Deutschland in der Coronakrise - Die gefesselte Republik

Die Corona-Krise deckt schonungslos auf, dass Deutschland seine Handlungsfähigkeit abhandengekommen ist. Denn der föderale Rechtsstaat erweist sich in Notsituationen als Schönwetterinstitution. Demokratie und Effizienz dürfen aber keine Gegensätze sein.

Die gefesselte Republik / Alexander Glandien
Anzeige

Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

So erreichen Sie Mathias Brodkorb:

Anzeige

Das Drama nahm am 14. Oktober 2020 seinen Anfang. Nach Monaten hatte die Kanzlerin die Ministerpräsidenten wieder persönlich nach Berlin zum Gipfel geladen. Durch diesen symbolischen Akt sollte auch klargestellt werden: Die Lage ist ernst. Während in anderen europäischen Ländern die Infektionen bereits davongaloppierten, deutete sich eine ähnliche Entwicklung auch für Deutschland an.

Der Immunologe Michael Meyer-Hermann sollte an der Seite Merkels Deutschlands führende Politiker mit Modellrechnungen wachrütteln, aber es wollte nicht recht gelingen. Heraus kam ein politischer Formelkompromiss der Zögerlichkeiten. Konsequente Entscheidungen wurden vertagt. Nur wenige Stunden nach dem Gipfel musste der sichtlich zerknirschte Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) im ARD-Morgenmagazin eingestehen, dass die beschlossenen Maßnahmen „vermutlich nicht ausreichen“ würden. Was die Politik nicht geschafft hatte, sollten nun andere besorgen: „Deshalb kommt’s jetzt auf die Bevölkerung an.“ Das war der erste Teil einer politischen Kapitulationserklärung.

Beste Voraussetzungen für Blockaden

In den folgenden Wochen spielte sich ein ums andere Mal dieselbe Szene ab. Während die Kanzlerin für konsequente und schnelle Maßnahmen plädierte, weil ansonsten alles noch viel schlimmer zu werden drohe, fanden die Länder nicht zu einer konsequenten gemeinsamen Linie. Die Voraussetzungen hierfür sind auch denkbar anspruchsvoll. Jeder Beschluss der Ministerpräsidentenkonferenz bedarf einer Mehrheit von mindestens 13 Ländern, in finanzrelevanten Fragen sogar der Einstimmigkeit. Von einer dann noch erforderlichen Einigung mit dem Bund sowie der Billigung durch die einzelnen Landesparlamente ganz zu schweigen. Beste Voraussetzungen also für endlose Diskussionen und politische Blockaden. 

Während das Kanzleramt weiter mahnte und drängte, pochten einzelne Länder demonstrativ auf Zuständigkeitsfragen, als ob es keine anderen Sorgen gäbe. Der Regierungschef von Thüringen, Bodo Ramelow (Die Linke), wollte sich nicht als „nachgeordnete Behörde des Kanzleramts“ behandeln lassen. Und für die SPD-Bundestagsfraktion rüffelte der Abgeordnete Carsten Schneider das Kanzleramt gar dafür, dass es sich angeblich schon mit seinen bloßen Vorschlägen zur Bewältigung der Pandemie in die Angelegenheiten der Länder eingemischt habe. „Das ist ein Verfahren, das missbillige ich“, ließ er die Kanzlerin mit erhobenem Zeigefinger wissen. Das Virus freilich interessierten solche Macht- und Zuständigkeitsscharmützel nicht die Bohne. Es verbreitete sich immer weiter.

Mangelware Zeit

Dann kam der zweite Teil der politischen Kapitulationserklärung. Als die Kanzlerin am 9. Dezember 2020 im Bundestag das Wort ergriff, war ihre Verzweiflung mit Händen zu greifen. Ausgerechnet jene Frau, die vom Forbes-Magazin ein ums andere Mal zur „mächtigsten Frau der Welt“ gekürt worden war, gestand ihre Machtlosigkeit als Regierungschefin schonungslos ein. Mit gebrochener Stimme und offenbar den Tränen nahe appellierte sie vier Tage vor dem wichtigsten Corona-Gipfel des Jahres ein letztes Mal an Deutschlands Entschlusskraft: „Was wird man denn im Rückblick auf ein Jahrhundertereignis einmal sagen, wenn wir nicht in der Lage waren, (…) irgendeine Lösung zu finden?“ Allerdings richtete sich Merkel mit ihrem Aufruf weder an die Bevölkerung noch die Abgeordneten des Bundestags, sondern an den „elephant in the room“: die Ministerpräsidenten.

