Ideologie und Technik - Die Krux der Energiewende

Mit einem radikalen Umbau seiner Stromversorgung will Deutschland der Welt zeigen, wo es langgeht. Doch das riskante Jahrhundertprojekt ist weitaus problematischer als ursprünglich gedacht. Die Energiewende droht zu scheitern – an Dogmatismus und an einem folgenschweren Tabu.

Wind und Sonne statt Kernkraft und Kohle: 100 Prozent Ökostrom ist ein waghalsiges Ziel / Henning Bode
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Bäckermeister Boveleth schätzt die Tradition, ein Mann von gestern ist er jedoch nicht. Sein Rheinisches Schwarzbrot, für das die Stammkundschaft bis aus dem 50 Kilometer entfernten Köln anreist, backt er so, wie es bereits sein Urgroßvater getan hat. Guido Boveleth ist stolz auf die 110-jährige Geschichte seines Handwerksbetriebs in Bed­burg. Das dreistufige Sauerteigrezept wird dort seit vier Generationen gehütet. 

Bei der Technik aber geht der Bäckermeister ganz mit der Zeit. Um Energie zu sparen und den CO2-Ausstoß zu reduzieren, hat Boveleth einen hochmodernen Gasbackofen angeschafft. „Die Brenner arbeiten mit weniger Leistung und dadurch auch weniger Emissionen“, erklärt er. „Das Back­ergebnis ist trotzdem sensationell. Denn das wird alles über elektronische Fühler gesteuert, die genau messen, wo im Ofen gerade wie viel Hitze gebraucht wird.“

Genialität und Größenwahn

Seine Investition war damit ganz im Sinne der Energiewende, der sich Deutschland verschrieben hat, um der Welt zu beweisen, dass eine Hightech-Nation „klimaneutral“ werden und ihren Strombedarf zu 100 Prozent aus erneuerbaren Quellen decken kann. Doch genau diese Energiewende macht Bäckermeister Boveleth nun das Leben schwer.

Dieses Jahrhundertprojekt ist eine Operation am offenen Herzen der wichtigsten Infrastruktur des Industrielands, für die es kein Vorbild gibt. Es ist ein milliardenschweres Großexperiment, das gut ausgehen kann – oder auch nicht. Denn ohne stabile und sichere Stromversorgung würde Deutschland nicht nur seinen wirtschaftlichen Wohlstand verlieren, es würde auch schnell im Chaos versinken. Trinkwasserversorgung, Telekommunikation, Lebensmittelverteilung: Bleibt der Strom weg, bricht alles zusammen.

Es passt zu diesem Land der Ingenieure und Ideologen, in dem Genialität und Größenwahn schon immer nah beieinanderlagen, dass es sich diese gewaltige Transformationsaufgabe auferlegt hat. Wer, wenn nicht wir könnte es schaffen und der Welt ein leuchtendes Beispiel sein? Die Verfechter der Energiewende, die nach und nach alle wichtigen Schlüsselpositionen besetzt und Zweifler zum Schweigen gebracht haben, glauben daran nach wie vor. Doch je ernster es wird, je näher der endgültige Abschied von der Atomkraft und der baldige Ausstieg aus der Kohleverstromung rücken, umso mehr Sorgen machen sich diejenigen Fachleute und Betroffenen, denen es weniger um die Weltrettung als um die dauerhaft zuverlässige Versorgung mit 50-Hertz-Wechselstrom geht. Es ist dringend an der Zeit, ihnen zuzuhören. Sonst wird die deutsche Energiewende scheitern und als teuerster Schildbürgerstreich in die Geschichte eingehen.

Schwankungen im Netz nehmen zu

Bäckermeister Boveleth ist einer von ihnen. Kein Experte, aber ein Betroffener. Denn sein neuer Hightech-Ofen kommt mit den zunehmenden Schwankungen im Stromnetz nicht zurecht. „Wenn die Netzspannung kurzzeitig einbricht oder gar der Strom für wenige Sekunden wegbleibt, schalten die Brenner ab“, erklärt Boveleth das Problem. „Aus Sicherheitsgründen wird danach die Brennkammer frei geblasen, das dauert neun bis zehn Minuten. Die Brote können Sie wegwerfen. Das ist wie bei einem Steak, das Sie von einer Seite scharf anbraten, und dann bleibt die Hitze weg.“ An solchen Tagen müsse er seine Kunden vertrösten. „Unser Sauer­teig braucht 18 Stunden, den können wir nicht so schnell nachmachen.“

