Die Ampel und die Rente - Durchwursteln bis zur nächsten Wahl – alles andere ist zweitrangig

Die Rentenpolitik gleicht einem Fahrzeug, das bei dichtem Nebel mit Höchstgeschwindigkeit geradeaus fährt. Dabei wissen die drei Partner am Steuer, die Ampelkoalitionäre, dass das Rentensystem die demografische Schieflage nicht mehr lange aushält.

Auf 100 Beitragszahler kommen derzeit etwa 50 Rentner / dpa
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Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Nur jeder Vierte traut dem Staat noch zu, die anstehenden Aufgaben bewältigen zu können. Das ist ein beschämendes Urteil, aber ein in vielen Bereichen zutreffendes. Das gilt nicht zuletzt für die Rente. Dass die in ihrer heutigen Form bald nicht mehr zu finanzieren sein wird, weiß jeder. Aber die Ampel-Parteien tun so, als reichten ein paar kleinere Korrekturen und alles wäre wieder in Ordnung.

Umso peinlicher ist es für Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und seine Minister, wenn der Wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums jetzt die Koalitionspläne zur Rente scharf kritisiert. Scholz hat zwar schon im Wahlkampf mit der ihm eigenen Überheblichkeit alle Warnungen von Rentenexperten in den Wind geschlagen. Doch leider gilt der alte DDR-Spruch: „Die Wirklichkeit ist real, Genossen.“

Der Wissenschaftliche Beirat schlägt Alarm

Die Ampel hat sich gleich auf mehrere rote Linien geeinigt: Das Rentenniveau darf nicht unter 48 Prozent sinken, das Renteneintrittsalter nicht über die von 2031 an geltenden 67 Jahre hinaus angehoben werden und der Beitrag zur Rentenversicherung (zurzeit 18,6 Prozent des Bruttolohns) bis Ende 2025 nicht mehr als 20 Prozent betragen. Die Koalition schränkt die Möglichkeiten, die sie zur Sanierung der Rentenkassen hätte, selbst ein. 

Der Wissenschaftliche Beirat, dem 38 Wirtschaftswissenschaftler angehören, hat nun Alarm geschlagen. Das Festhalten an der 48 Prozent-Grenze führt nach Meinung der Experten zu „deutlich und dauerhaft“ steigenden Rentenausgaben. Das Rentenniveau zeigt das Verhältnis zwischen der Rentenhöhe nach 45 Beitragsjahren (bei durchschnittlichem Einkommen) und dem durchschnittlichen Einkommen eines Arbeitnehmers an. Die Professoren befürchten, dass zur Finanzierung dieses Rentenniveaus der Bund zukünftig noch höhere Zuschüsse an die Rentenkasse abführen muss. Das könnte dann die „Finanzierung von Zukunftsaufgaben“ verdrängen.

Früher in den Ruhestand

Schon jetzt fließen jährlich rund 100 Milliarden Euro aus dem Haushalt in die Finanzierung der Rente, etwa ein Viertel des Etats. Alle Rentenexperten sind sich einig, dass die wirkungsvollste Stellschraube eine Erhöhung des Renteneintrittsalter wäre. Dies lehnen SPD und Grüne kategorisch ab, ebenso ihnen nahstehende Rentenfachleute. Der Beirat weist nun darauf hin, dass aktuell „die Mehrheit der Renteneintritte vor dem Regelrentenalter“ stattfinde.

Dieses liegt zurzeit bei 66 Jahren – theoretisch. Allerdings beginnen die meisten Arbeitnehmer ihren Ruhestand früher. Sehr viele nehmen dabei Rentenabschläge von 3,6 Prozent pro Jahr des vorzeitigen Rentenbeginns in Kauf, was für ihre soliden finanziellen Verhältnisse spricht. Denn in der Rentendiskussion wird gerne übersehen, dass viele Rentnerhaushalte nicht von der staatlichen Altersvorsorge abhängig sind, sondern auch noch Betriebsrenten beziehen, zusätzlich privat vorgesorgt haben oder Einkünfte aus Vermietung erzielen.

 

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Etwa ein Drittel der Neurentner – rund 260.000 pro Jahr – profitiert dagegen von der „Rente mit 63“. Sie erlaubt es Arbeitnehmern, die 35 Jahre lang Beiträge gezahlt haben, bereits zwei Jahre früher in Rente zu gehen – und zwar abschlagsfrei. Bei der Einführung dieser Regelung im Jahr 2014 bedeutete das Rentenbezug mit 63 statt 65 Jahren; inzwischen gilt dieser Vorteil von 64 (statt 66) Jahren an.

Diese Regelung hält der Beirat besonders für problematisch, weil sie unter anderem den Fachkräftemangel verschärfe. Sie sei daher „aus gesamtwirtschaftlicher Sicht eine höchst problematische Regelung“. Der Beirat möchte diesen Vorteil deshalb nur noch gesundheitlich angeschlagenen Arbeitnehmern oder solchen mit geringen Rentenansprüchen zugutekommen lassen.

Negative Folgen für den Arbeitsmarkt

SPD und Gewerkschaften begründen die Notwendigkeit der „Rente mit 63“ damit, dass viele Arbeitnehmer einfach nicht länger arbeiten könnten. Dazu schreiben die Wissenschaftler: Die „Renten mit 63“ werde „entgegen landläufiger Vorstellung überwiegend von gut ausgebildeten, überdurchschnittlich verdienenden und gesünderen Menschen in Anspruch genommen.“ Dabei war doch der mit 65 Jahren noch auf dem Dach herumkletternde Dachdecker die Symbolfigur der Befürworter dieses Angebots zur Frühverrentung. 

