Dysfunktionale Hauptstadt - Dit is Berlin

Berlin wählt neu – schon wieder. Aber auch der neue Senat steht vor einer dysfunktionalen Hauptstadt, die manche schon unregierbar nennen. Die Stadt braucht grundsätzliche Veränderungen – in ihrem politischen System und in der politischen Kultur.

Die Berliner Gropiusstadt im Bezirk Neukölln gilt als einer der Problemkieze der Stadt / Anja Lehmann
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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An der Decke hängt eine Diskokugel, schwarze Vorhänge rechts und links markieren die Bühne. Drei Stuhlreihen füllen sich langsam an diesem nasskalten Januartag, draußen wird es allmählich dunkel. Vorne, leicht erhöht, nimmt Sozialdemokrat Thomas Blesing Platz. Der Veteran der Bezirkspolitik, seit 40 Jahren im Geschäft, schaut sich um, verschafft sich einen Überblick. Heute ist er der Vorsitzende. Im Kleinen Saal im Gemeinschaftshaus des Neuköllner Ortsteils Gropiusstadt tagt an diesem Abend der Ausschuss für Ordnung der Bezirksverordnetenversammlung, im Nachbarraum probt das Kinderballett. 

Ganz Berlin, ganz Deutschland diskutiert zum Jahresanfang die Vorfälle der Silvesternacht, die brutalen Attacken auf Feuerwehrleute und Rettungskräfte ein paar Autominuten entfernt von hier. Einige werden in der Sitzung unter der stummen Diskokugel das Thema ansprechen wollen. Doch die Runde ist sich in ihrem Urteil weitgehend einig: nicht zuständig. Nicht zuständig! Der Berliner Misere Pudels Kern wird in dem kleinen Stück auf dieser politischen Minibühne zum Besten gegeben. Für alles Wesentliche sind die Neuköllner Bezirksverordneten im Ausschuss für Ordnung nicht zuständig, alles Unwesentliche wird breit diskutiert.

Wer regiert ab Februar?

Die Hauptdarstellerin in dieser Nachmittagsvorstellung ist die Neuköllner Ordnungsstadträtin Sarah Nagel von der Linkspartei. Die gebürtige Oberhausenerin hat in Bochum Ostasiatische Wirtschaft und Politik studiert, es folgten eine abgebrochene Promotion in Frankfurt am Main und fünf Jahre in der Bundesgeschäftsstelle der Linkspartei in Berlin. Seit 2021 ist sie Bezirksstadträtin für Ordnung und damit Behördenleiterin des Neuköllner Ordnungsamts. Ende des Jahres hatte die 37-Jährige ihren Ordnungshütern untersagt, sich weiter mit Polizei und Zoll an Razzien in Restaurants des Clan-Milieus zu beteiligen, was im Amt und berlinweit für Kopfschütteln sorgte. An diesem Abend erklärt Nagel ihren Ausschussmitgliedern, warum sie derartige Razzien auch weiter für „strukturell diskriminierend“ halte.

 

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Mitte Februar wird in Berlin gewählt, schon wieder. Es ist eine vom Gericht angeordnete Wiederholung nach etwas mehr als einem Jahr, weil Chaos herrschte an den Wahlurnen im September 2021. Knapp 150 Abgeordnete müssen neu bestimmt werden und ein neuer Senat, aber auch 660 Verordnete in den Bezirksversammlungen, die den jeweiligen Bezirksbürgermeister und die Bezirksstadträte wählen. Berlin ist … kompliziert.

Wer wird die Stadt nach dem 12. Februar regieren? Grüne, SPD und CDU liegen in etwa gleichauf, ein Wahlsieg der Grünen ist aber nicht zu erwarten: Die Erfahrung der letzten Wahlen zeigt, dass sie am Wahltag deutlich schwächer als in den Umfragen abschneiden. Eine Fortsetzung der rot-grün-roten Koalition, die Berlin seit 2016 regiert, ist dennoch wahrscheinlich: Grüne und Linke signalisieren, dass sie bereitstehen. Das dürfte selbst für den Fall eintreten, dass die CDU knapp stärkste Partei wird: Denn in der Hauptstadt haben die weit links stehenden Grünen wenig Schnittmengen mit den biederen Christdemokraten. Am Ende könnte es die (noch) Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey in der Hand haben, die sich alle Optionen offenhält: Die Sozialdemokratin könnte in einer Deutschlandkoalition mit FDP und CDU im Amt bleiben, für die FDP-Spitzenkandidat Sebastian Czaja trommelt.

