Evangelische Kirche - Über 9000 Missbrauchsopfer – ganz ohne Zölibat

Das „Selbstbild der Progressivität“ war trügerisch: In der evangelischen Kirche gab es nicht weniger Missbrauch als in der katholischen. Auch die mangelnde Verantwortungsübernahme eint die beiden Ex-Autoritäten der Moral.

Dunkle Wolken über einer evangelischen Kirche in der Region Hannover / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Jakob Ranke ist Volontär der Wochenzeitung Die Tagespost und lebt in Würzburg. Derzeit absolviert er eine Redaktions-Hospitanz bei Cicero.

So erreichen Sie Jakob Ranke:

Anzeige

Sechs Jahre ist es her, dass die Katholische Kirche in Deutschland ihre große Missbrauchsstudie veröffentlichte – wiederum acht Jahre nach der ersten großen öffentlichen Diskussion über sexuellen Missbrauch im kirchlichen Kontext. Das Medienecho damals war so gewaltig wie die Zahlen erschreckend: 1670 katholischen Geistlichen wurde auf Basis ihrer Personalakten sexueller Missbrauch vorgeworfen, also rund vier Prozent der katholischen Diözesanpriester im Untersuchungszeitraum zwischen 1946 und 2014. Die Opfer: 3677 Kinder und Jugendliche.

Nun also die Evangelische Kirche. Über 9000 Opfer sexuellen Missbrauchs dürfte es in der Evangelischen Kirche Deutschland seit 1946 gegeben haben. Das ist das Ergebnis einer „sehr spekulativen Hochrechnung“ der Ergebnisse der gestern vorgestellten „Forum-Studie“, die maßgeblich auf der Auswertung von Disziplinarakten beruht. Über 3000 Täter sollen die Taten begangen haben. Eine direkte Vergleichbarkeit der Missbrauchszahlen der großen Kirchen ist dabei nicht gegeben. So befasste sich die katholische MHG-Studie nur mit geweihten Priestern und Diakonen, die Forum-Studie hingegen mit Akten aller möglichen Beschäftigten in Pfarreien und Hilfsorganisationen. Dafür hatten die Autoren der Forum-Studie nur bei einer einzigen Landeskirche Zugriff auf die Personalakten, aus denen sich deutlich höhere Fallzahlen ergaben als aus sogenannten Disziplinarakten. Die Zahlen dürften also für beide Kirchen zu niedrig angesetzt sein. Mit Verweis auf das statistische Dunkelfeld sprachen die Studienautoren von der „Spitze der Spitze des Eisbergs“.

Falsches Selbstbild ist Teil des Problems

„Wir haben diese Studie nicht initiiert, weil wir wissen wollten, ob es sexualisierte Gewalt bei uns gab und gibt“, bekannte die kommissarische Ratsvorsitzende der EKD, Kerstin Fehrs. Vielmehr gehe es um die systematischen Faktoren, die Missbrauch in der Evangelischen Kirche begünstigt haben könnten. Davon konnten die Forscher einige identifizieren. Etwa der Befund der „Verantwortungsdiffusion“ – in den im Vergleich zur Katholischen Kirche egalitäreren Strukturen war es offenbar schwer, einzelne Verantwortliche für den Umgang mit Tätern und Opfern auszumachen. Gleichzeitig habe es eine Kultur des „Harmoniezwangs“ und der Konfliktunfähigkeit gegeben. Opfer seien zur Vergebung gedrängt worden.

Überhaupt habe man erst etwa seit 2018 sexuellen Missbrauch innerhalb der EKD thematisiert; Martin Wazlawik, der die Studie vorstellte, sprach dabei von „Externalisierung“: Mit dem Verweis auf vermeintliche katholische Risikofaktoren wie den Zölibat, aber auch auf Liberalisierungsdiskurse der 1970er und 1980er Jahre habe man Missbrauch in den Bereich der Gesellschaft oder der anderen großen Kirche geschoben. Dabei gab es, so Wazlawik, Missbrauch sowohl in „progressiven“ als auch „konservativen“ evangelischen Milieus. Von den beschuldigten Pfarrern seien zwei Drittel verheiratet gewesen. Nicht zuletzt habe für den Missbrauch die Selbstwahrnehmung der Evangelischen Kirche als sicher – „weil wir partizipativ, weil wir demokratisch sind“ – eine Rolle gespielt. Teil des Problems sei das „Selbstbild der Progressivität“ gewesen.

Es sind Befunde, die auch für die Katholische Kirche interessant sein dürften. Denn deren Reaktion auf ihre bereits seit 2010 schwelende „Missbrauchskrise“ war zweigeteilt: Einerseits wurden einschlägige Präventionsmaßnahmen wie sensibilisierende Fortbildungen, Ernennung von Beauftragten und die Einrichtung von Betroffenenbeiräten aufgesetzt und weitere Aufklärung versprochen. Andererseits beschloss die Bischofskonferenz jedoch auch, zusammen mit Laienvertretern Konsequenzen aus dem Missbrauch auf einem mehrjährigen Beratungsprozess, dem „Synodalen Weg“, zu diskutieren.