Das Problem, das Boveleth plagt, ist kein Einzelfall. Es trifft nicht nur Handwerker, sondern auch Industriebetriebe. Und dort kann der Schaden schnell in die Hunderttausenden gehen. Offen darüber reden will kaum jemand, sagt Beate Braun, Sprecherin der Industrieallianz für regionale Energiesicherheit in Nordrhein-Westfalen. „Die produzierenden Unternehmen haben Angst davor, ihre Kunden zu verunsichern, deshalb halten sie sich bedeckt. Aber es muss an die Öffentlichkeit, denn nur so finden wir Lösungen, bevor es zu spät ist.“

Zu jeder Sekunde im Gleichgewicht

Zu spät wäre es, wenn einsetzt, was manche Ökonomen als Kollateralschaden der Energiewende fürchten: eine schleichende Abwanderung der Industrie. Ein wichtiges Fundament des westdeutschen Wirtschaftswunders war Deutschlands Stromversorgung, die zur sichersten und stabilsten der Welt zählte. Großkraftwerke lieferten zuverlässig rund um die Uhr Elektrizität. Stieg der Bedarf, etwa zur Mittagszeit, weil viel gekocht wurde, drehten die Kraftwerke auf. Die Erzeugung richtete sich nach der Nachfrage, der Last, wie Elektroingenieure den jeweils aktuellen Strombedarf nennen. Diese Zeiten sind vorbei.

Die Krux der Energiewende liegt genau darin: Erzeugung und Last müssen immer deckungsgleich sein. Zu jeder Jahreszeit, tagsüber wie nachts, zu jeder Minute und Sekunde. Man kann sich das Stromnetz als einen gigantischen Stausee vorstellen, dessen Wasserspiegel stets auf derselben Höhe gehalten werden muss. Wird mehr Wasser entnommen, muss mehr Wasser zufließen. Stockt der Abfluss, muss der Zufluss gesenkt werden. Dieser stets konstant zu haltende Wasserspiegel ist beim Strom die Frequenz. In Europa liegt sie bei 50 Hertz. Fällt oder steigt sie um wenige Zehntel, schalten Maschinen aus Sicherheitsgründen ab und es droht der Zusammenbruch des Netzes: der Blackout.

Lotsen der Energiewende

Auf einer großen, leicht gewölbten Bildschirmwand leuchten Linien, Symbole und Zahlen. Auf den Tischen davor reihen sich Dutzende kleinere Monitore aneinander. In dem gut gesicherten Raum in Neuenhagen bei Berlin arbeiten rund um die Uhr hochspezialisierte Elektroingenieure des Netzbetreibers 50Hertz. 

Sie überwachen das Höchstspannungsnetz im Nord­osten Deutschlands – also jene Leitungen, die große Mengen an Energie über weite Strecken transportieren. Es sind die Autobahnen der Stromversorgung. Von dort geht es auf die Landstraßen, das sind die Mittelspannungsnetze regionaler Betreiber, bis auf die Stadtstraßen und Feldwege kommunaler Stromversorger. Im Notfall übernehmen die 50Hertz-Netzingenieure das Kommando über die nachgelagerten Netze. Sie sind die Verkehrslotsen, ihr Job ist wesentlich anspruchsvoller geworden in den vergangenen Jahren. 

Versorgungssicherheit in Gefahr

Windparks und Solaranlagen speisen den Strom je nach Wetterlage ein. Stark schwankend. Und das nicht an wenigen zentralen Punkten im Netz, sondern überall – sogar auf den Feldwegen, etwa wenn ein Bauer eine Biogasanlage baut. Es kommt zum Gegenverkehr und zu Verkehrschaos. Das Netz wird instabiler. Immer häufiger müssen die Lotsen in den Kontrollzentren von 50Hertz und den anderen drei deutschen Übertragungsnetzbetreibern eingreifen, um es zu stabilisieren. Sie schalten dann Großverbraucher ab, um die Last zu senken, oder Reservekraftwerke zu, um die Erzeugung zu erhöhen. Noch funktioniert das. Aber was passiert, wenn bald alle deutschen Kernkraftwerke endgültig vom Netz gehen und auch der Kohleausstieg in die Tat umgesetzt wird? 