Die Bezirke sind das Problem

Aber wie relevant ist es überhaupt, wer die Stadt regiert? Seit 1951 wird Berlin von Sozialdemokraten geführt, mit wenigen Unterbrechungen durch die CDU. Skandale gab es immer wieder. Liegt der Fehler – unabhängig von der Parteifarbe des oder der Regierenden – im System? Überall kracht es zuweilen, auch in Hamburg oder Köln kommt es mal zu Chaos. Aber nirgends so wie in der Hauptstadt, wo weder Flughäfen rechtzeitig gebaut noch Wahlen vernünftig organisiert werden können, wo die Sanierung einer Schultoilette zum jahrelangen Kompetenzgerangel wird. Wo es sechs Wochen dauert, um eine Auskunft beim Geburtenregister zu bekommen und 42 Tage für die Steuernummer. Das Lästern über Berlin – der Bayer Markus Söder spricht gerne vom „failed state“ Berlin – ist bundesweiter Volkssport. Kein Wunder: Jeder Berliner wird über den Finanzausgleich mit knapp 1000 Euro von den restlichen Bundesbürgern subventioniert, 3,6 Milliarden waren das 2021.

Gleichzeitig bleibt Berlin populär: Über das letzte Jahrzehnt wächst die Stadt beständig, 2040 soll sie vier Millionen Einwohner haben. Aber gerade beim Bau neuer Wohnungen scheitert die Stadt Jahr um Jahr: Mit knapp 100.000 Wohnungen hat Berlin derzeit deutschlandweit das größte Defizit, wie eine Studie des Großmaklers Colliers Ende 2022 zeigt. Wo liegen die Ursachen?

Auf den ersten Blick ist die Erkenntnis verblüffend einfach. Berlins Scheitern hat einen Namen: die Bezirke. Keine andere deutsche Stadt ist so ungewöhnlich aufgebaut, seit aus dem eigentlichen Berlin und umliegenden Städten wie Charlottenburg und Neukölln unter Oberbürgermeister Adolf Wermuth 1920 Groß-Berlin geformt wurde, damals die drittgrößte Stadt der Welt nach London und New York. 

Bezirksausschusssitzung mit dem Vorsitzenden Thomas Blesing (SPD) und Stadträtin Sarah Nagel (Linke)

Und gerade damit sind wir, zurück im Kleinen Saal in der Neuköllner Gropiusstadt, im Zentrum des Leidens. Dort sitzen Bezirksverordnete, die anders als Mitglieder von Stadträten keine legislative Gewalt haben. Sie beraten über Dinge, über die sie nicht entscheiden dürfen. Der Verwaltung stehen Laien wie Bezirksstadträtin Sarah Nagel vor, die keine fachliche Kompetenz für den Posten mitbringen. „Formal sind Abgeordnetenhaus und Senat von Berlin zugleich Parlament und Regierung für das Land und die Kommune“, erklärt der Berliner Historiker Felix Escher, der seit Jahrzehnten über Stadtverwaltungen forscht. Die Bezirksverordnetenversammlungen spielen nur Politik, und die Verwaltung spielt nur Verwaltung. Eigentlich ist immer der Senat zuständig, derzeit mit Franziska Giffey an der Spitze. In die Bezirke werde die Verwaltung „nur delegiert“, so Escher, „was aber in der Praxis nicht richtig funktioniert“. 

Berliner Behörden Pingpong

In der Praxis verhalten sich die zwölf Bezirke mit Bürgermeistern, Bezirksstadträten und „Parlamenten“ so, als wäre Berlin in sich ein föderaler Staat. Der Senat hat kein Durchgriffsrecht, und doch muss er Geld an die Bezirke verteilen, ohne den Zuweisungen ein klares Etikett anheften zu können. Ob beim Bau von Schulen, Flüchtlingsheimen oder Straßen – alle Ebenen wollen mitreden und -bestimmen, was jedes Vorhaben in die Länge zieht oder sogar scheitern lässt.