Die Machtlosigkeit der Bundeskanzlerin ist dabei nichts anderes als die Kehrseite des Föderalismus. Insbesondere in der politischen Klasse der Länder gilt dieser schon aus Gründen des eigenen Bedeutungserhalts bis heute als heilige Kuh. Aber auch in Intellektuellenkreisen erfreut er sich – im Unterschied zu großen Teilen der Bevölkerung – größter Unterstützung. Die zwischen verschiedenen Akteuren geteilte Macht, das Erfordernis zu Kooperation und zum Aushandeln von Kompromissen, fühlt sich für manchen wie ein politikwissenschaftliches Eldorado der „deliberativen Demokratie“ (Jürgen Habermas) an. In ihr soll so lange und so verständig zwischen allen herrschaftsfrei und nach festgelegten Regeln (Prozeduralismus) disputiert werden, bis sich alle kollektiv dem „Zwang des besseren Arguments“ unterwerfen. Fast hat es den Anschein, als hätte der bedeutendste deutsche Gegenwartsphilosoph sein Hauptwerk „Theorie des kommunikativen Handelns“ direkt aus dem Institutionengeflecht des deutschen Föderalismus extrahiert.

In der Politik allerdings geht es nicht in erster Linie um Wahrheit, sondern um Interessen, nicht um Argumente, sondern um Macht und die mit ihr verwobenen menschlichen Eitelkeiten. Aber selbst wenn man diese bedauerlichen Hindernisse für die „beste aller möglichen Welten“ (Voltaire) idealtypisch ganz außer Acht ließe: Diskurse und Entscheidungen in komplexen Institutionen erfordern eine Ressource, die in einer pandemischen Ausnahmesituation nicht zur Verfügung steht. Und das ist Zeit. Das Sars-CoV-2-Virus jedenfalls wird aus Achtung vor den Prozeduren des bundesdeutschen Föderalismus keine Verbreitungspause einlegen.

Auf Bayern ist Verlass

Allerdings geht es nicht nur um Zeit, die wir nicht haben. Es geht auch um das Ansehen des Staates bei seinen Bürgern und damit um seine Wirkmächtigkeit. Seit Monaten sind wir Zeugen des ewig gleichen Spieles: Erst dauert es Wochen, bis sich Bund und Länder auf eine gemeinsame Position einigen und damit ungewollt und implizit der Forderung nach einer einheitlichen Steuerung nachgeben. Denn wenn es die nicht bräuchte, wäre auch das Ringen um gemeinsame Positionen überflüssig. Und dann dauert es mitunter nur wenige Stunden, bis einzelne Länder aus dem mühsam gefundenen Kompromiss wieder ausbrechen. So, wie das Jahr 2020 geendet hatte, begann denn auch das neue. Während sich die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten noch am 5. Januar auf verschärfte Kontaktverbote und Bewegungseinschränkungen geeinigt hatten, dauerte es keine 24 Stunden, bis einzelne Länder davon nicht mehr allzu viel wissen wollten.

Als eines der ersten scherte das grün-schwarz regierte Baden-Württemberg aus. Nicht nur wurde die Vorgabe, den Kontakt eines Hausstands auf nur eine weitere Person zu beschränken, flugs zu einer „Betreuungsgemeinschaft“ zwischen Familien umgedeutet. Das Thema Bewegungseinschränkungen wischte Ministerpräsident Kretschmann (Die Grünen) vorerst ganz vom Tisch: „Das werden wir jetzt erst mal nicht machen. Bei uns wären das ja nur ganz wenige Landkreise. Da warten wir jetzt erst mal belastbare Zahlen ab.“

Kritik von der politischen Konkurrenz muss Kretschmann indes nicht fürchten. Ausgerechnet der örtliche CDU-Generalsekretär Manuel Hagel forderte den Ministerpräsidenten sogar auf, weitere Abweichungen von den Vereinbarungen mit der Bundeskanzlerin umzusetzen. Auf das ansonsten höchst eigensinnig agierende Bayern ist für Angela Merkel hingegen derzeit Verlass.