„In Deutschland werden wir demnächst nicht mehr ausreichend gesicherte Leistung haben, um die Spitzenlast-Nachfrage jederzeit decken zu können“, warnt 50Hertz-Chef Stefan Kapferer. „Und da auch andere europäische Länder aus der fossilen Stromerzeugung aussteigen wollen, laufen wir in eine mögliche Engpasssituation hinein. Die Politik muss deshalb jetzt die Frage klären, wie wir gesicherte Leistung zubauen, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten.“

Aus für Atom und Kohle

Gesicherte Leistung bieten Kraftwerke, die jederzeit als Reserve zur Verfügung stehen. In windstillen, dunklen Winterwochen etwa, wenn die Strom­erzeugung der Erneuerbaren tagelang gegen null geht. Noch laufen in Deutschland sechs Atomkraftwerke, die zuverlässig und bei jedem Wetter den Grundsockel des Strombedarfs sichern. Doch bis Ende des Jahres werden drei der sechs verbliebenen Anlagen abgeschaltet, spätestens ein Jahr darauf ist ganz Schluss mit der heimischen Atomenergie.

Gleichzeitig steht auch die Kohlekraft vor dem Aus. Die schwarz-rote Koalition hat sich von einer Allianz aus Klimaschutzjugend und Verfassungsgericht treiben lassen und beschlossen, die Kohlekraftwerke noch schneller als ursprünglich geplant abzuschalten. Ob das wirklich klappen wird, steht in den Sternen. „Irgendwann ist die Strommenge, die wir aus dem Ausland beziehen, so groß, dass die politische Nervosität steigt“, sagt 50Hertz-Chef Kapferer. „Dann wird man sich jedes weitere Kohlekraftwerk, das abgeschaltet werden soll, sehr genau ansehen müssen. Wenn es von der Bundesnetzagentur als systemrelevant eingestuft wird, bleibt es als Reserve ohnehin am Netz.“ 

Dem Klimaschutz wäre damit ein Bärendienst erwiesen. Denn bei der Kohleverbrennung entsteht jede Menge CO2. Die Atomenergie hingegen ist nahezu emissionsfrei und erlebt deshalb in anderen Ländern von Kanada bis Finnland eine dezidiert klimapolitisch begründete Renaissance.

Mehrheit geht von längerer AKW-Laufzeit aus

In Deutschland hingegen traut sich keine Partei, bis auf die AfD, mit der Forderung nach einem Stopp des Atomausstiegs in den Bundestagswahlkampf zu ziehen. Dabei ist laut Meinungsforschungsinstitut Allensbach eine relative Mehrheit der Deutschen der Kernenergie gegenüber aufgeschlossen – als Ergänzung zu den Erneuerbaren. Am stärksten unterstützen dies FDP-Anhänger. Aber sogar unter Grünen-Wählern gibt es inzwischen 27,5 Prozent Kernkraft-Befürworter.

Auch ein anderes Ergebnis der Allensbach-Umfrage lässt aufhorchen: Nur 26 Prozent der Bevölkerung glauben demnach, dass der Atomausstieg wie beschlossen im nächsten Jahr umgesetzt wird. Einige sind unentschieden, doch fast die Hälfte der Deutschen geht davon aus, dass eine neue Bundesregierung die von Angela Merkel nach dem Reaktorunglück in Japan gefasste Entscheidung korrigieren wird.

Aber ist das realistisch? Dazu müsste nicht nur die Union, sondern im Falle einer Regierungsbeteiligung müssten auch die Grünen einen schwerwiegenden Irrtum einräumen. Der Kampf gegen die Atomkraft ist ein zentraler Gründungsmythos der Ökopartei. Und dass sie diesen Kampf gewonnen haben, ist ihr bedeutendster Erfolg. Sie haben vor dem „Atomstaat“ gewarnt und sind nun dabei, einen Windmühlenstaat zu errichten. Denn die Ideologen der Energiewende sitzen längst an den entscheidenden Schalthebeln der Macht.

Kühltürme gesprengt

Der 14. Mai 2020 war für Günter Langetepe kein erfreulicher Tag. Frühmorgens wurde sein Lebenswerk in Schutt und Asche gelegt. Um 6.05 Uhr zündeten die Sprengladungen an den Kühltürmen des Kernkraftwerks Philippsburg, dann sackten die beiden Betonriesen in sich zusammen, verschwanden in einer riesigen Staubwolke. Langetepe hatte als junger Ingenieur einen der beiden Kraftwerksblöcke geplant und später den Betrieb der Gesamtanlage über Jahrzehnte geleitet. Inzwischen ist er 82 Jahre alt und im Ruhestand. Die Sprengung wollte er sich nicht aus der Nähe ansehen.