Berlins Verwaltungsmisere ist auch im Wahlkampf angekommen. Die SPD kann sich sogar Verfassungsänderungen vorstellen, Giffey plädiert für das sogenannte „politische Bezirksamt“, dann würde nur noch die jeweilige bezirkliche „Regierungskoalition“ mit Ämtern bedacht, nicht mehr alle Parteien. Für die SPD hätte das einen gewissen Charme: Die Partei ist in den Bezirken stark vertreten, stellt fünf der zwölf Bürgermeister. Doch gerade die Politisierung der Verwaltung sieht Historiker Escher als Problem. Sie sei ein wesentlicher Grund für das „Berliner Behörden-Pingpong“. Dadurch würden Fragen von Organisation und Verwaltung zwischen den Ebenen zu Fragen von parteilicher und ideologischer Profilierung.

Die Verwahrlosung der Stadt ist ein trauriges Markenzeichen Berlins. Obdachlose müssen sich überall,
wie hier in Zehlendorf, eine notdürftige Bleibe suchen

Den radikalsten Vorschlag macht die FDP, die sich im politischen System der Hauptstadt als frische Kraft zu präsentieren versucht: Seit 34 Jahren wartet sie in der Hauptstadt auf eine Regierungsbeteiligung. Sollten sie es diesmal schaffen, wollen die Liberalen mit Spitzenkandidat Sebastian Czaja die 60 gut bezahlten Bezirksstadträte abschaffen. „Niemand will richtig entscheiden, niemand will Verantwortung übernehmen und lieber dem anderen politisch die Verantwortung in die Schuhe schieben“, erklärt Czaja. „Heute will der gewählte Bezirksstadtrat als Chef der Verwaltung im Bezirk oft im Verhältnis gegenüber der Senatsverwaltung eben nicht die Verantwortung tragen. Das lähmt und bremst enorm“, erklärt Czaja. „Das führt dazu, dass wir vier verschiedene Verwaltungseinheiten haben, um ein Berliner Schulklo zu sanieren.“ 

„Derzeit unregierbar“

Stattdessen sollen die Bezirksämter „Außenstellen des Senats“ werden, Servicestellen für die Bürger. Doch noch fehlen der FDP Unterstützer. CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner will zwar „am großen Rad“ drehen, konkret legt er sich aber nicht fest. Grünen-­Frontfrau Bettina Jarasch hat kein eigenes Konzept, aber „nie im Leben“ will sie die FDP-Vorschläge umsetzen. Für grundlegende Veränderungen der Verfassung von 1920 wäre aber eine Zweidrittelmehrheit im Parlament notwendig – weit mehr, als eine Regierungskoalition auf sich vereinen kann.

„Berlin ist in der derzeitigen Konstruktion eigentlich unregierbar“, sagt Danny Freymark. Seit 2011 sitzt der heute 39-Jährige für die CDU im Berliner Abgeordnetenhaus. Er hat zuletzt für seine Partei in Berlin-Lichtenberg den Wahlkreis direkt gewonnen. Die Bezirke seien zu schwach, um Probleme zu lösen, und der Senat zu abgehoben und nehme seine Kontrollfunktion nicht wahr. „Als Abgeordneter wird man zu oft behandelt wie ein Depp“, so Freymark.

Eine Schule in Berlin ist berühmt für ihre herausfallenden Fenster. Öffnen ist nicht gestattet,
Verletzungsgefahr! Für die Sanierung von Gebäuden sind in Berlin
zu viele oder gar keiner zuständig 

Die fehlende Bereitschaft der Parteien, das politische System radikal zu reformieren, kommt auch daher, dass das bestehende System Macht und Ressourcen sichert. Das beginnt mit den zwölf Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) mit je 55 Mitgliedern, von denen jedes monatlich knapp 1000 Euro Aufwandsentschädigung plus Zulagen erhält. Jede Partei, die bei den Bezirkswahlen mindestens 15 Prozent der Stimmen bekommt, kann zudem einen Bezirksstadtrat stellen. In Berlin gibt es deshalb sogar AfD-Bezirksstadträte. Das bringt ein Stück Macht – und einen mit mindestens 8000 Euro bezahlten Posten für ein Parteimitglied. Auch Berlins Parlament ist aufgebläht: Bei der zurückliegenden Wahl kamen 147 Abgeordnete ins Abgeordnetenhaus, fast so viele wie im Landtag von Baden-Württemberg – das Bundesland hat aber dreimal so viele Einwohner. Um die Belange des Flächenlands Schleswig-Holstein, etwas kleiner als Berlin, kümmern sich 69 Abgeordnete.

