Ehemaliger Charité-Chefvirologe - „2G weckt falsche Sicherheit“

Die vierte Welle ist da: Die Infektionszahlen steigen, Intensivstationen und Krankenhäuser verzeichnen wachsende Einweisungen. Nun werden die Debatten um eine flächendeckende 2G-Regelung und eine Impfpflicht lauter. Prof. Detlev Krüger, ehemaliger Chef-Virologe der Berliner Charité, sieht das kritisch.

„2G ist nicht automatisch sicherer, da wird ein falscher Eindruck erweckt“, sagt der Virologe Detlev Krüger / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

So erreichen Sie Ulrich Thiele:

Anzeige

Herr Krüger, im Januar haben Sie in einem Gastbeitrag für Cicero geschrieben: „Wir werden also in den nächsten Monaten sehr wichtige neue Einsichten in die Effektivität des ausgelösten Schutzes und in die Praktikabilität des Einsatzes von ganz unterschiedlichen Impfstoffen gewinnen. (…) Bis diese notwendigen Erkenntnisse akkumuliert sind, ist jeder Gedanke an eine Impfpflicht abwegig.“ Zehn Monate später steht die Impfpflicht zur Debatte. Zu Recht?

Die gegenwärtig genutzten Impfstoffe haben wegen der existierenden Notlage sogenannte „bedingte Marktzulassungen“ durch die Europäische Arzneimittelagentur erhalten, deren Verlängerungen beantragt sind. Ich bin nach wie vor nicht für eine Impfpflicht, sondern für eine aufgeklärte Bevölkerung, die frei entscheidet. Ich will auch nicht, dass eine falsche Sicherheit existiert. Eine Idee hinter einer Impfpflicht ist, dass man mit einer vollständigen Durchimpfung die Infektionsausbreitung beherrscht. Das ist leider zu kurz gegriffen, auch deshalb, weil sich in letzter Zeit immer mehr herausgestellt hat, dass auch Geimpfte das Virus weitergeben können. Wir werden uns also endlich mit dem Gedanken vertraut machen müssen, dass das Coronavirus uns wie viele andere menschenpathogene Viren weiterhin begleiten wird.

Bei Geimpften ist der Krankheitsverlauf aber leichter als bei Ungeimpften, die überproportional häufig auf Intensivstationen landen.

Das ist richtig. Es ging aber soeben um die Frage, ob eine Impfung einen sogenannten Fremdschutz vermittelt und vollständig verhindert, dass das Virus weiter in der Bevölkerung zirkuliert. Was Sie jetzt ansprechen, ist der sogenannte Eigenschutz. Wer geimpft ist, wird weniger häufig oder weniger schwer krank. Deswegen ist es so wichtig, insbesondere die Alten und die Vorerkrankten – die wir vulnerable Gruppen nennen – wirksam zu immunisieren, um sie zu schützen und die Überlastung der Krankenhäuser zu vermeiden.

Hat eine zu große Sorglosigkeit bei Geimpften geherrscht?

Ja, diese Illusion wurde den Menschen ja auch gegeben. Nachdem sie anderthalb Jahre unter restriktiven Bedingungen gelebt haben, wurde ihnen vermittelt, sie könnten nun wieder normal leben. Deswegen plädiere ich dafür, dass es zur Erhöhung der Sicherheit auch weiter kostenlose Tests geben muss, zum Beispiel für Mitarbeiter in Pflegeheimen oder in Kliniken.

Also halten Sie eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen wie Pflegekräfte und Lehrer auch nicht für sinnvoll?

Ich bin eher für Aufklärung und sehe zudem die Gefahr eines falschen Sicherheitsgefühls. Wenn Lehrer, Ärzte, Kranken- und Altenpfleger immunisiert sind, wäre das natürlich gut: Es schützt die geimpften Personen und verringert die Weitergabe des Virus bis zu einem bestimmten Grad. Aber insbesondere die Personen, die Umgang mit vulnerablen Gruppen haben – unter den beiden von Ihnen genannten Berufsgruppen sind das die Pflegekräfte –, müssen trotzdem weiter getestet werden, weil die Impfung eben nicht zuverlässig die Verbreitung des Virus verhindert.

Woran liegt das?

Das hat unter anderem damit zu tun, dass das Virus sich genetisch verändert und jetzt in Deutschland die sogenannte Delta-Variante des Virus kursiert, die leichter übertragbar ist als das Ausgangsvirus. Der Impfstoff basiert immer noch auf dem ursprünglichen Virus. Durch die Antikörper und Immunzellen, die im geimpften Menschen induziert werden, ist die Delta-Variante aber leider schlechter angreifbar als das Ursprungsvirus. Weil das Virus sich verändert, werden die Impfstoffe mit der Zeit immer wieder angepasst werden müssen an neue Virusvarianten.

Wie sinnvoll ist angesichts dessen die 2G-Regelung?