Ein Fernsehreporter hätte ihn gerne mit nach Philippsburg genommen, doch Langetepe blieb zu Hause in Karlsruhe. „Als junger Mann habe ich mich während des Maschinenbaustudiums für die Nukleartechnik entschieden, weil ich darin vielseitige technische Perspektiven sah“, sagt er. „Ich habe mein ganzes berufliches Leben darauf aufgebaut und bin auch heute noch von den nachhaltigen Vorteilen der Kernenergie überzeugt. Vor Ort anzusehen, wie eine bewährte, sichere und kostengünstige Art der Stromerzeugung unwiderruflich beendet wird, das wollte ich mir nicht antun.“

Flexibler als Wind und Sonne

Der Ingenieur verfolgt die energiepolitische Debatte immer noch hoch interessiert. Und er wundert sich, dass viele Politiker, die in Talkshows und Parlamenten über eine strahlend grüne Zukunft mit 100 Prozent Ökostrom reden, von den fachlichen Grundlagen erschreckend wenig Ahnung haben. „Es wird zum Beispiel oft behauptet, Kernkraftwerke eigneten sich nicht, um die Schwankungen von Wind- und Solarstrom auszugleichen, weil sie nicht flexibel genug seien. Aber das stimmt nicht“, sagt Langetepe. „Wir haben Philipps­burg immer mit einem sogenannten Regelband gefahren. Also nicht auf 100, sondern zum Beispiel auf 98,5 Prozent. So blieb eine Reserve von 200 Megawatt zur Stabilisierung des Stromnetzes. Das entspricht der maximal möglichen Leistung von 30 Windanlagen.“ Wenn die Frequenz im Netz absackte, hat das Kernkraftwerk seine Turbinenleistung automatisch angepasst. „Damit kann kurzfristig ein sicherer Netzbetrieb erreicht werden“, erklärt Langetepe. „Das können auch Kohlekraftwerke, aber das kann keine Windkraft und keine Fotovoltaik.“

Es gibt inzwischen neue Konzepte, wie Netzbetreiber solche Probleme lösen können. Eines davon nennt sich „dezentrale Flexibilität“ und meint, dass einzelne Großverbraucher kurzfristig vom Netz genommen werden, um die Last zu verringern. Statt Kraftwerksreserven zuzuschalten, werden also Stromverbraucher abgeschaltet – gegen Entschädigung und bislang nur, wenn sich die Unternehmen dazu bereit erklärt haben. 

Tiefkühlhühnchen als Stromspeicher

Annalena Baerbock meinte wohl dieses Modell, als sie vor wenigen Monaten in der Gesprächssendung von Sandra Maischberger ihre frühere Aussage „das Netz ist der Speicher“ erklären wollte. Die Kanzlerkandidatin der Grünen bemühte sich, es möglichst konkret zu machen: „Wenn eine Kühlung, zum Beispiel, bei einem riesengroßen Produzenten von minus 22 Grad in Zukunft dann auf minus 20 Grad runterkühlt, dann ist das Hühnchen immer noch kalt, aber wir können an der Grundlast das Netz so stabilisieren, dass sich im Netz die unterschiedlichen Akteure ausgleichen“, sagte sie. Fernsehzuschauer, die nicht vom Fach waren, blieben ratlos zurück. 

Auf die entscheidende Frage blieb Baerbock eine Antwort schuldig. Denn beim Problem fehlender Stromspeicher geht es nicht nur um kurzfristige Engpässe, die mit Kühlhaustricks überbrückt werden können. Es geht um Tage und Wochen, an denen kaum Wind weht und der Himmel trüb bleibt. Speicher, die solche gewaltigen Lücken decken könnten, sind derzeit weder technisch noch wirtschaftlich in Sicht. Deutschlands Strom kommt an solchen Tagen aus den Atom- und Kohlekraftwerken der Nachbarländer. Kann das im Sinne der Energiewende sein? 

Quasireligiöser Eifer

Dass kaum jemand diese kritischen Fragen stellt, liegt wohl erstens daran, dass für die meisten Strom etwas vollkommen Selbstverständliches ist. Er kommt aus der Steckdose. Welches diffizile, aufwendige und hochkomplexe Werk der Ingenieurskunst dahintersteckt, macht sich im Alltag kaum jemand bewusst. Und zweitens traut sich von denjenigen, die es wissen und daher große Zweifel haben, kaum jemand mehr, die deutsche Energiewende grundsätzlich infrage zu stellen. Es ist den grünen Energie-Ideologen gelungen, den Umbau der Stromversorgung zu einer moralisch aufgeladenen Glaubensfrage zu machen. Wer die Erreichbarkeit des 100-Prozent-Erneuerbare-Zieles und die Sinnhaftigkeit des gleichzeitigen Atom- und Kohleausstiegs infrage stellt, gilt als Klimaleugner und Ketzer.