Unkoordinierte Baupolitik

Ulrich Nußbaum hat den Vergleich: Von 2003 an war der parteilose Unternehmer für vier Jahre Finanzsenator in Bremen, 2009 holte ihn Klaus Wowereit als Nachfolger von Thilo Sarrazin in gleicher Verwendung nach Berlin. Die letzten Jahre arbeitete der heute 65-Jährige als Staatssekretär unter Wirtschaftsminister Peter Altmaier. „Allem voran will ich sagen, dass die elementaren Dinge in Berlin doch gut funktionieren“, sagt er in einem Café mit Blick auf den Deutschen Dom am Gendarmenmarkt, wo sich Berlin von seiner schönsten Seite zeigt. Nußbaum meint die Wasser- und Stromversorgung, den öffentlichen Nahverkehr, die Stadtreinigung. Immerhin.

Bereiche, die spürbar für jeden Berliner nicht dazugehören, sind Bildung und Bauen: Allein in diesem Schuljahr fehlen knapp 1000 Lehrer – und das, obwohl inzwischen Quer-, Seiten- und sonstige Einsteiger an den Schulen unterrichten. Bei den Kitas sieht es nicht besser aus. Legendär sind zudem die Berliner Baustellen: Monatelang bleiben Straßen gesperrt, obwohl hinter den Bauzäunen nichts passiert; anderswo werden Straßen mehrfach aufgerissen und wieder zugepflastert, weil die Unternehmen sich nicht koordinieren. Nußbaum erinnert sich, wie er die Unternehmen, die die Straßen aufreißen, um ihre Gas-, Wasser- oder Telekommunikationsleitungen zu verlegen, dazu bringen wollte, sich regelmäßig über die anstehenden Maßnamen auszutauschen, um die Zahl der Baustellen zu reduzieren. Mehr als ein Treffen kam nicht heraus.

Nußbaum sieht auch ein anderes Verhältnis der Bürger zur Stadt als in Hamburg oder Bremen. Hier, in der Bundeshauptstadt, seien die Erwartungen an den Staat immer groß. „In Berlin erwartet man, dass die Mülltonne aus dem Haus geholt und der Müll auf den Grünflächen von der BSR weggeräumt wird, dass es billige Wohnungen, aber keinen Baulärm vor der Haustür gibt, und dass möglichst alles kostenlos zur Verfügung gestellt wird.“ 

17.000 fehlende Kita-Plätze

Ein Grund dafür ist die Geschichte der Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg: Der Ostteil wurde von der DDR gepampert, um die Überlegenheit des sozialistischen Staates unter Beweis zu stellen; die Bewohner des Westteils konnten sich – als Entschädigung für das Leben in der „Frontstadt“ – über großzügige Subventionen ihres Alltags freuen. Der Berliner – ein von west- wie ostdeutschem Sozialismus verwöhntes Wesen?
 

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„Schönreden und verniedlichen ist die Marke der Grünen“


Dazu passt, dass nach einem Beschluss des rot-rot-grünen Senats der Kita-Besuch in der Hauptstadt seit 2018 kostenlos ist. Nußbaum erinnert sich, dass die Idee schon zu seiner Zeit diskutiert wurde. Er sagte den Politikern: „Die Leute werden sich wünschen, dass wir stattdessen das Geld einsetzen, um die Kitas auszubauen und zu verbessern.“  Die Kita-Gebühren hätten sozial gerecht nach Einkommen gestaffelt bleiben können, so dass Besserverdienende weiterhin einen Beitrag leisten. Das Gegenargument aus der Politik: Das könne man nur einheitlich regeln, weil sonst ja alle wüssten, wer bezahlt und wer zu wenig Geld habe. „Für mich ist das ein Scheinargument und ein Beleg dafür, dass hier die einfache Lösung mit Geld gewählt wurde. Weil es natürlich schwieriger ist, Strukturen zu verändern“, sagt Nußbaum. Heute fehlen in der Stadt laut einer Bertelsmann-Studie 17.000 Kita-Plätze – und besonders junge Eltern fliehen in andere Städte oder ins Brandenburger Umland, weil sie einfach keinen Kita-Platz für ihr Kind bekommen.

