Debatte über NRW-Wahl bei Anne Will - Mit dem Mut der Verzweiflung

Für SPD und FDP endete die nordrhein-westfälische Landtagswahl in einem Fiasko, die Grünen hingegen triumphierten. Dadurch erhöhen sich die Fliehkräfte in der Bundesregierung. Deswegen wurde bei Anne Will auch kaum über NRW gesprochen, sondern über Bundespolitik, die Ampel – und über Olaf Scholz. Rot, Grün und Gelb wollten Zusammenhalt demonstrieren, obwohl die Realität ganz anders aussieht.

Die Talkrunde von Anne Will an diesem Sonntagabend / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Dieses Ergebnis der nordrhein-westfälischen Landtagswahl macht den Ampelkoalitionären im Bund das Regieren natürlich nicht leichter: SPD und FDP verlieren im bevölkerungsreichsten Bundesland massiv an Zustimmung, während die Grünen als große Gewinner aus diesem Wahltag herausgehen. Warum ist das so? Wer profiliert sich hier auf Kosten von wem? Und passen Rot, Grün und Gelb wirklich so gut zusammen, wie es deren Protagonisten mit der Überschrift ihres Koalitionsvertrags („Mehr Fortschritt wagen“) glauben machen wollten? Darum ging es am Sonntagabend natürlich auch in der Sendung von Anne Will. Und allein die Tatsache, dass in der Runde nicht ein einziger Landespolitiker aus Nordrhein-Westfalen vertreten war, macht die bundespolitische Bedeutung des jüngsten Urnengangs deutlich. Oder hat man in Wills Talkshow-Redaktion einfach kein Interesse an landespolitischen Themen?

Um NRW ging es in der Debatten-Nachbereitung dieser Landtagswahl jedenfalls bloß am Rande. Und mit dem CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn stammte denn auch nur ein einziger Teilnehmer aus dem Bundesland, das am Sonntag ja offiziell im Fokus stand. Die anderen Gäste haben ihre Wurzeln in Baden-Württemberg (Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang), in Niedersachsen (SPD-Chef Lars Klingbeil und der FDP-Bundestagsfraktionsvorsitzende Christian Dürr) oder in Berlin (Zeit-Journalistin Mariam Lau). Immerhin Anne Will selbst ist gebürtige Kölnerin, aber das machte sich auch nicht wirklich bemerkbar. Kurzum: Es drehte sich einzig und allein darum, was das Wahlverhalten der Nordrhein-Westfalen für die Berliner Bubble bedeutet und welche Koalitionsoptionen dem Wahlsieger Hendrik Wüst (CDU) vor diesem Hintergrund jetzt offen stehen. Am Schluss wurde auch noch ein bisschen über die Inflation diskutiert.

Die vermeintliche Logik der Ampel verteidigen

Natürlich waren Klingbeil, Lang und Dürr peinlichst darum bemüht, den Zusammenhalt und die vermeintlich fast schon zwingende innere Logik der Ampel zu verteidigen – wenn auch das Ergebnis des gestrigen Wahltags exakt vom Gegenteil zeugt. Laut Klingbeil ist auch das von ihm beschworene „sozialdemokratische Jahrzehnt“ wegen des Wahlausgangs keineswegs in Frage gestellt – zumal er in der Sendung nicht ausschließen wollte, dass es in Düsseldorf vielleicht doch zu einem rot-grün-gelben Regierungsbündnis kommt. So richtig überzeugt schien der SPD-Vorsitzende bei diesem Gedankenspiel allerdings selbst nicht zu sein: Es liege nun an Wüst, mit allen Beteiligten zu reden und zu sondieren, wo es „inhaltlich passt“. Auf den Einwurf von Anne Will, nach der vorigen Bundestagswahl habe sich die SPD über solcherlei Überlegungen des CDU-Wahlverlierers Armin Laschet geradezu empört, entgegnete Klingbeil: Die Sozialdemokraten würden Hendrik Wüsts Wahlsieg ja immerhin anerkennen. Was offenbar nicht heißen muss, dass dessen unterlegener Konkurrent Thomas Kutschaty von der SPD nicht doch noch Chancen hat, Ministerpräsident zu werden.