Ministerpräsident Markus Söder (CSU), der sonst stets auf föderale Unterschiede und bayerische Sonderwege pocht, steht zur konsequenten Umsetzung der gemeinsam gefassten Beschlüsse. Eine staatspolitische Läuterung muss man ihm deshalb nicht gleich unterstellen. Aufgrund hoher Infektionszahlen auch in Bayern liegt ein harter Kurs ganz im bayerischen Interesse. Und vielleicht auch im Interesse eines möglichen Kanzlerkandidaten, der Handlungskompetenz unter Beweis stellen will.

Ansehensverlust des Staates

Im Kanzleramt schrillten aufgrund der prompten politischen Ausfransungen erneut die Alarmglocken. Helge Braun sah sich abermals genötigt, die Länder öffentlich an die erst kürzlich verabredete Linie zu erinnern. Er warnte eindringlich, dass nur bei konsequenter Einhaltung der verabschiedeten Maßnahmen durch die Länder die Infektionslage unter Kontrolle zu bringen sei und andernfalls britische Zustände drohten. Aber in Wahrheit liegt das Problem viel tiefer. Wie will der Staat seine Autorität verteidigen und seine Bürger dazu veranlassen, sich an Regeln zu halten, wenn seine führenden Repräsentanten mühsam getroffene Vereinbarungen scheinbar selbst nicht völlig ernst nehmen? Am Ende stehen damit die Glaubwürdigkeit des Staates und das Vertrauen seiner Bürger in ihn zur Disposition.

Krisenbewältigung ist die staatspolitische Königsklasse. Es liegt in der Natur der Sache, dass es in keiner Situation so sehr auf den Staat ankommt wie im „Ernstfall“ (Carl Schmitt). Unter gewöhnlichen Umständen können sich die Bürger nämlich auch selbst helfen. Helmut Schmidts Ruhm ist nicht ohne Grund bis heute vor allem mit seinen Leistungen als Hamburger Innensenator während der Sturmflut 1962 sowie seinem konsequenten Agieren gegen den Terror der RAF verbunden.

Dass dem deutschen Staat seine Autorität und damit auch Handlungsfähigkeit abhandenzukommen drohen, ist seit Jahren zu spüren. Rettungskräfte werden bei ihrer Arbeit behindert und verhöhnt, Polizisten beleidigt und bespuckt, Soldaten als „Mörder“ verachtet. Eine nicht unerhebliche Zahl von Bürgern begreift den Staat nicht mehr als gemeinwohlförderliche Schutzmacht, der Respekt zu zollen ist, sondern als Herrschaftsinstrument einer abgehobenen Elite. Oder bestenfalls als Versorgungsanstalt für jedermann, die mit Ansprüchen jedweder Art überschüttet werden darf. An diesem Ansehens- und Autoritätsverlust des Staates ist dieser selbst allerdings nicht unschuldig. Galt Deutschlands Verwaltung einmal als eine der effektivsten und effizientesten der Welt, wird ihr durch Überbürokratisierung teils sklerotischer Zustand auch in der Corona-Pandemie auf allen staatlichen Ebenen deutlich.

Das Impfstoffdesaster auf EU-Ebene

So konnte der Bund etwa die für die Beantragung der Novemberhilfen 2020 erforderliche Software erst im Dezember bereitstellen. Eine vollständige Auszahlung der Novemberhilfen 2020 ist damit erst ab Januar 2021 möglich. Wie betroffene Selbstständige und Unternehmen bis dahin ihre Liquidität sichern, bleibt angesichts nicht auskömmlicher Abschlagszahlungen ihr Privatproblem.

Nicht viel besser sieht es in Sachen Schutzimpfung aus. Die zu geringe Zahl der Impfdosen ist dabei nur das eine Problem. Fassungslos macht vor allem die Geschwindigkeit, mit der die ohnehin zu wenigen Dosen in Deutschland verimpft werden. Die Unterschiede zwischen den Ländern sind derart groß, dass sie ohne organisatorisches Versagen kaum zu erklären sind. Im Spitzenreiterland Mecklenburg-Vorpommern erreicht die Impfquote den fünffachen Wert des Bummel-Letzten. Aber es gibt auch Lichtblicke: Das gelegentlich als failed state verhöhnte Berlin schneidet in Sachen Impfgeschwindigkeit teils sogar besser ab als Bayern.

