Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
()
Die Partei der Verweigerer

Die SPD behauptet, die Ergebnisse von einst verfehle sie wegen der vielen Nichtwähler. Aber was würde passieren, wenn Nichtwähler doch wählten? Wer würde tatsächlich profitieren? Eine Analyse

Die zumeist größte Wählergruppe ist den Politikern immer noch ein großes Mysterium: die Partei der Nichtwähler, die bei Bundestagswahlen zuletzt über 20, bei Landtags- und Europawahlen auch mal über 50 Prozent erreicht – und damit Wahlen entscheidet. Dennoch spielen sie im Wahlkampf keine Rolle. Denn so genau weiß niemand, was Nichtwähler motiviert.
Nichtwähler sind nicht einfach nur Nichtwähler. Oft sind sie frustrierte, manchmal politisch besonders interessierte Wähler. Wir analysieren rationale, antiautoritäre und Protestwähler. Zumeist sind sie besonders desinteressiert, mitunter wählen sie nicht, weil sie mit ihrer Stimme doch nichts bewegen können. Und dann gibt es noch die „unechten“, weil nicht erfassbaren Nichtwähler. Die krank sind oder verzogen, ausgewandert, im Langzeit­urlaub oder einfach nicht gemeldet.
Nichtwähler verweigern im Geheimen oder posaunen ihre Haltung in die Öffentlichkeit. Sie sind stark politikinteressiert – oder wissen noch nicht einmal, dass gewählt wird. Sie passen in keine Schablone! Wer sie gewinnen will, muss zielgruppenorientiert viele Wege gehen.
Der Nichtwähler ist das unbekannte Wesen der politischen Forschung. Er kann Wahlen entscheiden. Vor allem, wenn den Parteien die Mobilisierung ihrer Anhänger misslingt.
Die imaginäre Partei der Nichtwähler erhält immer breiteren Zuspruch: Im Jahr 1972 betrug die Wahlbeteiligung 90,8 Prozent, 2005 war sie auf 77,7 Prozent gesunken. An der Europawahl beteiligten sich magere 43 Prozent, und der Landtag in Sachsen-Anhalt wird gerade noch von 44 Prozent Wählern legitimiert.
Hilfestellung bei der Analyse des "Ichs" verlustiger Wähler kann die simple Frage liefern: Was würde passieren, wenn alle Nichtwähler am 27. September wählen würden?
Dann würden – in Maßen – SPD, FDP und Grüne profitieren: 47 Prozent der Wahlabstinenzler könnten sich vorstellen, sozialdemokratisch zu wählen, nur 36 Prozent die Union.
Zumindest aktuell; denn auch Nichtwähler sind volatil und entscheiden spontan: Von den 27 Prozent Deutschen, die Anfang August nicht wählen wollten, sind etwa 60 Prozent auch 2005 nicht zur Bundestagswahl gegangen. Mehr als jeder Dritte stimmt dagegen ab: Jeweils neun Prozent der damaligen Verweigerer würden heute Union und SPD wählen, sechs die Grünen, jeweils fünf Prozent FDP und Linke. Eine hohe Wahlbeteiligung schadet also CDU/CSU und nützt Rot-Grün.
Auch die Soziodemografie zeigt Auffälligkeiten: Frauen verweigern eher als Männer, Bürger mit niedriger formaler Bildung deutlich mehr als Abiturienten (32 zu 19 Prozent), 28 Prozent der Geringverdienenden boykottieren die Wahl, aber nur 22 Prozent der gut Verdienenden. Im Westen würden sich aktuell 28, im Osten nur 24 Prozent ihrer Stimme enthalten. Vor allem aber: Unter den Erstwählern werden gleich 33, bei den Rentnern nur 18 Prozent am Qualtag Wahltag nicht gesichtet. Politisch bedeutsam ist nicht nur, dass der Anteil alter Menschen immer größer wird, in Kombination mit der höheren Wahlbeteiligung wird das Übergewicht der Senioren noch eklatanter.
Systematische Nichtwähler, die ihre Partei abstrafen, anderen Parteien ihre Stimme aber vorenthalten wollen, sind mit 20 Prozent klar in der Minderheit.
Der typische Nichtwähler dagegen ist werte- und damit orientierungslos. Wie keine andere Wählergruppe mangelt es ihm am Werteprofil. Schlimmer noch: Gerade wahlunterstützende Einstellungen wie Pflichtbewusstsein, Traditionsverbundenheit, Religiosität, werteorientiertes Handeln, Rationalität und kulturelles Interesse sind kaum vorhanden. Bei dieser Gruppe scheitern alle Wahlaufrufe.
Doch Politfrust allein erklärt nur teilweise das Zuhausebleiben am Wahltag: „Wo geht es bei uns gerecht zu?“, fragte TNS Emnid: Nirgendwo gab es gravierende Unterschiede: Wähler empfinden die politischen Verhältnisse in Deutschland ähnlich ungerecht wie Nichtwähler. Die Gesundheitsversorgung halten 36 Prozent der Urnengänger und 31 Prozent der Verweigerer für gerecht. Bei der Rente beträgt das Verhältnis 39:33, bei Bildung 47 beziehungsweise 42 Prozent. Linkswähler urteilen deutlich kritischer. Und auf der Links-rechts-Skala positionieren sich Nichtwähler zwar links der Mitte, aber bei Weitem nicht so entrückt wie die Wähler der Linken.
Ähnlich häufig wird in beiden Gruppen bürgerferne Politik kritisiert. Dass Wählengehen keinen Einfluss auf die Politik hat, vertreten 46 Prozent der Wähler und 56 Prozent der Verweigerer. Und dass viel zu wenig auf die Belange der „Kleinen“ eingegangen wird, empfinden 72 Prozent der Nicht-, aber auch 66 Prozent der Wähler. Politik wird von den Deutschen universell kritisiert. Wahlabstinenz ist daraus nicht direkt ableitbar.
Frust und Desinteresse sind zwar Treiber, allerdings weit geringer als landläufig vermutet. Ein Faktor allein reicht nicht, aber Frust und Desinteresse, beides zusammen bedingt erst Wahlabstinenz. Die nur Frustrierten demonstrieren durch die Wahl der politischen Ränder, die nur Ahnungslosen wählen nach Haar- und Augenfarbe.
Wenn sie nicht zusätzlich noch durch abgehobene Politiker geärgert werden! Denn kaum etwas trennt schärfer: Das Kabinett Merkel/Steinmeier wird von 47 Prozent der Wähler, aber nur noch 29 Prozent der Nichtwähler positiv beurteilt. Und geht es um das Einzelurteil der Ministerriege, schneiden die Ressortverantwortlichen bei den Verweigerern etwa nur halb so gut ab.
Ulla Schmidts Dienstwageneskapade ist demnach eindeutiger Verweigerungsgrund. Die nach Bürgermeinung völlig misslungene Gesundheitsreform noch lange nicht.
Finanzielle Probleme sind der letzte wichtige Grund für Wahlabstinenz: Für 69 Prozent der Nichtwähler hat sich die eigene finanzielle Lage im vergangenen Jahr deutlich verschlechtert, unter den Wählern trifft dies noch nicht einmal auf jeden zweiten zu.

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.