Die Empörungsgesellschaft - Rasender Stillstand

Längst nicht nur über die missglückte Satire eines Kinderliedes empören sich Menschen tagelang. Aber die Kontroverse ist ein Indiz für eine alarmierende Entwicklung. Eine Gesellschaft, die sich im Besitz der Wahrheit wähnt, kreist nur noch um sich selbst

Wenn Menschen nur noch um sich selber kreisen, wird Statik dynamisch / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Manchmal sind es tatsächlich Petitessen, an denen sich der Zustand einer Gesellschaft am besten ablesen lässt. Zum Beispiel die alberne Darbietung eines Kinderchores: vorgeblich naive Frechheiten, Kindern politisch korrekt von Erwachsenen in den Mund gelegt. Das ist unangenehm und peinlich. Ein wirklicher Aufreger ist es aber nicht. Und dennoch baut sich eine Empörungswelle auf, die wiederum Gegenempörung provoziert. Und so kreist zumindest der medial aktive Teil unserer Gesellschaft dauerempört um sich selbst. Auch so kann man Feiertage verbringen.

In seinem zentralen Werk „Das wilde Denken“ unterscheidet der Ethnologe Claude Levi-Strauss zwischen kalten und heißen Gesellschaften. Kalte und heiße Gesellschaften unterscheiden sich vor allem hinsichtlich ihrer Haltung gegenüber dem kulturellen und technischen Wandel. Heiße Gesellschaften sind anpassungswillig und veränderungsbereit. Sie sind flexibel, innovativ und dynamisch. Entsprechend unterwerfen sie sich ihre Umwelt, erzeugen Wohlstand, soziale Ungleichheit und Differenzen. 

Heißer Westen, kalter Osten 

Kalte Gesellschaften hingegen sind statisch, strukturkonservativ, halten an bewährten Kategorien fest und haben eine normative Erwartungshaltung: Die Welt hat so zu sein, wie sie es von ihr erwartet. Kalte Gesellschaften pflegen ihren moralischen Dünkel.

Anfang der 60er Jahre, als Levi-Strauss die Unterscheidung von kalten und heißen Gesellschaften in die Debatte einführte, war klar, dass der Westen der Prototyp heißer Gesellschaften war: fortschrittlich, hoch differenziert, heterogen, expansiv und zukunftsgläubig. Diesem heißen Westen standen die kalten Gesellschaften Asiens und Afrikas gegenüber: gefangen in Ritualen, an Traditionen beharrlich festhaltend, aufgrund unveränderbarer sozialer Hierarchien jeder Entwicklung beraubt, an uralten Normsystemen festhaltend.

Die Dynamik ist statisch geworden

Das hat sich in der Zwischenzeit bekanntlich geändert – zumindest was Asien angeht. Die fernöstlichen Gesellschaften, allen voran China, stehen nunmehr für Innovationsbegeisterung, Materialismus, Fortschritt, Veränderungen und Anpassungsbereitschaft.

Ganz anders der Westen, insbesondere Deutschland. Hier hat man sich in etwas verstrickt, was mit dem Heiß-Kalt-Vokabular von Levi-Strauss nicht mehr ausreichend beschrieben werden kann. Zwar huldigen die Gesellschaften des Westens mehr denn je dem Fortschritt, der Diversität, dem Heterogenen, dem Unsteten. Doch dieses Innovationsgehabe erweist sich zunehmend als Fassade. Der Glaube an das permanente Einreißen überlieferter Denkmuster ist selbst zum Denkmuster erstarrt. Die Dynamik ist statisch geworden. Die Fortschrittsrhetorik altbacken. Das Heterogene homogene Norm.

Empörung über Nebensächlichkeiten 

In den westlichen Gesellschaften ist etwas passiert, was thermophysikalisch unmöglich ist: die Hitze ist gefroren und erstarrt. Der französische Philosoph Paul Virilio hat diesen Zustand „rasenden Stillstand“ genannt. Alles scheint beschleunigt und differenziert, doch tatsächlich herrscht Statik und Gleichförmigkeit. Damit einher geht ein moralisches Überlegenheitsgefühl, das viele im Westen doppelt blind macht. Es entsteht ein Gefühl normativer Überlegenheit, das zum Korsett wird. Die Fortschrittsideologie selbst wird reaktionär.

Ermöglicht wurde diese Erstarrung westlicher Gesellschaften paradoxerweise durch deren Pluralisierung: Da die Gesellschaften in ihrem Innern immer heterogener werden, entsteht das Bedürfnis nach einem normativen Rahmen, der Orientierung gibt. Doch dieser Wunsch nach einheitlichen normativen Vorgaben kollidiert mit der Verschiedenartigkeit moralischer Vorstellungen. Ein Ausgleich wird unmöglich. Die Folge: Die unterschiedlichen normativen Vorstellungen verhaken zu einem rasenden Stillstand und die Gesellschaft kocht wegen Nebensächlichkeiten hoch: der Äußerung eines Kabarettisten, einem Kinderchor, der Bemerkung einer Showmasterin. Die Anlässe sind nichtig. Doch weil die ehemals dynamischen Gesellschaften des Westens jede Dynamik verloren haben, arbeiteten sie sich symbolisch an Kontroversen ab, bei denen es angeblich um das Ganze geht.

Und so dreht sich unsere Gesellschaft zunehmend autistisch um sich selbst, immer noch in dem Glauben, zumindest moralischer Goldstandard zu sein, während andere es übernommen haben, die Welt zu gestalten.

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