Das eigentliche Staatsversagen allerdings spielte sich im Rahmen der Beschaffung der Impfstoffe ab. Schon früh entschied die Bundesregierung, die Angelegenheit in die Hände der Europäischen Union zu legen, um einen „Impfnationalismus“ zu verhindern. Von Kritik an diesem Vorgehen war seinerzeit deutschlandweit im Grunde nichts zu hören, auch nicht von der SPD. Dabei dürfte es sich um mehr als nur einen freudschen Versprecher gehandelt haben, als Angela Merkel vor dem Bundestag im Rahmen der Pandemiebekämpfung die „europäische Nation“ beschwor – eine Formulierung, die im amtlichen Plenarprotokoll nachträglich stillschweigend eine Korrektur erfuhr. Auf ihr persönliches Drängen hin soll Gesundheitsminister Spahn (CDU) die Bewältigung seiner ureigensten Aufgabe in die Hände der Europäischen Kommission gelegt haben.

Was hierdurch ausgelöst wurde, war zwar nicht naturnotwendig, aber doch hoch wahrscheinlich. In einer Notsituation wurden dringlich zu treffende Entscheidungen durch Einbindung aller europäischen Partner der Überkomplexität ausgesetzt und dadurch ausgebremst. Deutschland machte sich so abhängig vom Wohlwollen und der Kompromissbereitschaft einer Vielzahl von unabhängigen Entscheidungsträgern mit je eigenen Interessen und der Möglichkeit zum Veto. Es tat somit nichts anderes, als das Dilemma und die Handlungsblockaden seines föderalen Modells auch noch in seine äußeren Verhältnisse zu verlagern.

Dritter Akt der Kapitulationserklärung

Und so kam es, wie es am Ende kommen musste: Während Frankreich zugunsten seines eigenen Herstellers darauf bedacht war, dass nicht zu viele Dosen des erfolgreichen deutschen Herstellers Biontech geordert wurden, erschienen osteuropäischen Staaten die Preise für die aussichtsreichsten Impfstoffe als zu hoch. So verzögerten sich die Verhandlungen Monat um Monat – und zwar, wie Christian Lindner (FDP) süffisant anmerkte, ausgerechnet unter deutscher Ratspräsidentschaft.

Während die Europäische Union erst im November 2020 zu Vertragsabschlüssen kam, hatten sich die USA, Großbritannien und Israel schon im Sommer erhebliche Kontingente sichern können. Ausgerechnet Regierungen also, die zumindest im Verdacht stehen, dem politischen Populismus nicht völlig abgeneigt zu sein! Russland wiederum hat die Sache gleich vollständig selbst in die Hand genommen und seinen Impfstoff, Ironie der Geschichte, „Sputnik“ genannt.

Allerdings müssten all jene Bundesländer, die sich nun als Kritiker des europäischen Beschaffungsprozesses profilieren, zugleich mit dem Finger auf sich selbst zeigen. Was sie kritisieren, ist eben jene überkomplexe Entscheidungssituation bei Interessendivergenzen, die sie im Rahmen des Föderalismus selbst munter praktizieren. Und auch der Vorwurf des „Impfnationalismus“ ist wenig durchschlagskräftig. Dass Deutschlands Bürger erwarten, dass ihnen jedenfalls nicht weniger Impfstoffe als anderen Ländern zur Verfügung stehen, wenn sie sich schon mit Hunderten Millionen Euro an Steuergeldern an der Entwicklung eben jenes Impfstoffs beteiligt haben, ist nur recht und billig. Genau genommen ist das Gleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung zur Bewältigung von Herausforderungen von öffentlichem Belang jener Kitt, der jedes republikanische Gemeinwesen zusammenhält, und der innere Sinn eines jeden Staatswesens. Man darf daran erinnern: Ihren Amtseid hat die Bundeskanzlerin nicht auf eine „europäische Nation“, sondern das „deutsche Volk“ abgeleistet.

Wie Gesundheitsminister Spahn daher am 13. Januar 2021 vor dem Bundestag die europäische Beschaffungsstrategie staatstragend verteidigte, kam einem Offenbarungseid gleich: „In dieser Jahrhundertpandemie den europäischen Weg zu gehen, wird Europa stärken. (…) Das vermeintlich kurzfristige nationale Interesse ist oftmals nicht unser langfristiges.“ Zugunsten der europäischen Idee nimmt die Bundesregierung somit nicht nur einen längeren Lockdown mit massiven wirtschaftlichen Schäden, sondern auch weitere Todesfälle bewusst in Kauf. Das war der dritte Teil der Kapitulationserklärung.

Standortvorteil China?