Spürbar fehlt der Stadt ein selbstbewusstes Bürgertum wie in den Stadtstaaten Hamburg oder Bremen. „In Hamburg oder Bremen gibt es starke Kaufmannschaften. Gegen die kann man langfristig keine Politik machen“, sagt Nußbaum. Nicht zufällig steht das Gebäude der Handelskammer in Bremen in direkter Nachbarschaft zu Rathaus und Bürgerschaft. In Berlin liegt vor dem Roten Rathaus eine weite Fläche, mitten darauf ein Denkmal für Karl Marx und Friedrich Engels. „In Berlin ist die Wirtschaft oft unzufrieden, positioniert sich aber nicht stark genug gegenüber der Politik“, sagt Nußbaum. 

Bröckelnder Putz im Rathaus

Über zu wenig Bürgerbeteiligung kann sich Sören Benn (Die Linke) nicht beschweren. Der Bürgermeister des Bezirks Pankow mit mehr als 400.000 Einwohnern hatte in der BVV-Versammlung zuletzt Bürger mit mehreren Dutzend bellenden Hunden zu Gast, weil ein Hundeauslaufgebiet im Bezirk geschlossen werden soll. Aber Benn ist überzeugt, dass die politische Vertretung in den Bezirken wichtig sei: Natürlich sei die BVV keine Legislative, aber eben wichtig als Transmissionsriemen zwischen Bürgern und Politik. „Wer eine partizipative Stadt will, der braucht solche Strukturen“, sagt Benn.

Seit 2016 ist der 54-Jährige im Amt, und wer ihn in seinem Rathaus besucht, der bekommt gleich einen Eindruck von den Problemen, vor denen Berlin steht: Der neogotische Klinkerbau empfängt mit den Worten „Gott mit uns“, was angesichts der Berliner Misere eher verzweifelt klingt – zumindest anders als vor 120 Jahren bei der stolzen Eröffnung des Rathauses. Das prächtige Treppenhaus ist renoviert, aber wenn man im zweiten Stock in den Flur gerät, wo Benns Büro liegt, fühlt man sich in den Ostblock der 1990er Jahre zurückversetzt: Mintgrüne Farbe blättert von den Wänden, rund um die Türrahmen bröckelt der Putz, Leitungen sind notdürftig über Putz verlegt. „Wenn Beamte aus dem Senat zu uns kommen, dann fallen sie zuweilen vom Glauben ab“, sagt Benn. Klar würde er gerne renovieren, aber jedes Jahr bekommt er vom Senat nur einen Bruchteil der nötigen Mittel zugesprochen. So bleibt die Arbeit Stückwerk.

Anderswo wäre er Oberbürgermeister. In
Berlin-Pankow mit seinen 400.000 Einwohnern
ist Sören Benn (Linke) lediglich
Bezirksbürgermeister

Stattdessen wollen sich die Bezirksfürsten und -fürstinnen gerne für sehr kleinteilige Erfolge feiern lassen: Die grüne Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg präsentierte Ende des Jahres stolz das Bild einer öffentlichen Toilette am Brennpunkt Kottbusser Tor, welche die Bürger seit fünf Jahren gefordert hätten – und die für 56.000 Euro nun realisiert worden sei. Eine Woche später waren zwei der drei ­Toiletten schon nicht mehr benutzbar.

Berliner Scheinargumente

Auch der Linken-Politiker Benn sieht das ungeklärte Verhältnis zwischen Senats- und Bezirksverwaltung als Grundübel. Es gebe zu viele Teilverantwortlichkeiten: „Keiner ist ganz verantwortlich, alle nur ein bisschen.“ Entsprechend zäh seien die Prozesse. Er macht das deutlich am Bau einer neuen Schule auf einem Sportgelände: Für die Umwidmung stellte er den Antrag bei der zuständigen Senatsverwaltung, für dessen Bearbeitung diese elf Monate benötigte. Von dort ging er in den Sport­ausschuss des Parlaments, dann in den Hauptausschuss, dann zur Abstimmung ins Plenum. Und all die Zeit konnte er mit der Planung der Grundschule nicht beginnen. „Kaskadenartige Entscheidungswege“ nennt Benn das. Und wäre sofort bereit, das zu verändern. 

