Unwissende Wähler - Schon zwei Stimmen sind eine zu viel

Laut Allensbach weiß die Mehrheit der Deutschen nicht, ob die Erst- oder die Zweitstimme wichtiger ist. Da drängt sich die Frage auf, ob in diesem Land nicht ein ganz schlichtes Wahlverfahren dem Unwissen der Wähler entgegenkäme – reine Mehrheits- oder reine Listenwahl. Auf alle Fälle leicht verständlich.

Ein Wahlraum bei der letzten Bundestagswahl im hessischen Nidderau / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Victor Hugo hatte Recht: „Wenn der Stimmzettel gesprochen hat, hat die höchste Instanz gesprochen.“ Nun ist den wenigsten Menschen jemals ein sprechender Stimmzettel begegnet. Gleichwohl gilt: Die Wähler als höchste Instanz bestimmen mit dem Stimmzettel die Richtung der Politik.

Freilich gilt auch hier: Man sollte wählen können. Da scheinen die Deutschen so ihre Schwierigkeiten zu haben. Klar, eine Partei auf einem Stimmzettel anzukreuzen, setzt kein abgeschlossenes Studium voraus. Doch schon bei zwei Stimmen – die Erststimme für einen Kandidaten im Wahlkreis und die Zweitstimme für eine Parteiliste – haben im Volk der Dichter und Denker mehr Menschen ein Problem.

Nun schafften es bei der Bundestagswahl 2021 insgesamt 99,1 Prozent der Wähler, die Erststimme korrekt zu vergeben; bei der Zweitstimme waren es 98,9 Prozent. Anders ausgedrückt: Die Zahl der ungültigen Stimmzettel lag bei 0,9 und 1,1 Prozent, sogar etwas weniger als 2017, als 1,1 beziehungsweise 1,2 Prozent der Erst- und Zweitstimmen ungültig waren.

Fast eine halbe Million Wähler konnte nicht bis zwei zählen

Nun ist nicht jeder Stimmzettel ungültig, weil ein Wähler zu dumm oder zu doof war, die zwei Kreuze korrekt in der Erst- und Zweitstimmen-Rubrik zu platzieren. Es kommt durchaus vor, dass ein Wähler nur seine Erststimme oder nur seine Zweitstimme abgibt. Dann ist diese zwar gültig. Die nicht abgegebene Erst- oder Zweitstimme wird aber als ungültig gewertet. 

Es gibt auch Wähler, die ganz bewusst ihren Stimmzettel komplett ungültig machen, indem sie ihn durchstreichen oder ihn mit irgendwelchen Kommentaren versehen, weil sie damit ihren Protest ausdrücken wollen – gegen „die da oben“ oder gegen die Demokratie. Schon ein „Smiley“ hinter einem Parteinamen macht das Votum wertlos. Wie viele der immerhin 492.495 ungültigen Erststimmen aus Protest oder aus Unvermögen ungültig waren, weiß niemand.

Zweitstimme – das unbekannte Wesen

Wenn 99 von 100 Wählern gültige Stimmzettel abgeben, heißt das noch lange nicht, dass es sich hier um die vielbeschworenen mündigen Bürger handelt. Denn bei der Unterscheidung von Erst- und Zweitstimme sind die meisten Wähler überfordert, wie eine Erhebung des „Institut für Demoskopie Allensbach“ für die FAZ ergeben hat. 

Eine Frage der Wahlforscher lautete: „Bei der Bundestagswahl kommt es ja vor allem darauf an, wie viele Abgeordnete eine Partei in den Bundestag bringt. Wissen Sie zufällig, welche Stimme für die Stärke der Parteien im Bundestag den Ausschlag gibt: die Erststimme oder die Zweitstimme, oder sind beide gleich wichtig?“ 

Das bedenkliche oder erschreckende Ergebnis: Nur 42 Prozent der Befragten wussten, dass die Zweitstimme für die Sitzverteilung im Bundestag entscheidend ist. 58 Prozent machten dagegen falsche Angaben oder antworteten mit „Weiß nicht“. Die „höchste Instanz“ stimmt also ab, weiß aber nicht so genau, wie.

Politische Bildung: mangelhaft

Thomas Petersen von Allensbach kommentierte das so: Man müsse diese Ergebnisse als Ausweis „deutlicher Defizite in der politischen Bildungsarbeit“ deuten. Zudem habe sich am Wissensstand der Bürger im Vergleich zu Befragungen aus früheren Jahrzehnten nicht viel geändert. Mit anderen Worten: Beim Thema Wählen haben die Deutschen in den letzten Jahrzehnten nichts dazugelernt, jedenfalls nicht die Mehrheit.

Nun hat das geltende Zwei-Stimmen-Wahlsystem durchaus einen gewissen Charme, aber nur für die, die es verstehen. Denn es erlaubt, strategisch zu wählen. So gaben bei der letzten Bundestagswal nur 69 Prozent derer, die mit der Zweitstimme die Grünen gewählt haben, den vielfach aussichtslosen Direktkandidaten der Öko-Partei ebenfalls ihre Erststimme. 17 Prozent hingegen stimmten für den SPD-Bewerber in ihrem Wahlkreis. Ein klares Votum für Rot-Grün oder Grün-Rot.