Prof. Detlev Krüger

2G ist nicht automatisch sicherer als 3G, da wird ein falscher Eindruck erweckt. Wie gesagt, auch die Geimpften können infiziert sein und das Virus weitergeben. Trotzdem wird mit der 2G-Regelung eine indirekte Impfpflicht ausgeübt, weil sie die Ungeimpften trotz Testung weitestgehend ausschließt aus dem öffentlichen Leben. Das wird oft so absolut dargestellt: 2G sei sicher, und wer nicht mitmacht, ist böse. Ganz so einfach ist es aber nicht. Wir haben eine Impfung, bei der sich jetzt herausstellt, dass sie leider kürzer wirksam und wohl auch weniger effizient ist als zunächst von vielen erhofft. Deshalb hat auch die Ständige Impfkommission für die Älteren eine weitere Wiederholungsimpfung empfohlen.

Das heißt, den österreichischen Lockdown für Ungeimpfte dürften Sie kritisch sehen.

Ich weiß nicht, wie konkret in Österreich der Lockdown umgesetzt wird. Ich kann nur sagen, dass es sich in der letzten Saison, als es noch keine Impfungen gab und wir hauptsächlich auf Lockdowns gesetzt haben, als schwierig erwiesen hat, die Wirksamkeit der einzelnen Maßnahmen wirklich zu belegen. Das Virus ist ja ein saisonales, und die Zirkulation ging hauptsächlich dann zurück, als es wieder Sommer wurde. Klar, wenn man jeglichen physischen Kontakt zwischen Menschen unterbinden würde, könnten sie sich nicht gegenseitig infizieren. Aber so kann man in einer Gesellschaft ja nicht vorgehen. Wir können nicht auf alle Kontakte verzichten, damit macht man die Gesellschaft kaputt. Außerdem können wir uns nicht immer nur auf Corona konzentrieren.

Wie meinen Sie das?

Es gibt so viele andere Krankheiten, die unsere Intensivstationen voll machen, über die wir aber seit anderthalb Jahren kaum reden. Dass die Intensivstationen immer am Anschlag arbeiten, hat vor allem mit der Finanzierung unserer Kliniken zu tun. Keine Klinik hält sich freie Intensivbetten, sondern so viele, wie sie durchschnittlich belegen kann. Wenn dann so ein Ereignis wie Corona hinzukommt, sind die Kliniken natürlich überlastet, zumal schwerkranke Coronapatienten einen besonders hohen Betreuungsaufwand erfordern.

Was muss sich ändern?

Die Klinikfinanzierung und die Anerkennung des Personals müssen neu gedacht werden. Es ist überfällig, die Gehälter für das Pflegepersonal deutlich anzuheben und die Arbeitsbedingungen zu verbessern, zum Beispiel durch attraktivere Berufschancen und optimierte Arbeitszeitmodelle. Wir dürfen nicht zulassen, dass immer weniger betreibbare Klinik- und Intensivbetten existieren, weil das total überforderte Personal davonläuft. Ähnliches gilt übrigens auch für die Altenheime.

Wie schätzen Sie die Dynamik der vierten Welle verglichen mit letztem Jahr ein?

Die gegenwärtigen Meldungen der vierten Welle beruhen hauptsächlich auf der Wahrnehmung der stark ansteigenden Infektionsinzidenz. Damit ist gemeint, wie viele Menschen pro 100.000 positiv getestet wurden. Das ist ein wichtiger Indikator der Entwicklung des Infektionsgeschehens, aber letztlich nicht das entscheidende Kriterium – wesentlich ist, wie viele Leute am Ende krank werden und wie viele von ihnen in der Klinik und sogar auf der Intensivstation betreut werden müssen. Die Inzidenz selbst sagt dazu nur indirekt etwas aus.

Können Sie ein Beispiel nennen, wo die Inzidenz nicht aussagekräftig ist?

Zum Beispiel haben wir eine hohe Inzidenz unter Kindern. Das liegt auch daran, dass sie regelmäßig getestet werden in den Schulen und in den Kitas. Kinder werden aber nur ganz selten krank. Das ist also nicht so dramatisch wie die Tatsache, dass die Inzidenz in der älteren Bevölkerungsgruppe entgegen den Erwartungen immer noch viel zu hoch ist, obwohl mehr als 80 Prozent der Alten mindestens doppelt geimpft sind. Laut dem neuesten Bericht des Robert-Koch-Instituts liegt der Altersmedian der mit und wegen Corona Hospitalisierten bei 70 Jahren und der Verstorbenen bei 83 Jahren. Es ist also nach wie vor eindeutig die Krankheit der älteren oder der ganz alten Generation.

Sie haben vorhin gesagt, Sie wünschen sich eine aufgeklärte Öffentlichkeit. Angesichts all der unterschiedlichen Studien, auf die sich jeden Tag Menschen berufen – wie soll man da als Normalbürger den Überblick behalten?