Jens Spahn fand diesen Einwand natürlich einigermaßen albern und erinnerte daran, dass in NRW die CDU doch immerhin fast zehn Prozentpunkte vor der SPD liegt, die Ausgangslage also mithin ziemlich eindeutig sei. Was aber gleichwohl nicht bedeute, dass die Christdemokraten jetzt (wie von Will insinuiert) auf die Grünen „angewiesen“ wären. Rein rechnerisch mag das stimmen, aber eine GroKo in NRW ist nach derzeitigem Stand doch reichlich unwahrscheinlich; es scheint alles auf Schwarz-Grün hinauszulaufen. Aus Sicht von Spahn wäre dies offenbar auch die richtige Kombination, um „Industrieland zu bleiben und Co2-neutral zu werden“. Was wohl heißen soll: Auch mit uns Christdemokraten kann man „mehr Fortschritt wagen“ (vielleicht sogar mehr als mit der SPD).

Ricarda Lang wirkte bei alledem erstaunlich bräsig – gerade, wo doch ihrer Partei allem Anschein nach die Zukunft gehört: Die Grünen können sich ja nicht nur über gute Wahlergebnisse freuen, sondern werden neuerdings auch von den politischen Wettbewerbern fast nur noch mit Lob überschüttet. Der Vorsitzenden schien dazu aber nicht viel einfallen zu wollen, sie kostete ihren Triumph allerdings auch nicht aus und mäanderte zwischen Schlagworten wie „Wandel gestalten“, „Zukunftsregierung“ oder „soziale Gerechtigkeit“ umher. Um schließlich anzumerken, die Bundespolitik habe bei der NRW-Wahl keine große Rolle gespielt.

Wenn es so gewesen wäre, könnte sich Christian Dürr zwar nicht freuen, aber er müsste auch nicht verzweifelt versuchen, von der Performance der FDP in der Bundesregierung abzulenken. Dass den Liberalen derzeit alle Felle davonschwimmen, ist nach den drei zurückliegenden Landtagswahlen völlig unzweifelhaft. Ob das wohl nur an den jeweils regionalen Besonderheiten des Saarlands (FDP nicht im Landtag vertreten), von Schleswig-Holstein (minus 5,1 Prozent) oder von Nordrhein-Westfalen (halbierter Stimmenanteil) gelegen hat? Dürr jedenfalls sprach von einer „bitteren Wahlniederlage“ und erklärte diese damit, das FDP-Spitzenpersonal in Nordrhein-Westfalen sei eben nicht so prominent gewesen (gemeint war Joachim Stamp, immerhin stellvertretender Ministerpräsident). Netter Versuch.

„Das ganze Denken passt so nicht“

Klingbeil nahm diese Deutungsweise natürlich gern auf, ohne seinerseits Kutschaty beim Namen zu nennen. Auf Anne Wills Frage, ob es ein Fehler gewesen sei, Bundeskanzler Olaf Scholz im NRW-Wahlkampf in den Vordergrund geschoben zu haben, antwortete der oberste Genosse: „Das ganze Denken passt so nicht.“ Die SPD kämpfe geschlossen, der Bundeskanzler genieße hohes Ansehen. Und überhaupt sei Scholzens Vorgehensweise im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg – eine Situation, für die es kein Drehbuch gebe – völlig richtig: Er versuche, für Deutschland das beste Ergebnis zu erzielen, und wenn am Ende dieses Krieges zu lesen sei, der Kanzler habe vielleicht zwei Wochen lang zu wenig kommuniziert, „dann ist das für mich fein“.