Dabei geht es gar nicht allein um die Bekämpfung der Pandemie, und Angela Merkel gehört zu den wenigen politischen Akteuren, die hierauf überhaupt hinweisen. Letztlich gehe es auch um einen „weltweiten Systemwettbewerb“ und die Frage der Handlungsfähigkeit gegensätzlicher gesellschaftlicher und politischer Modelle. Dies hat handfeste wirtschaftliche Konsequenzen: Während die europäischen Staaten im Jahr 2020 mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung von 5 bis 10 Prozent zu kämpfen haben, erreicht China längst wieder Vorkrisenniveau. Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) wird es das Jahr 2020 gar mit einem Wachstum von 1 bis 2 Prozent überstanden haben. Chinas Wirtschaft entwickelt sich trotz Corona derart robust, dass selbst Deutschlands Exportwirtschaft hiervon nach oben gezogen wird.

Es gehört wenig Einsicht dazu, die Erfolge Chinas bei der Pandemiebekämpfung und der Wiederbelebung der Wirtschaft auch und vor allem seinen autoritären politischen Strukturen zuzuschreiben. Sie verkürzen Entscheidungsprozesse rasant und werden so im globalen Wettkampf der politischen und wirtschaftlichen Systeme zu einem nicht wegzudiskutierenden Standortvorteil. Wir sehen uns daher mit einer paradoxen Situation konfrontiert: Während der politische Westen seinen Sieg über den Ostblock vor rund 30 Jahren noch seiner freiheitlich-individualistischen Lebensweise zugeschrieben hat, scheint sich diese heute unter bestimmten Umständen als Hemmschuh zu erweisen. Sowohl bei der Bewältigung von Ausnahmezuständen als auch der gesellschaftlichen Verankerung eruptiver technologischer Innovationen wie der Digitalisierung droht das Reich der Mitte am Ende dauerhaft die Nase vorne zu haben. In Deutschland wurden im Zusammenhang mit der Corona-App monatelang datenschutzrechtliche Grundsatzdebatten geführt; die chinesischen Behörden tragen den Corona-Impfstatus ihrer Bürger einfach zwangsweise in die entsprechende App ein.

Der realexistierende föderale Rechtsstaat ist daher vor allem eine Schönwetterinstitution. Wenn die Wirtschaft brummt und keine Kriege, Naturkatastrophen oder Pandemien ins Haus stehen, können bürokratische Lasten, endlose Diskussionen und halbgare Kompromisse verschmerzt werden. Sie sind der unvermeidbare Preis eines hochkomplexen und ausbalancierten Institutionengefüges. Ganz anders sieht die Sache im Ernstfall aus: Naturkatastrophen oder Viren sind einem Diskurs schlicht nicht zugänglich. Mit ihnen lässt sich nicht verhandeln, kein Kompromiss erarbeiten oder eine Verschnaufpause vereinbaren.

Gerät die Verschuldung außer Kontrolle?

Dass das Leben nicht vollständig der deliberativen Demokratie unterstellt werden kann, muss Westeuropa offenbar erst wieder lernen. So jedenfalls erklärt sich der Publizist Rafael Seligmann Deutschlands Tändelei sowie umgekehrt die atemberaubenden Impffortschritte in Israel: „Das deutsche Glück, nach der bedingungslosen Niederlage im Zweiten Weltkrieg eine historisch beispiellose 75-jährige Phase des Friedens erleben zu dürfen und sich in dieser Zeit einen nie gekannten Wohlstand zu erarbeiten, hat die Teutonen satt, müde und phantasielos gemacht. (…) Diese Luxus­tour muss ein Ende haben! (…) Effizienz ist wichtiger als die haargenaue Beachtung der letzten Vorschrift und des EU-Gänsemarsches.“

Aber es ist ja nicht so, dass das in Wahrheit nicht auch die Ministerpräsidenten wüssten. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk zeigte sich der Regierende Bürgermeister von Berlin und Chef der Ministerpräsidenten, Michael Müller (SPD), vor einem halben Jahr noch ganz offen für eine Entmachtung der Länder: „Für Krisenzeiten, in bestimmten Notsituationen kann ich mir so etwas vorstellen, da muss so etwas möglich sein.“ Zuvor war im März 2020 das Infektionsschutzgesetz ohnehin schon geändert worden, um den Einfluss des Bundes bei Pandemielagen zu stärken. Allerdings zu wenig, wie sich Ende des Jahres herausstellen sollte.