Diesen quasireligiösen Eifer hat der streitlustige Ökonom Hans-Werner Sinn bereits 2013 klar benannt. „Die Windmühlen in Norddeutschland sind Sakralbauten zur Befriedigung grüner Glaubensbekenntnisse, doch nicht das Ergebnis einer rationalen Energiepolitik für die Bevölkerung und die Wirtschaft“, sagte er damals in einem Interview mit der Welt. „Die Deindustrialisierung, die wir gerade im Bereich der Energiewirtschaft betreiben, indem wir funktionierende Kraftwerke verschrotten, gehört zu den Sünden, die wir gegenüber unseren Nachkommen begehen.“ Doch Sinns Warnruf verhallte.

Sinneswandel

Zur Einsicht und Umkehr bedarf es meist nicht der Kritik von außen, denn die schweißt das eigene Lager eher zusammen und setzt Abwehrmechanismen in Gang. Was es braucht, sind kritische Geister im Inneren, die den Mut haben, Zweifel zu benennen und eigene Überzeugungen zu hinterfragen.

Anna Veronika Wendland ist ein solcher kritischer Geist. Die Osteuropa- und Technikhistorikerin ist in Köln aufgewachsen und war früher in der linken Anti-­Atomkraft-Bewegung aktiv. Sie protestierte vor den Werkstoren des Kernkraftwerks Mülheim-Kärlich. „Meistens waren das die berühmten Sonntagsspaziergänge. Wenn man dann mal bei Schichtwechsel aufeinandertraf, war das ein Spießrutenlauf für die Belegschaft. Dafür schäme ich mich heute“, sagt sie. Denn inzwischen hat sich Wendland gewandelt: von der Kernkraft-­Gegnerin zu einer der engagiertesten Befürworterinnen dieser Technologie. Wenn sie nun vor den Werkstoren Protestaktionen anzettelt, demonstriert sie nicht für, sondern gegen die Stilllegung der Anlagen.

Blick in ihre Vergangenheit

Im badischen Philippsburg war Wendland viereinhalb Monate, bevor der von der grünen Landesregierung kontrollierte Energiekonzern EnBW die Kühltürme hat sprengen lassen. Ihr Verein Nuklearia demonstrierte dort gegen die Abschaltung des letzten Kraftwerksblocks. Zur Unterstützung waren Klimaschützer aus Polen angereist. Denn sie treibt die Sorge um, dass der deutsche Atomausstieg dazu führt, dass polnische Kohlekraftwerke einspringen und dadurch mehr CO2 in die Atmosphäre blasen. „Angesichts des Klimawandels ist die Schließung von Kernkraftwerken ein Schritt in Richtung Katastrophe“, drückt es Adam Błazowski, einer der Gründer der Gruppe, mit dem von Klimaaktivisten gewohnten Alarmismus aus.

Für die Wissenschaftlerin Wendland war die Aktion in Philippsburg eine Begegnung mit ihrer eigenen Vergangenheit. Denn zeitgleich feierten dort ergraute Veteranen der baden-württembergischen Anti-­AKW-Bewegung ihr „Abschaltfest“. „Wir haben uns unter die gemischt und deren Sekt getrunken“, erzählt Wendland schmunzelnd. „Im Kapuzenpulli und mit meinen kurzen roten Haaren sehe ich ja immer noch so aus, als würde ich dazugehören. Dann habe ich sie eingeladen zu unserer Demo: ‚Ihr seid doch auch für Klimaschutz. Wollt ihr nicht mitmachen? Wir sind eine deutsch-polnische Klimabewegung für Kernkraft.‘ Dann ging es natürlich los. Einer brüllte mir ins Gesicht: ‚Du Mörderin!‘ Das hat mich nicht kaltgelassen. Ich dachte: Da hast du auch mal mitgemacht.“

Technikbegeistert

Wendlands Wandlung erfolgte schleichend, nicht schlagartig. Es gab keinen Vom-Saulus-zum-Paulus-­Moment, die Risse im Fundament ihrer „Atomkraft-­nein-danke“-Überzeugung wuchsen langsam. „Ich war schon immer sehr technikinteressiert, ich wollte verstehen, wie Kernkraftwerke funktionieren“, sagt sie. „Ich wollte die Gegenseite mit Fakten schlagen.“

Nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl studierte sie ein Jahr in der Ukraine. Erst allmählich sei ihr dort klar geworden, dass die Ukrainer, die allen Grund gehabt hätten, aus der Atomkraft auszusteigen, diesen Weg bewusst nicht gingen. „Die hatten trotz allen Leides ein pragmatisches Verhältnis zur Kernkraft“, sagt Wendland. 