Weniger fein stellt sich die Lage für die Journalistin Mariam Lau dar. Sie bezeichnete das NRW-Wahlergebnis unumwunden als einen „Denkzettel für die Ampel“ und eine „Ansage“ in Richtung von Olaf Scholz, der mit seinem arroganten Auftreten, seiner Intransparenz und einer Wischiwaschi-Politik in Sachen Waffenlieferungen an die Ukraine sein Ansehen weitgehend ruiniert habe. Vizekanzler Robert Habecks Methode hingegen, der auch seine eigenen Zweifel nach außen sichtbar mache und damit Kommunikation „für Erwachsene“ betreibe, hat Lau zufolge gut funktioniert. Ihr Fazit: Scholz ist nach dieser Wahl beschädigt, auch weil er vorher posaunt habe, der nächste Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen werde ein Sozialdemokrat sein.

Dies wiederum brachte die Grüne Ricarda Lang und den Liberalen Christian Dürr dazu, heftig zu widersprechen. Nach dem Motto: War ja nur eine Landtagswahl, hat für Berlin alles nichts zu sagen! Bei Lang wirken solche Beschwichtigungen generös, bei Dürr eher verzweifelt. Er betonte denn auch mehrmals die Entscheidungsfähigkeit der Ampelregierung und erklärte den jüngsten Eklat im Verteidigungsausschuss (FDP-Politiker hatten am Freitag aus Protest gegen den Bundeskanzler die Sitzung verlassen) als Folge unangemessenen Verhaltens eines FDP-Abgeordneten. Souverän klingt das eher nicht.

Jens Spahn erinnerte die SPD zwischendurch mit einer gewissen Süffisanz daran, dass es offenbar nicht an der Rolle des Juniorpartners in einer Regierung liege, wenn sie (wie jetzt in NRW) Wählerstimmen verliert. Das war bekanntlich über Jahre hinweg die Erklärung der Sozialdemokraten für ihre langanhaltende Misere in der Großen Koalition: eine Legende, die neuerdings nicht mehr funktioniert. Spahn, offenbar mittlerweile gut in der Rolle des Oppositionspolitikers angekommen, gestand der Ampel-Regierung großzügig zu, diese sei „hoffnungsvoll gestartet“, scheitere jetzt aber immer häufiger an ihren Bruchlinien – von der Impfpflicht über den Kampf gegen die steigenden Energiepreise bis eben hin zur Frage der Waffenlieferungen an Kiew.

Inflation: Was sagt der Kanzler?

Die letzten 20 Minuten der Sendung hatten dann endgültig nichts mehr mit Nordrhein-Westfalen im Besonderen zu tun, stattdessen drehte sich das Gespräch um Entlastungspakete und sonstige Bemühungen der Bundesregierung, die grassierende Inflation abzumildern. Wenig überraschendes Fazit der Ampelpolitiker Klingbeil, Lang und Dürr: Man tue was man könne, in allen möglichen Bereichen. Wobei der Liberale Dürr immerhin nicht nur schiere Umverteilung in den Vordergrund stellte, sondern auch daran erinnerte, der Wohlstand müsse erarbeitet und der Freihandel wieder ausgebaut werden.

Während Jens Spahn den Bundeskanzler kritisierte, weil dieser bisher öffentlich noch kein Wort zur Inflation gesagt habe, wurde Lau am Schluss der Sendung noch einmal besonders deutlich: Das klassische Wohlstandsmodell der Bundesrepublik werde sich in der gewohnten Form nicht mehr halten lassen. Das dürfte tatsächlich so sein, die von Scholz beschworene „Zeitenwende“ geht zweifellos weit über verteidigungspolitische Anforderungen hinaus. Aber Antworten darauf, was aus alledem folgt und welchen Weg die „Mehr Fortschritt wagen“-Regierung daraus ableitet, waren nicht zu erahnen. Es ging ja auch nur um eine Landtagswahl. Zumindest offiziell.

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