In ihrer Pressekonferenz vom 14. Oktober 2020 formulierte Kanzlerin Merkel vor allem ein Ziel: einen zweiten Lockdown und die mit ihm verbundenen wirtschaftlichen Kosten zu vermeiden. Der erste Lockdown habe bereits zur Erhöhung der Staatsschulden um einen beachtlichen dreistelligen Milliardenbetrag geführt: „Deshalb können wir uns auch ökonomisch eine zweite Welle, wie wir sie im Frühjahr hatten, (…) nicht leisten. (…) Wir haben (…) keine unbegrenzten Möglichkeiten.“ Merkels Hoffnung blieb ein bloßer Traum. Deutschlands Staatsschulden werden weiter explodieren. Seine öffentlichen Haushalte sind derzeit solide genug aufgestellt, um auch den zweiten Lockdown zu überstehen. Aber dieser Weg wird sich kaum unendlich fortsetzen lassen. Gerät die Verschuldung öffentlicher Haushalte Schritt für Schritt außer Kontrolle, wird dies unvorstellbare Konsequenzen für Finanzmärkte und die Realwirtschaft haben – und zwar weltweit.

Die nächste Pandemie wird kommen

Indes sind sich führende Wissenschaftler einig: Zurückgehende Biodiversität sowie wirtschaftliche und touristische Globalisierung erhöhen die Wahrscheinlichkeit weiterer Pandemien. „Pandemien werden in der Zukunft (…) wahrscheinlicher, weil wir mehr Menschen sein werden, die noch stärker in geschützte Naturräume eindringen“, ist der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit überzeugt. Er arbeitet in einem vom Bundesforschungsministerium geförderten Projekt zur frühzeitigen Identifikation von Viren, die Pandemien auslösen könnten. Das gesamte Projekt zielt letztlich auf nichts anderes ab als die Gewinnung von Zeit: „Der entscheidende Punkt ist, dass wir in der Lage sein müssen, frühzeitig und sehr schnell die bisher unbekannten Viren zu identifizieren. Nur dann lässt sich sagen, welche Gefahren von diesen Viren ausgehen könnten.“ Und entsprechend handeln. 

Selbst also wenn die Corona-Pandemie im Jahre 2021 unter Kontrolle gebracht wird, kommt die nächste Pandemie bestimmt. Aber ohne institutionelle Reformen drohen Länder wie Deutschland bei weiteren Pandemien in eine Spirale öffentlicher Verschuldung mit unabsehbaren wirtschaftlichen Konsequenzen zu geraten, während autoritär geführte Staaten mit effizienten Entscheidungsstrukturen wie China relativ gesehen davon profitieren und ihre Vormachtstellung für das 21. Jahrhundert Schritt für Schritt ausbauen könnten.

Angesichts dieser Perspektive warnte Merkel im Dezember 2020 vor dem Bundestag vor der Verschiebung der „Kräfteverhältnisse auf der Welt“, erteilte einer Angleichung des deutschen Rechtsstaats an das chinesische Modell jedoch eine klare Absage. Man unterscheide sich im Handeln eben von Ländern, „die stärker einer Diktatur gleichen“, und sei außerdem stolz auf die „stark individualisierte Gesellschaft“ des Westens. Der Applaus, den die Koalitionsfraktionen auf dieses Bekenntnis spontan spendeten, beruht jedoch auf einem schwerwiegenden Missverständnis. Die pauschale Gleichsetzung von Effizienz und Geschwindigkeit im staatlichen Handeln mit einer Diktatur und der Glaube an die Unvermeidbarkeit der Langsamkeit, der überbordenden Bürokratie und Zähigkeit der Demokratie sind nicht nur ein Irrtum. Sie wären ein Armutszeugnis.

Was Deutschland im September braucht

Kern der repräsentativen Demokratie ist nämlich nicht das endlose Disputieren, obwohl es manchmal unvermeidbar scheint. Sondern die zeitlich befristete Übertragung der Souveränität des Volkes auf von ihm gewählte Repräsentanten. Nicht um das endlose Diskutieren und Aushandeln von Kompromissen geht es, sondern um das Erzeugen von Legitimität für Volksvertreter und Regierungen, um Entscheidungen für alle treffen zu können. Die wichtigste Ressource einer Demokratie besteht somit im Vertrauen des Wahlvolks in die Handlungsfähigkeit des Staates und Integrität seiner Repräsentanten. Da dieses Vertrauen durch Wahlen regelmäßig wieder entzogen werden kann, ist Demokratie bloß eine „ziemlich wirksame institutionelle Sicherung gegen eine Tyrannei“ (Karl Popper).