Seit 2016 war der Bürgermeister Mitglied einer vom Senat breit angelegten Arbeitsgruppe, die Reformvorschläge erarbeitete. Mit Giffeys Amtsantritt im vorletzten Jahr wurde der zuständige Staatssekretär ausgewechselt, seitdem liegt die Arbeit auf Eis: der nächste in einer langen Reihe gescheiterter Verwaltungsreformen. 

Ist es den Berliner Politikern am Ende vielleicht sogar von Nutzen, sich hinter dem Argument der Unregierbarkeit zu verstecken? Bei Giffeys Vorgänger Michael Müller (SPD) kann man diesen Eindruck gewinnen. Gerade hat er dem Spiegel erzählt, wie er über Jahre für das Abschalten einer Laterne vor dem Roten Rathaus gekämpft habe, weil diese Tag und Nacht brannte – und scheiterte. „Diese Laterne ist ein ewiges Thema. Die wird noch brennen, wenn wir beide längst Geschichte sind“, erklärte Müller dem Journalisten. Kapitulation pur: Die Stadt ist unregierbar, Schulterzucken, kann ich auch nüscht machen.

Ex-Finanzsenator Nußbaum ärgert sich, dass die Verantwortlichen sich oft hinter etwas verstecken. Ein Auslaufmodell ist inzwischen zwar die Behauptung, die Stadt leide noch unter den Folgen der Teilung. Immer noch in Mode ist der Topos, die Stadt sei arm und könne sich deswegen dies oder jenes nicht leisten.  „Das hat so nie gestimmt“, sagt Nussbaum, der die Finanzen der Stadt regelte, als Berlin wegen des hohen Schuldenbergs zwangsweise unter der Finanzaufsicht des Bundes stand. „Es war oft keine Frage des Geldes, dass wichtige Projekte wie Wohnungs- und Schulbau oder der ­ÖPNV-Ausbau nicht vorankamen, sondern des Umsetzungsvermögens und des Willens, sich mit effizienten Modellen auseinanderzusetzen“, sagt Nußbaum. Und ja, das Verstecken hinter dem Argument „Wir haben kein Geld“ sei typisch Berlin, das habe er in Bremen so nicht erlebt.

Auch das politische Personal in Berlin unterscheidet sich von anderen Bundesländern. Das gilt unabhängig von der Parteifarbe, aber ein herausragendes Beispiel dafür ist die Neuköllner Bezirksstadträtin Nagel, die plötzlich Herrin über mehrere Dutzend Beamte des Ordnungsamts wurde. Qualifikation? Zweitrangig.

Ein Mekka für Schmalspur-Karrieristen

Schlagzeilen machte zuletzt die Abwahl des grünen Bezirksbürgermeisters von Berlin-Mitte, Stephan von Dassel: Der hatte das Vertrauen – auch seiner eigenen Partei – verspielt, weil für eine Leitungsposition im Bezirksamt ein Mitglied des Grünen-Kreisvorstands ausgewählt wurde – und von Dassel dem unterlegenen Kandidaten eine finanzielle Entschädigung in Aussicht gestellt hatte, damit dieser nicht gegen die Entscheidung klagte. „Politik in Berlin zieht andere Personen an, weil es auch eine Karrierechance ist“, sagt Nußbaum. Anders als in einem Flächenland, wo man mit viel Aufwand durch seinen Wahlkreis tingeln muss, kann man in Berlin mit relativ geringem Aufwand was werden. 

Im Kleinen Saal in der Gropiusstadt moderiert Sozialdemokrat Blesing nach zweistündiger Diskussion die Sitzung behutsam dem Ende entgegen. Zuvor hatte noch ein Antrag zur Debatte gestanden. Die CDU hatte die „Beschluss­empfehlung“ eingebracht, die SPD hatte Änderungswünsche, Grüne und Liberale waren einverstanden. Schließlich haben alle gegen die Linke gestimmt. „Verbundeinsätze weiterhin mit dem Ordnungsamt Neukölln durchführen“, ist das Papier überschrieben. Darin steht: „Das Bezirksamt arbeitet auch weiterhin aktiv mit Polizei und Staatsanwaltschaft zusammen, um die Bekämpfung der organisierten Kriminalität zu unterstützen.“ 

Wer hätte gedacht, dass es dazu eines Beschlusses bedarf?

 

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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