Jahre später kam sie zurück und erforschte für ihre kürzlich fertiggestellte Habilitationsschrift zur „Kerntechnischen Moderne“ das Zusammenspiel zwischen Mensch und Technik in einem anderen ukrainischen Atommeiler, rund 300 Kilometer westlich von Tschernobyl. Auch in zwei deutschen Anlagen forschte sie lange als „teilnehmende Beobachterin“. 

Kernkraft als Brückentechnologie

Dort lernte sie die als unbeherrschbare Gefahr verteufelte Technik von innen kennen: die regelmäßigen Prüfungen, die Wartungsarbeiten, die Mittagspausen in der Kantine. „Ich habe verstanden, wie ausgeklügelt und tiefengestaffelt diese Sicherheitsvorkehrungen sind“, sagt Wendland.

Als Angela Merkel im September 2009 vor die Presse trat und das Energiekonzept ihrer zweiten, schwarz-gelben Regierungskoalition vorstellte, war Anna Veronika Wendland zwar noch keine Pro-Kernkraft-Aktivistin, aber die Argumente der Kanzlerin wirkten auf sie schlüssig. In der Nacht zuvor hatten sich die Spitzen von Union und FDP auf eine Laufzeitverlängerung für die deutschen Atomkraftwerke geeinigt. Die letzten Meiler wären demnach im Jahr 2040 abgeschaltet worden. Merkel sagte: „Das ist nicht mehr oder weniger als eine Revolution im Bereich der Energieversorgung.“ Es gebe jetzt einen Fahrplan, um das Zeitalter für erneuerbare Energie möglichst schnell zu erreichen. Kernkraft sei dafür als Brückentechnologie notwendig. Energie in Deutschland bleibe damit bezahlbar. Und sie versprach: „Unsere Energieversorgung wird damit die effizienteste und auch die umweltverträglichste weltweit.“ Gut ein Jahr später verabschiedete der Bundestag die Laufzeitverlängerung – gegen den erbitterten Widerstand der rot-grünen Opposition und der Anti-Atomkraft-Bewegung.

Kehrtwende

Keine fünf Monate darauf änderte die Bundeskanzlerin ihre Meinung radikal und nötigte ihrer Partei eine energiepolitische Kehrtwende auf, die diese bis heute nicht verkraftet hat. Der Auslöser dafür lag 20 Flugstunden von Berlin entfernt. Am 11. März 2011 erschütterte ein schweres Erdbeben den Meeresgrund vor der japanischen Küste. Das Kernkraftwerk Fuku­shima Daiichi wurde überflutet, in drei von sechs Reaktorblöcken kam es zur Kernschmelze. 

Diese verheerende Katastrophe und die anstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg veranlassten Merkel dazu, die Laufzeitverlängerung für die deutschen Kernkraftwerke zunächst auszusetzen und dann zurückzunehmen. Beschlossen wird: Ende 2022 soll der letzte Atommeiler vom Netz. Das gilt bis heute. Und wird, den Planungen der Betreiber und Behörden zufolge, auch so geschehen.

Fatal für Klimaschutz

„Mich hat Merkels Ad-hoc-Entscheidung stutzig gemacht“, sagt die einstige Anti-Atomkraft-Aktivistin Wendland. „Mir war sofort klar: Das wird nicht ohne Konsequenzen für die deutsche Atomkraft bleiben. Aber wieso wurden, ohne eine Unfallanalyse abzuwarten, binnen drei Tagen in Deutschland acht Kernkraftwerke vom Netz genommen? Ohne dass man wusste, was in Fukushima überhaupt passiert war. Das war nicht mehr rational, das war panisch.“ Nach allem, was man inzwischen wisse, sei ein solches Unglück in deutschen Kernkraftwerken nicht möglich. „Hätten Isar-2 oder Grohnde in Fuku­shima gestanden, würden wir diesen Namen heute nicht kennen“, ist Wendland überzeugt.