Das ist wirklich ein Problem. Das Schlimme ist auch, dass die ganze Diskussion sich politisiert hat. Manchmal habe ich den Eindruck, es geht nicht um die beste inhaltliche Lösung, sondern jeder will recht haben und jeder reklamiert die Wahrheit für sich allein. Diese Art von Debattenkultur, die sich entwickelt hat, halte ich für furchtbar schädlich. Wissenschaft entwickelt sich weiter, sie lebt vom Meinungsstreit, und es gibt nicht die absolute Wahrheit. Niemand von uns allen kennt den einzig richtigen Weg heraus aus dieser Pandemie. Wir alle ringen um den besten Weg. Und das sollte uns ja eigentlich vereinen. Das Problem ist aber auch, dass Fachleute aus anderen Bereichen kaum eine Rolle in den Debatten spielen.

Welche Fachbereiche sollten präsenter sein?

Meines Erachtens sollte die Beratung der Politik durch eine breite Gruppe von Experten stattfinden, die bei der Justierung der Maßnahmen auch die Kollateralschäden für Wirtschaft und Kultur, aber auch für die physische und psychische Gesundheit und die Bildung der Kinder berücksichtigen. Wer Lockdowns durchführt, muss sich doch auch für jede Einzelmaßnahme die Frage stellen, welchen Nutzen sie bringt bei der Bekämpfung der Virusinfektion im Vergleich zu den Kollateralschäden, die gleichzeitig auftreten. Mit wirtschaftlichen Schäden meine ich übrigens nicht nur Unternehmensgewinne.

Sondern?

Wenn insgesamt der Reichtum einer Gesellschaft abnimmt, nimmt auch die Gesundheit der Bevölkerung ab, weil das Niveau der allgemeinen Gesundheitsversorgung annähernd direkt von der wirtschaftlichen Stärke eines Landes abhängt. Dies haben klügere Leute als ich schon längst festgestellt. Deswegen muss man die Komplexität dieser Dinge betrachten und nicht nur immerzu auf ein bestimmtes Virus schauen. Aber wenn wir schon bei den Viren sind: Die Gefährlichkeit der Influenzaviren und – vor allem bei Kindern – des Respiratorischen Syncytialvirus wird in der Öffentlichkeit leider völlig unterschätzt.

Wie haben Sie die Debatte um Sahra Wagenknecht verfolgt, die gesagt hat, sie habe sich noch nicht impfen lassen, weil sie Sorgen vor Langzeitfolgen hat? Sie hat es damit begründet, dass es jetzt kein klassischer Impfstoff sei, sondern ein genetischer Code. Karl Lauterbach erwiderte, sie würde Unsinn reden.

Ich habe diese Szene nicht gesehen. Aber ich nehme an, dass mit Langzeitfolgen mögliche Spätfolgen gemeint sind, die nicht unmittelbar sichtbar werden. Natürlich könnte es theoretisch welche geben, von denen ich hoffe, dass sie nicht eintreten werden und die beim gegenwärtigen Wissensstand auch nicht wahrscheinlich sind. Ich bleibe dabei, dass die Impfung insbesondere für Ältere und Vorerkrankte der beste Weg des persönlichen Schutzes ist. Ich kann mir selbstverständlich auch gut vorstellen, dass es in der Zukunft bessere als die gegenwärtigen Impfstoffe gibt. Aber die Coronapandemie existiert heute, und ihre Bekämpfung – möglichst durch sinnvolle Maßnahmen – duldet leider keinen Aufschub.

Sollte auch die Impfung der Kinder einen Schwerpunkt bilden?

Ich würde immer Nutzen und Risiken abwägen, so wie alles im Leben eine Abwägungssache ist. Aus meiner Sicht ist bei Älteren und Vorerkrankten völlig klar: Die Impfung ist richtig, wenn ich das enorme Krankheitsrisiko in dieser Gruppe mit den möglichen, aber geringeren Impfrisiken vergleiche. Bei Kindern sollte man Nutzen und Risiken viel stärker abwägen, weil Kinder ohne Vorerkrankungen zum Glück bei Infektion mit dem Coronavirus äußerst selten schwer erkranken, aber noch ein langes Leben vor sich haben. Außerdem sollten die Kinder nicht in Haftung genommen werden für die Frage, wie wir die Viruszirkulation in der Bevölkerung insgesamt eindämmen können. Da wir wissen, dass auch Geimpfte das Virus weitergeben können, ist dieses Einfordern der Solidarität durch Kinder zumindest diskussionswürdig. Kinder sind eine Gruppe, die mit dieser ganzen Krankheit am wenigsten zu tun hat, die aber in den letzten Jahren fast die meisten Einschränkungen erleiden musste.

Die Fragen stellte Ulrich Thiele.

Anzeige