Auch die Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles, hält Programme zur Frühverrentung aus gesamtwirtschaftlich Sicht für „kontraproduktiv“. Dass die SPD-Vorsitzende als Bundesarbeitsministerin maßgeblich die Einführung der „Rente mit 63“ betrieben hat, scheint sie vergessen zu haben.

Schon damals hatten viele Fachleute vor den negativen Folgen für den Arbeitsmarkt gewarnt. Allerdings hatte die SPD im Wahlkampf 2013 die „Rente mit 63“ versprochen, nicht zuletzt, um die DGB-Gewerkschaften wieder mit der SPD zu versöhnen. Schließlich hatte die „Agenda 2010“-Politik unter Gerhard Schröder die SPD von den Arbeitnehmerorganisationen entfremdet.

Eine bittere Pille für die FDP

Das Professoren-Gremium äußert sich nicht zu einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Dies hat aber vor ein paar Tagen die „Wirtschaftsweise“ Veronika Grimm getan, die keine Scheu hat, auch Unpopuläres anzusprechen. Aus ihrer Sicht ist es „fraglos notwendig, das gesetzliche Rentenalter weiter anzuheben“. So sollte bei einem Anstieg der Lebenserwartung um ein Jahr das Renteneintrittsalter um acht Monate angehoben werden. Ausgenommen blieben Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen. 

Widerspruch kam nicht nur prompt von der SPD. Auch CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sprach sich gegen eine pauschale Anhebung des Rentenalters aus, plädierte stattdessen für „differenzierte“ Lösungen. Selbst der FDP scheint dieser Vorschlag wohl zu unpopulär. Ihr arbeitsmarktpolitischer Sprecher Pascal Kober kann sich das „allenfalls mit längeren Übergangsfristen“ vorstellen.

Die Warnungen der Beiratsmitglieder vor einem „weiter so“ in der Rentenpolitik enthalten eine bittere Pille für die FDP. Die Professoren halten nicht viel von der von der FDP durchgesetzten „Aktienrente“. So soll ein staatlicher Fonds Geld in Aktien anlegen, und mit den Renditen die Rentenkassen aufbessern. Ein solcher Fonds würde aber nur „unterdurchschnittliche Renditen“ abwerfen, meinen die Sachverständigen. Ihre Alternative: Der Staat solle lieber kleine und mittlere Unternehmen darin unterstützen, ihren Mitarbeitern eine Betriebsrente zuzusagen. 

Nun war die „Aktienrente“ das einzige Innovative im rentenpolitischen Teil des Koalitionsvertrags der Ampel. Allerdings sind von einem Fonds, der jährlich mit einem niedrigen zweistelligen Milliardenbetrag dotiert wird, keine sprudelnden Einnahmen zu erwarten, schon gar nicht kurzfristig. Aber immerhin wäre dies der Einstieg in eine kapitalgedeckte Teilfinanzierung der Renten.

100 Beitragszahler auf 50 Rentner

Nüchtern betrachtet, gleicht die Rentenpolitik einem Fahrzeug, das bei dichtem Nebel mit Höchstgeschwindigkeit geradeaus fährt. Dabei wissen die drei Partner am Steuer, dass das Rentensystem die demografische Schieflage nicht mehr lange aushält. Auf 100 Beitragszahler kommen derzeit etwa 50 Rentner, in 15 Jahren werden 100 Beitragszahler auf 70 Rentner kommen. Doch fehlen der Ampel der Mut und die Kraft, in der Rentenpolitik auf das wachsende Ungleichgewicht zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern zu reagieren. SPD, Grüne und FDP wollen in erster Linie vermeiden, was die Ökonomin Grimm für unausweichlich hält: irgendwelche „Härten“. Das Ziel heißt: den Wahltermin 2025 ohne rentenpolitische Blessuren zu erreichen.

Deshalb begnügen sich die Koalitionäre mit kleinen Veränderungen und scheuen alle Maßnahmen, die die Renten dauerhaft auf eine solide Basis stellen könnten. Das wird nicht ohne eine längere Lebensarbeitszeit gehen. Auch müsste die Tendenz zur Frühverrentung durch die „Rente mit 63“ gestoppt werden. Der Staat fördert den vorzeitigen Renteneintritt durch die Möglichkeit, mit verringerter Rente bis zu fünf Jahre früher mit dem Arbeiten aufzuhören. Dieser Abschlag ist deshalb gerechtfertigt, weil ein freiwilliger Frührentner bis zu fünf Jahre länger Rente kassiert und zugleich fünf Jahre lang nicht mehr in die Rentenkasse einzahlt. 

Ein Satz von Abraham Lincoln

Die geltende Abschlagsregelung von 3,6 Prozent pro Jahr und bis zu 18 Prozent für fünf Jahre ist jedoch nach Meinung vieler Rentenexperten zu niedrig veranschlagt. Um die Verluste der Rentenversicherung auszugleichen, müsste die Rente pro Jahr um mehr als 4 Prozent gekürzt werden. Das halten wohl alle Parteien in Regierung wie Opposition für nicht vermittelbar.

Im Koalitionsvertrag hat die Ampel en vollmundiges Versprechen gegeben: „Es wird keine Rentenkürzungen und keine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters geben.“ Das passt nicht zu einem Bündnis, das sich Fortschrittskoalition nennt. Da passt Durchwurstel-Koalition schon eher.

Vielleicht sollten sich die Rentenpolitiker einen Satz von Abraham Lincoln zu Herzen nehmen: „You can fool some of the people all of the time, and all of the people some of the time, but you cannot fool all of the people all of the time.“ Frei übersetzt: Man kann bei der Rente einige Bürger immer täuschen oder alle für eine kurze Zeit täuschen. Aber man kann nicht allen Bürgern für immer vormachen, mit der Rente wäre alles in Ordnung. 
 

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