Sie macht sich nun für eine erneute Laufzeitverlängerung stark, weiß aber, dass es sehr schwierig wird und die Zeit knapp ist. „Meine Befürchtung ist, dass die Kernkraftwerke wie geplant abgeschaltet werden, aber die Kohlekraftwerke dann deutlich länger am Netz bleiben müssen. Denn nur mit Erneuerbaren bekommen wir es in Deutschland nicht hin. Leider wird auch der Widerstand gegen Windkraft vor Ort immer stärker, der Ausbau stockt. Ich fürchte, dass am Ende die Versorgungssicherheit gegen das Klimaziel ausgespielt wird. Keine Regierung wird einen Blackout riskieren“, sagt Wendland. „Für den Klimaschutz ist der deutsche Weg fatal.“

Chiffre „Technologieoffenheit“

Von einem Irrweg spricht Martin Neumann. Der FDP-Bundestagsabgeordnete ist energiepolitischer Sprecher seiner Fraktion und einer der wenigen Parlamentarier, die technischen Sachverstand ins Hohe Haus bringen. Neumann ist Maschinenbauingenieur und Professor für Technische Gebäudeausrüstung an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Wenn er andere Politiker oder auch Journalisten über die Energiewende reden hört, kommt ihm manchmal das Grausen. „Einigen fehlt grundlegendes Wissen über physikalische Zusammenhänge“, sagt Neumann. „Ob jemand weiß, worum es geht, erkenne ich oft daran, ob er den Unterschied zwischen Kilowatt und Kilowattstunde kennt.“ Es ist der Unterschied zwischen Leistung und Energie. Das eine ist die theoretisch mögliche Erzeugungskapazität, das andere die real gelieferte Energiemenge. „Selbst ein 100-Megawatt-Windpark versorgt keinen einzigen Haushalt, wenn kein Wind weht. Denn dann liefert er null Kilowattstunden Strom.“

Der Staat habe als Manager der Energiewende versagt, sagt der aus Brandenburg stammende Liberale. Die Energiekosten sind enorm gestiegen, aber der CO2-Ausstoß wurde bisher kaum gesenkt. „Deutschland befindet sich hier auf einem Irrweg. Wir brauchen dringend einen Neustart.“ Ein Plädoyer für den Erhalt der sechs noch laufenden Kernkraftwerke hält Neumann allerdings nicht. Das Thema ist ein politisches Tabu. Seine Partei, deren Basis eigentlich dafür sehr offen wäre, versteckt sich lieber hinter der Forderung nach „Technologieoffenheit“. Diese Formulierung verwendet auch Neumann, wenn er die seiner Meinung nach drei größten Fehler der deutschen Energiepolitik benennt.

Keine Luftschlösser

„Wir haben uns bei der Energiewende viel zu lange nur mit der Stromerzeugung beschäftigt, ohne das Gesamtsystem im Blick zu haben. Die Folge ist: Es fehlen Netz- und vor allem Speicherkapazitäten“, stellt er fest. „Der zweite große Fehler ist, dass wir uns auf nur zwei bereits bekannte Technologien konzentrieren, Wind­energie und Sonnenenergie, statt technologieoffen an die Sache heranzugehen. Und das dritte Problem ist der nationale Alleingang. Denn die Energiewende lässt sich nur europäisch lösen. Allein schaffen wir es nicht.“

In seinem Wahlkreis bekommt der FDP-Abgeordnete zu spüren, dass die Akzeptanz für die Energiewende sinkt. Das sei aber kein spezifisch ostdeutsches Problem. Im Gegenteil: Die Menschen im Osten seien offensichtlich veränderungsbereiter als die im Westen, sagt Neumann. „Denn sie haben bereits einen gewaltigen Transformationsprozess hinter sich, jetzt rollt der nächste auf sie zu. Man darf ihnen aber keine Luftschlösser bauen, besonders nicht in den ehemaligen Braunkohlerevieren – die kennen den Unterschied zwischen Kilowatt und Kilowattstunde.“