 

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Ganz ähnlich verhielten sich die Wähler der Freien Demokraten. Von ihren Zweitstimmen-Wählern machten nur 55 Prozent bei den FDP-Direktkandidaten ihr Kreuz, 21 Prozent dagegen bei CDU/CSU-Bewerbern. Darin spiegelte sich die Hoffnung auf ein gemeinsames Regieren von Union und FDP wider. 

Die FDP hat freilich so gut wie nirgends eine Chance auf ein Direktmandat. Deshalb wäre es eigentlich logisch gewesen, wenn mehr als 45 Prozent Zweitstimmen-Wähler der FDP die Erststimme nicht ebenfalls zugunsten der FDP abgegeben hätten. Offensichtlich scheint das Wissen um die unterschiedliche Bedeutung von Erst- und Zweitstimme auch nicht allen Anhängern der Freien Demokraten geläufig zu sein. 

Schon bei zwei Stimmen überfordert

Wenn Wähler schon bei zwei Stimmen überfordert sind, stellt sich die Frage, wie sinnvoll es wäre, ihnen zusätzliche Möglichkeiten einzuräumen, den Wählern mit mehr Stimmen mehr Mitbestimmung zu gewähren. So könnte man ihnen erlauben, einzelnen Kandidaten mehrere Stimmen auf der Liste („kumulieren“) zu geben oder auch Bewerber auf unterschiedlichen Listen mit Stimmen zu bedenken („panaschieren“). Das würde – so die Theorie – die Macht der Parteien bei der Vergabe der mehr oder weniger sicheren Listenplätze stark einschränken. Dann könnten Bewerber, wie bei Kommunalwahlen, von hinteren Plätzen nach vorne gewählt werden, ob das dem Funktionärsapparat gefällt oder nicht. 

Der Wahlforscher Petersen ist da angesichts des ohnehin geringen Wissens um Erst- und Zweitstimme skeptisch. Er meint: „Dann drängt sich nämlich die Frage auf, ob es wirklich der Bindung der Bürger an die Politik dient, dass die Wähler Dutzende Stimmen zum ,Kumulieren‘ und ,Panaschieren‘ bekommen.“ 

Beim Kumulieren und Panaschieren blicken viele nicht durch

Aus der Sicht der Befürworter von mehr Wahlmöglichkeiten bieten Kommunalwahlen, bei denen in den meisten Ländern kumuliert und panaschiert werden kann, aufschlussreiche Erkenntnisse. In Frankfurt am Main hatten die Bürger bei der Kommunalwahl 2021 die Wahl zwischen 28 Wahlvorschlägen mit 1105 Bewerbern für die 93 Sitze in der Stadtverordnetenversammlung. Jeder Wähler hatte 93 Stimmen, die er quer über alle 28 Listen verteilen konnte. Je Kandidat konnte er bis zu drei Stimmen vergeben. „Mehr Wahl“ geht eigentlich nicht. 

Zwei Ergebnisse sind aufschlussreich. Erstens: Vom Kumulieren und Panaschieren machten nur vier von zehn Frankfurter Wählern Gebrauch. Sechs kreuzten eine Liste an – und fertig. Zweitens: Die Zahl er ungültigen Stimmzettel belief sich auf fünf Prozent, also fünfmal so hoch wie bei der Bundestagswahl. Offensichtlich waren viele Bürger schlichtweg überfordert, auf dem couchtischgroßen Stimmzettel jeweils bis drei beziehungsweise bis 93 zu zählen.

Ein Kreuz – und basta?

Die Qual der Wahl haben nicht nur die Bürger beim Ausfüllen ihrer Stimmzettel. Die Qual der Wahl haben auch die Politiker, wenn es um das „richtige“ Wahlsystem geht. Die Kriterien „einfach“ und „verständlich“ korrelieren nicht mit der Idealvorstellung, dem Wähler ein möglichst großes Maß an Mitbestimmung einzuräumen. 

Einfach und verständlich wären zwei Wahlverfahren: Das reine Mehrheitswahlrecht und die reine Listenwahl. Beim Mehrheitswahlrecht hat der Wähler eine Stimme. Der Kandidat mit den meisten Stimmen im Wahlkreis kommt in den Bundestag. Alle anderen gehen leer aus. Beim reinen Listenwahlrecht gibt der Wähler seine Stimme einer Partei. Je mehr Stimmen eine Partei erhält, umso mehr Kandidaten kommen zum Zug, und zwar in ihrer Reihenfolge auf der Liste. 

Beide Systeme haben Vor- und Nachteile gegenüber der aktuell praktizierten „personifizierten Verhältniswahl“ wie gegenüber der von der Ampel durchgesetzten Variante. Das Mehrheitswahlrecht ginge zu Lasten der kleineren Parteien. Bei der reinen Listenwahl fiele fast jeglicher direkte Bezug zwischen den Abgeordneten und ihren Wählern weg. Aber beide Systeme hätten einen unschätzbaren Vorteil: Die Wähler als „höchste Instanz“ würden – anders als heute – wenigstens verstehen, was sie mit ihrer Stimme anstellen.

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