Schleifung katholischer Spezifika

Schnell ging es dabei weniger um einzelne, präzise Präventionsinstrumente als um eine Schleifung katholischer Spezifika, die reformorientierten Katholiken schon seit Jahrzehnten ein Dorn im Auge sind. Musste nicht etwa der Zölibat, das Heiratsverbot für katholische Priester, quasi durch Triebstau zu sexuellem Fehlverhalten führen? Führte nicht der Ausschluss der Frau vom Weiheamt zu verschworenen Männerbünden, die Aufklärung erschweren? Und ergab sich nicht aus dem „Klerikalismus“, also dem in der römischen Kirche besonders ausgeprägten „hierarchisch-autoritären System“ (MHG-Studie), eine Haltung, die eher die Institution als das Opfer zu schützen trachtete?

Es waren Fragen, die auch die öffentliche Debatte über den kirchlichen Missbrauch dominierten. Die daraus abgeleiteten – und auf dem Synodalen Weg größtenteils beschlossenen – Reformforderungen gingen so weit, dass Papst Franziskus sich zu der Bemerkung genötigt sah, es gebe in Deutschland bereits „eine sehr gute Evangelische Kirche“. Zwei davon seien unnötig. Nun zeigt sich wenig überraschend: Missbrauch gibt es in ganz ähnlicher Dimension auch in der Evangelischen Kirche, die doch der Katholischen, ohne Belastung durch Zölibat, rein männliche Priester oder starren hierarchischen Apparat, voraus sein sollte.

Nicht weniger Missbrauch als in Katholischer Kirche

„Ich bin überzeugt, das Narrativ, in der Evangelischen Kirche gebe es weniger Missbrauch als in der Katholischen Kirche, wird sich nicht mehr halten lassen“, nahm Katharina Kracht, selbst Missbrauchsbetroffene, die Zusammenfassung der Studie vorweg. Die großen Kirchen also haben im Schlechten mehr gemeinsam, als ihnen lieb sein kann. Absurd dabei: Das Fehlen der „systemischen Faktoren“, die je eigene Kirche nicht aufweist, scheint keinen protektiven Effekt zu haben. Auch verheiratete Pfarrer begehen Missbrauch. Und während in der Theorie in der Katholischen Kirche weniger Verantwortungsdiffusion geherrscht haben mag, gab es dennoch offenbar ebenso wenige Hirten, die diese Verantwortung auch annahmen. So sind in Deutschland bislang erst ein katholischer Oberhirte (Franz-Josef Bode) und zwei evangelische Bischöfinnen (Maria Jepsen und Annette Kurschus) aufgrund ihres Umgangs mit Missbrauch zurückgetreten. Personelle Konsequenzen waren in beiden Kirchen die Ausnahme.

 

Mehr zum Thema:

 

Wer dieses „Wir“ sei, von dem sie immer spreche, wollte dann auch eine Journalistin von der EKD-Vorsitzenden Fehrs wissen, zumal nun mehrfach von Verantwortungsdiffusion die Rede gewesen sei. „Wer übernimmt die Verantwortung?“ Die Antwort fiel enigmatisch aus: „Ich meine mit wir tatsächlich wir in der EKD, mit Kirchenkonferenz, Rat und Synode. Und dass das eine klare Verantwortungszuordnung hat, ist dabei evident.“ Außerdem, so bemühten sich die EKD-Vertreterinnen zu betonen, sei das Problem des falschen Umgangs mit sexueller Gewalt ja ein tiefgehendes Haltungsproblem bis auf die unterste Ebene. Man brauche ein neues Bewusstsein „bis in die letzte Kirchengemeinde hinein“.

Was nicht einmal falsch ist. Auch ist Missbrauch ja wirklich ein gesamtgesellschaftliches Problem. Bis zu zwei Kinder pro Schulklasse, so heißt es häufig, haben Missbrauchserfahrungen gemacht; die meisten davon im familiären Umfeld. Dennoch ist das mangelnde persönliche Geradestehen in den Institutionen, die ehemals praktisch Monopolisten moralischer Autorität waren, frappierend. Fast anekdotisch erinnerte die Betroffene Kracht an den ehemaligen bayerischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, der kurz vor dem Ende seiner siebenjährigen Amtszeit als Ratsvorsitzender der EKD gesagt habe, er hätte sich gewünscht, das Thema Missbrauch wäre in der EKD sichtbarer geworden. Sie als Betroffene habe jedenfalls keine Wünsche an die Evangelische Kirche mehr. Sondern nur noch an die staatlichen Behörden.

Anzeige