Neumanns Kritik am staatlichen Missmanagement der Energiewende teilt auch der Präsident des Bundesrechnungshofs, Kay Scheller. Dieses Frühjahr hat er einen Sonderbericht dazu vorgelegt. Der Fokus lag auf der Versorgungssicherheit, also der Frage, wie stabil das deutsche Stromnetz nach dem Atom- und während des Kohleausstiegs bleibt. Das Ergebnis klingt alarmierend. „Ob Bürger und Wirtschaft künftig verlässlich mit Strom versorgt werden, unterliegt Risiken, die die Bundesregierung nicht vollständig im Blick hat“, warf Scheller dem Kabinett Merkel vor. Hinzu kämen die enormen Kosten des Umbauprojekts: „Bedenklich stimmen mich die hohen Strompreise für Privathaushalte und für kleinere und mittlere Unternehmen. Das setzt die Akzeptanz des Generationenprojekts aufs Spiel. Und gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.“

Schleichende Deindustrialisierung

Tatsächlich liegen die Strompreise der Bundesrepublik inzwischen deutlich über denen konkurrierender Industrieländer. Sie klettern durch Steuern und Energiewende-Umlagen immer weiter nach oben. Das beeinflusst nicht nur Standortentscheidungen von Großkonzernen, sondern auch die langfristigen Planungen deutscher Mittelständler, dem Herzstück der deutschen Wirtschaft. Denn die sind in den beiden Jahrzehnten der Globalisierung selbst zu kleinen Konzernen geworden, haben neben ihrem Stammsitz am Heimatort oft eigene Niederlassungen und Fabriken auf mehreren Kontinenten. 

Wenn die Eigentümer und Manager dieser Mittelständler vor der Frage stehen, wo sie in neue zukunftsfähige Produkte investieren, sprechen längst nicht mehr nur die hohen Lohnkosten gegen den Produktionsstandort Deutschland. Auch die Zuverlässigkeit und Bezahlbarkeit des Stromes spielen eine entscheidende Rolle. Und das könnte, wenn es so weitergeht, zu jener schleichenden Abwanderung führen, vor der manche Ökonomen warnen. Deutschlands Deindustrialisierung würde dann nicht Knall auf Fall geschehen, sondern langsam und leise.

Grünes Wirtschaftswunder

Andere Volkswirtschaftler, allen voran Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, werden indes nicht müde, von den ökonomischen Chancen der Energiewende zu reden. Sie bauen auf ein neues, diesmal grünes Wirtschaftswunder. Doch das Schicksal der deutschen Fotovoltaik-Industrie mahnt dazu, solche vollmundigen Verheißungen mit Vorsicht zu genießen. Solarzellen werden inzwischen fast ausschließlich in Asien produziert. In Deutschland war es schlicht zu teuer.

Um die Zukunft des Wirtschaftsstandorts machen sich auch die Mitglieder der Industrieallianz für regionale Energiesicherheit in Nordrhein-Westfalen Sorgen. Rund 100 Unternehmen sind inzwischen dabei. Initiator war Kurt Vetten. Er ist Elektroin­genieur, Stromnetzspezialist und stellvertretender Vorsitzender des Bundesverbands für den Schutz Kritischer Infrastrukturen. ­Vetten ist alles andere als ein Gegner der Energiewende. Im Gegenteil: Er verdient damit sein Geld. ­Vetters Unternehmen, SME Management in Heppendorf, berät und begleitet Energieversorger, Netzbetreiber, Kommunen und Industriekunden beim Umbau der Stromversorgung. 

Flickerschäden

„Über viele Jahrzehnte war es in Deutschland selbstverständlich, dass zu jeder Zeit genug verfügbare elektrische Leistung bereitstand. Das ist in Zukunft nicht mehr so selbstverständlich“, sagt Vetten. „Die Versorgungsqualität verändert sich jetzt schon. Flächendeckende Blackouts gibt es bisher nicht, kleinere, regional begrenzte hingegen schon.“ Hinzu komme die „Unruhe“ im Netz, die entstehe, weil große systemrelevante Kraftwerke zunehmend fehlen und der stark schwankende Wind- und Sonnenstrom dominiere. „Dann treten unter anderem sogenannte Flicker auf. Das sind kurze Spannungsschwankungen, die in Privathaushalten meistens ungefährlich sind. Aber im Gewerbe und in der Industrie reagieren die Maschinen darauf sehr empfindlich“, erklärt der Elektrotechniker. Ein Viertel der Produktionsbetriebe in Deutschland hätte dieses Problem inzwischen mehrmals im Jahr.

Einer davon ist die Bäckerei Boveleth, die ihr halb gebackenes Schwarzbrot wegschmeißen muss, wenn die Flicker den energieeffizienten Gasbackofen in die Knie zwingen.

 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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