würden diese Fälle auch vor dem Bundesverfassungsgericht landen und dort sicher aufgehoben werden, ist Manzel überzeugt.

Die Einführung einer solchen Norm allerdings, die dem Bundesministerium des Inneren und für Heimat vorliegt und die eine bessere Rückführbarkeit kriminell gewordener Migranten vorsieht, begrüßt der Anwalt: „In Deutschland haben wir Schwierigkeiten, bestehende Probleme wie diese Kriminalität in Worte zu fassen. Zudem bereitet uns die schnelle Umsetzung solcher Entwürfe auf juristischer Ebene Schwierigkeiten“, so Manzel. Die Idee, auch nicht strafanfällig gewordene Mitglieder der Großfamilien abzuschieben, sendet seiner Ansicht nach falsche Signale. „Nicht jeder, der Remmo heißt, ist ein Einbrecher oder wird anderweitig straffällig. Die Verschärfung des Ausweisungsrechts für vermehrt straffällig gewordene Migranten ist ein richtiges Signal und kann funktionieren, aber unschuldige Mitglieder auszuweisen und abzuschieben, wird die Integrationserfolge derjenigen, die seit vielen Jahren versuchen, kriminellen Familien-Strukturen zu entfliehen, zerstören“, glaubt Manzel.

Längst notwendiges Signal an besorgte Bürger

In dem Diskussionspapier sieht der Anwalt Herausforderungen bei der Durchführung der Rückführung, wenn Betroffene deutsche Staatsangehörige sind, da in diesem Fall das Aufenthalts- und Ausweisungsrecht von vornherein keine Anwendung findet. Dass die Bundesregierung parallel zu dieser Ankündigung Rückführprogramme mit Ländern wie dem Libanon initiiert, interpretiert er als ein längst notwendiges Signal an besorgte Bürger, die zum Beispiel ihre Kinder aus Angst vor kriminellen Angehörigen der Clans nicht mehr auf bestimmte Schulen schicken wollen und sich vorab genau über das entsprechende Umfeld informieren. „Faesers Ansatz geht in die richtige Richtung, was von den Medien bisher aber reininterpretiert wurde, sicher nicht. Grundsätzlich müssen wir uns fragen, was in der bisherigen Migrationspolitik falsch lief“, so Manzel. Neben juristischen Schritten appelliert Manzel an die Sozialpolitik, Bildungsoffensiven in sozialen Brennpunkten zu starten, fordert eine schnellere Arbeitserlaubnis für Zugewanderte und eine offenere mediale Diskussion über Migration, ohne Pauschalisierung und Moralismus.

Faesers Kampfansage gegen organisierte Kriminalität und die sich anschließenden kontroversen medialen Diskussionen zeigen: Es ist an der Zeit, Migration und Integration mehrdimensional zu diskutieren und liberale Migranten zu stärken, statt patriarchalische Verbände aus orientalischen Ländern für dringend notwendige Integrationsdebatten als Ansprechpartner zu wählen. Ideologisierte Debatten, wie sie zuhauf von Journalisten und Politikern beider Lager initiiert werden, beherbergen die Gefahr, dass die Mehrheit der gut integrierten Migranten, die mehrheitlich Opfer krimineller Clans sind, in diesem Kulturkampf zwischen woken Linken und Rechtspopulisten in die Mühlen der Ideologisierten geraten.

 

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