Epidemische Lage nationaler Tragweite - Die Corona-Politik als Tragödie

Die Ampelkoalition hat sich vergaloppiert, noch bevor sie im Amt ist. Während die Inzidenzen steigen und die Intensivstationen volllaufen, wurde in dieser Woche im Deutschen Bundestag diskutiert, ob das Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite verkündet wird. Die Politik wiederholt damit die Fehler des letzten Jahres.

Eine Büste des Dichters Friedrich Schiller vor dem Hauptgebäude der Friedrich-Schiller-Universität in Jena / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

So erreichen Sie Mathias Brodkorb:

Anzeige

Was war der Bundestagsabgeordnete Marco Buschmann (FDP) noch stolz, als er vor rund drei Wochen mit weiteren Ampelvertretern das Ende der pandemischen Lage von nationaler Tragweite verkünden durfte. Besonders wichtig war ihm damals und auch bei der Bundestagsdebatte diese Woche zu betonen, dass die Entscheidungen nun wieder dort getroffen würden, wo sie hingehörten: im Parlament. Als ob es um die Eitelkeiten von Parlamentariern ginge! Dem Virus dürfte es nämlich herzlich egal sein, ob die Entscheidungen von Parlament oder Regierung getroffen werden, und den meisten Menschen wahrscheinlich auch. Entscheidend ist, dass überhaupt und auf die richtige Weise gehandelt wird.

Marco Buschmann als Schillerscher „Held“

Marco Buschmann scheint das Pandemie-Geschehen indes wie eine Schillersche Tragödie aufzufassen und sich selbst als Helden, der „unschuldig schuldig“ ist. Friedrich Schiller sah die Kulturleistung der Tragödie bekanntermaßen darin, im Publikum Mitleid zu erregen und bei ihm eine „allwebende Sympathie“ zu erzeugen. Der Besuch des Theaters sollte der moralischen Läuterung der Menschen dienen.

Schiller war fest davon überzeugt, dass das empfundene Mitleid umso größer sei, je weniger der tragische Held sein Leid verdiene. In seinem Aufsatz „Über die tragische Kunst“ (1792) hält er ausdrücklich fest: „Ein Dichter, der sich auf seinen wahren Vorteil versteht, wird das Unglück nicht durch einen bösen Willen, der Unglück beabsichtigt, noch viel weniger durch einen Mangel des Verstandes, sondern durch den Zwang der Umstände herbeiführen.“

Nun ist es ja wahr, dass die Existenz des Corona-Virus für uns alle einen „Zwang der Umstände“ darstellt. Aber darin erschöpft er sich nicht. Entscheidend ist vielmehr, wie wir mit diesem äußeren Handlungszwang umgehen. Und genau da beginnen die Probleme. Und die eigentliche Tragödie.

Geschwindigkeit und Entschlossenheit machen einen Unterschied

Warum es in einer Pandemie vor allem auf Entscheidungsgeschwindigkeit ankommt, hat in der ihm eigenen Leichtigkeit der Philosophieprofessor und Staatsminister a. D. Julian Nida-Rümelin (SPD) schon im letzten Jahr vor laufenden Kameras auf den Punkt gebracht: Das Pandemiegeschehen folge nun einmal einer Exponentialfunktion. Und wenn man etwas aus dem eigenen Mathematikunterricht für die Praxis lernen könne, so Nida-Rümelin, dann heutigentags doch wohl das: Wer ein exponentielles Wachstum ausbremsen wolle, müsse am Anfang handeln und dürfe nicht zaudern. Sonst galoppieren die Werte davon.

Der deutschen Politik hat dieser Ratschlag schon im letzten Herbst nichts geholfen. Sie zauderte und zögerte und musste anschließend umso härter handeln, um die exponentielle Dynamik wieder in den Griff zu bekommen. Das war der Pandemie-Tragödie erster Teil. Die heutige Lage ist noch etwas schlimmer. Nicht deshalb, weil die Intensivstationen ähnlich hoch ausgelastet sind, während insgesamt weniger Intensivbetten zur Verfügung stehen, da das nötige Personal fehlt. Sondern weil wir die Situation des schuldhaften Nichthandelns schon einmal hatten und daher eigentlich wissen müssten, was daraus folgt. Und damit wären wir nicht mehr bei Friedrich Schiller, sondern bei Aristoteles und Aischylos.

Von den alten Griechen lernen

Den alten Griechen wäre es absurd vorgekommen, einen tragischen Helden auf die Bühne zu stellen, der unverschuldet in großes Leid stürzt. Ihnen wäre das nicht Grund zu moralischer Erbauung, sondern für eine Sinnkrise gewesen. Der Nihilismus ist denn auch aus gutem Grund eine recht moderne intellektuelle Erscheinung.

Der antike Philosoph Aristoteles sah es genau deshalb vor rund 2500 Jahren ganz anders als Schiller. Der tragische Held stürzt bei ihm nicht unschuldig in sein Unglück, sondern weil ihm selbst ein Fehler (hamartia) unterläuft. Tragisch ist es nach seiner Ansicht vor allem, wenn ein Mensch in großes Leid stürzt, das dem Ausmaß seines Fehlers unangemessen ist und er das außerdem alles hätte verhindern können. Wenn er denn nicht unter einem „Mangel des Verstandes“ gelitten hätte.

In Wahrheit kennen wir das alle aus unserem Leben ja auch selbst: Oft stellen wir rückblickend fest, was wir uns hätten ersparen können, wenn wir einfach anders entschieden und gehandelt hätten. Und ganz häufig lagen uns alle Informationen vor, um uns nicht in die Bredouille zu bringen. Aber wir irren eben.

Aus Schaden klug werden

Im „Agamemnon“ des Tragödiendichters Aischylos fallen denn auch in einem Zeushymnos des Chores die entscheidenden Worte: „Weise zu sein wies er den Weg den Sterblichen, und er setzte dies: daß aus Leid wir lernen (pathei mathos).“ Aus Schaden wird man klug - so einfach lässt sich der Sinn der attischen Tragödie auf den Punkt bringen. Man könnte daher meinen, die vielleicht wichtigste Maßnahme gegen die Corona-Pandemie würde in einem dauerhaften Theater-Abonnement für die Abgeordneten der Landtage und des Bundestages sowie aller Regierungsmitglieder bestehen.

So sehr der Bundestagsabgeordnete Marco Buschmann daher dieser Tage seine eigene und die Würde des Hohen Hauses entdeckt haben mag: Entscheidend ist letztlich, was hinten rauskommt. Er und seine Mitstreiter von der Ampelkoalition täten daher gut daran, die Fahnen schnell wieder einzurollen. Das Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite zu verkünden war eine Schnapsidee.

Auf die Verantwortlichen hören

Besser wäre es, in diesen Tagen nicht nur auf jene zu hören, die gutgemeinte Beschlüsse fassen, sondern auf die, die tatsächlich die Verantwortung tragen. Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) jedenfalls hält die Debatten der letzten Wochen für das „falsche Signal“. Nach seiner Ansicht müssen Bund und Länder weiterhin in der Lage sein, schnell und unkompliziert weitreichende Maßnahmen zu ergreifen. Die Krankenhäuser seien schon „jetzt an der Belastungsgrenze“.

Wer das nicht wahrhaben will, wird bald schon der Tragödie zweiter Teil in allen Zügen genießen können. Überschaubare Grundkenntnisse über Exponentialfunktionen aus dem Mathematikunterricht reichen für diese Einsicht aus.

 

 

Anzeige