Demokratie und klare Führerschaft, Demokratie und Geschwindigkeit, Demokratie und effizientes Staatshandeln sind keine Widersprüche. In einer globalisierten, digitalisierten und beschleunigten Welt dürften sie sich vielmehr als pure Überlebensbedingungen der westlichen Lebensart erweisen. Drei Dinge sind daher vonnöten:

•    Erstens das Zurückstutzen einer teils metastasierenden Bürokratie. Der Glaube daran, dass geregelte Verfahren per se vernünftige und gerechte Ergebnisse garantieren (Prozeduralismus), schrieb sich in den vergangenen Jahrzehnten in die DNA westlicher Demokratien ein. Immer zahlreicher, umfangreicher und detaillierter wurden Gesetze, Verordnungen und Erlasse, während der Ermessensspielraum verständiger Verwaltungsbeamter im gleichen Maße schrumpfte. Mit dem europäischen Integrationsprozess hat diese Tendenz ungeahnte Ausmaße angenommen. Wer je mit einer europaweiten Ausschreibung oder der Abrechnung europäischer Förderprogramme zu tun hatte, kann ein Lied davon singen. Und weil sich die Vielfalt der Welt eben nur schwer durch rechtliche Maßstäbe vollständig erschlagen lässt, stöhnen und ächzen Deutschlands Gerichte unter unerledigten Fällen und leiden an grotesken Verfahrensdauern. Auch das erschüttert das Vertrauen in den demokratischen Rechtsstaat und dessen Autorität.

•    Zweitens täte Deutschland gut daran, seine föderalen Mechanismen im Angesicht der derzeitigen Pandemie neu zu ordnen und sei es nur für Notsituationen. Wer sowohl angesichts der globalen wirtschaftlichen Herausforderungen als auch zur effektiven Bekämpfung künftiger Pandemien einen handlungsfähigen Staat will, muss die Komplexität der Entscheidungsstrukturen drastisch reduzieren – gerade weil es auch um einen „weltweiten Systemwettbewerb“ (Angela Merkel) geht. Und das ist nur dadurch sinnvoll möglich, dass dem Bund eine verfassungsrechtlich abgesicherte starke Entscheidungskompetenz zugebilligt wird. Ein solcher Schritt hätte weder etwas mit einer „Diktatur“ zu tun, noch handelte es sich um eine Beschädigung rechtsstaatlicher Demokratie. Die Bundesregierung handelte unter derart veränderten Bedingungen immer noch auf der Grundlage von Gesetzen, kontrolliert durch ein demokratisch gewähltes Parlament. Aber wahrscheinlich schneller und effektiver, als es derzeit möglich ist.

•    Auch die besten Strukturen und Institutionen können jedoch nur so gut sein wie die Menschen, die ihnen vorstehen. Auch zentralstaatliche Steuerungsinstrumente verbürgen nicht per se gelingendes Staatshandeln. Deutschland braucht daher drittens mehr politische Führung und weniger bloße Moderation. Der Staat muss wieder in den Stand gesetzt werden, sich überbordender Ansprüche an ihn zu erwehren. Er ist keine „Milchkuh“ (Arnold Gehlen), an deren Zitzen sich allerlei Partikular­interessen laben können, sondern hat in unser aller Interesse dem Gemeinwohl zu dienen. Es ist daher grotesk, dass der Staat zwar im Jahr 2020 eine Impfpflicht gegen Masern für Beschäftigte in Bildungseinrichtungen eingeführt hat, hiervor aber ausgerechnet im Fall Corona mit Blick auf Pflegeheime zurückschreckt. Die Zeiten, in denen Spitzenpolitiker wie Anrufbeantworter nur von sich geben mussten, was Interessengruppen ihnen zuvor aufs Band gesprochen hatten, sind ebenso vorbei, wie die Spielräume für das Kamellewerfen erschöpft sind. Politische Führung ist nicht möglich ohne die Bereitschaft, beim Wahlvolk für das Erforderliche zu werben und es durchzusetzen – notfalls auch um den Preis der eigenen Abwahl. 

Deutschland hat es am 26. September 2021 in der Hand, wem es diese Rolle zutraut.

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige