Dammbruch bei Cum-Ex-Ermittlungen - „Wir haben einen Kanzler, der ein Lügner ist“

Überraschung im Cum-Ex-Prozess: Ein Ex-Banker der Hamburger Warburg-Bank hat ein Geständnis abgelegt. Der Investigativ-Journalist Oliver Schröm spricht von einem Dammbruch. Im Interview erklärt er, wie es nun für Ex-Warburg-Chef Christian Olearius, Bundeskanzler Olaf Scholz und Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher weitergeht – und wie ein bis in die Justiz reichender SPD-Filz in Hamburg die verwickelten Politiker schützt.

Olaf Scholz und Peter Tschentscher: tiefenentspannt dank Hamburger SPD-Filz? / dpa
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Autoreninfo

Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Der Investigativjournalist Oliver Schröm arbeitet für die Sendung „Panorama“. Er hat die vergangenen acht Jahre maßgeblich an der Aufdeckung des Cum-Ex-Skandals mitgewirkt. Auch die Öffentlichwerdung von Olaf Scholz‘ Verstrickungen ist ihm und seinem Team zu verdanken (lesen Sie hier eine ausführlichere Zusammenfassung der Verstrickungen). Jüngst hat Schröm ein Buch über seine Recherchen veröffentlicht: „Die Cum-Ex-Files. Der Raubzug der Banker, Anwälte und Superreichen – und wie ich ihnen auf die Spur kam“ (Ch.Links Verlag, 368 Seiten, 18 Euro).

Herr Schröm, der ehemalige Geschäftsführer von Warburg-Invest, eine Tochterfirma der Hamburger Warburg-Bank, hat am 13. Verhandlungstag des dritten Cum-Ex-Prozesses in Bonn überraschend eingeräumt, an den Cum-Ex-Deals mitgewirkt zu haben und trotz Bedenken die „Augen geschlossen und immer weitergemacht“ zu haben. Inwiefern ist sein Geständnis ein Dammbruch, wie Sie auf Twitter geschrieben haben?

Es ist ein Signal in die Cum-Ex-Szene hinein, aber besonders an die Beschuldigten aus der Warburg-Gruppe – und davon gibt es eine ganze Reihe, vorneweg der Bankmitinhaber Christian Olearius. Denn dem Angeklagten hatte der Richter zuvor klargemacht, dass er auf dem Weg zu einer satten Gefängnisstrafe ist, wenn er sich weiter rausredet. Noch am Montag hatte er trotz etlicher Ungereimtheiten behauptet, von nichts gewusst zu haben und damit den Richter in Rage versetzt. Das Faszinierende bisher war, dass die ganzen Warburg-Leute um Christian Olearius über die Jahre stur an dem Narrativ festgehalten haben, sie seien unschuldig, die anderen seien schuld, die Deutsche Bank oder der Steueranwalt Hanno Berger, einer der Hauptakteure im Cum-Ex-Skandal, der zu den Deals beriet. Aber jetzt spricht der frühere Geschäftsführer von Warburg Invest und belastet Olearius mit niederschmetternden Aussagen.

Womit belastet er ihn?

Er hat gesagt, dass Olearius an den Aufsichtsratssitzungen von Warburg Invest nicht nur teilgenommen, sondern die Gesprächsleitung an sich gezogen hat, obwohl er keine offizielle Aufsichtsratsfunktion hatte – und dass dabei auch über Cum-Ex geredet wurde. Das heißt, Olearius war aus erster Hand eingebunden. Außerdem hat er gesagt, dass der Kontakt zu Hanno Berger exklusiv über Olearius lief. Hanno Berger hatte Gutachten zu den Deals erstellt, die sie legitimieren sollten. Der Ex-Banker hat sie nun als Feigenblatt-Gutachten bezeichnet und gesagt, dass alle darüber Bescheid wussten, auch Olearius. Die Beweiskette ist erschütternd dicht. Wenn man die Akten kennt, ist alles so klar und es ist unerklärlich, wie jemand so eisern an seiner Unschuld festhält.

Wie geht es jetzt weiter?

Zwei weitere Warburg-Mitarbeiter sind eigentlich mit angeklagt, ihre Verfahren wurden nur von dem mittlerweile dritten Cum-Ex-Prozess in Bonn abgetrennt. Ihnen wird als nächstes der Prozess gemacht. Nach dem Auftritt ihres ehemaligen Kollegen kann ich mir nicht vorstellen, dass sie weiter mit der Taktik fahren, den Kopf in den Sand zu stecken und zu hoffen, dass es schon gut gehen wird. Der frühere Generalbevollmächtigte der Warburg-Bank wurde ja bereits zu fünfeinhalb Jahren verurteilt. Ich glaube, dass im ersten Quartal dieses Jahres über seine Revision entschieden wird, und ich vermute, sie wird abgeschmettert. Das heißt, dieses Jahr wird der erste Warburg-Banker wohl ins Gefängnis müssen, und dann können Sie Copy und Paste für die Anklage gegen Olearius machen. Ich befürchte nur, wenn es zum Prozess kommt, wird ein erstes ärztliches Attest auftauchen und ihn als nicht verhandlungsfähig ausweisen.

Was bedeutet dieser Dammbruch für Olaf Scholz, der unter Verdacht steht, 2016 als damaliger Erster Bürgermeister Hamburgs Olearius geholfen zu haben, die ergaunerten Steuergelder nicht zurückzahlen zu müssen?

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Es wird Wechselwirkungen geben, wie es sie schon vorher durch die Prozesse in Bonn gab. In Bonn wurde schon die Finanzbeamtin Frau P. als Zeugin aufgerufen – und mittlerweile bringt sie Scholz und Tschentscher in Erklärungsnöte.

Frau P. war 2016 als Finanzbeamtin für die Warburg-Bank zuständig und sprach sich anfangs für eine Rückforderung der Cum-Ex-Gelder aus, plötzlich änderte sie ihre Meinung radikal. Nachdem sie 2021 als Zeugin vors Landesgericht Bonn geladen wurde, schrieb das Hamburger Abendblatt, sie habe Scholz und Tschentscher entlastet. Aber kurz nach der Bundestagswahl kam es zu Razzien unter anderem im Hamburger Finanzamt und auch bei Frau P. Ihr werden Begünstigung, Strafvereitelung, Geldwäsche und Untreue vorgeworfen, die Ermittlungen laufen noch.

Jetzt wird es wieder eine solche Wechselwirkung geben, nachdem ein ehemaliger Geschäftsführer aus der Warburg-Gruppe eingeräumt hat, dass Olearius Bescheid wusste. Da werden sich ein paar Politiker wie Scholz und Tschentscher fragen lassen müssen, ob sie jahrelang angelogen wurden oder ob sie nicht doch Bescheid wussten. Ich glaube, man muss diesen ganzen Scholz-Olearius-Vorgang nochmal durchgehen, weil er so unglaublich ist: Da wurde die Warburg Bank von Betriebsprüfern erwischt, mit Cum-Ex-Deals 170 Millionen Euro aus der Hamburger Staatskasse gestohlen zu haben. Olearius ließ sich von Scholz einen Termin geben und wurde von ihm im Amtszimmer empfangen.

Gegen Olearius wurde zu der Zeit wohlgemerkt schon wegen schwerer Steuerhinterziehung ermittelt.

Und durch den Untersuchungsausschuss wissen wir heute, dass Scholz im Vorfeld davon wusste, weil er von der Wirtschaftsbehörde gewarnt und ein Sprechzettel für ihn vorbereitet wurde. Das ist ein unglaublicher Vorgang, dass der Beschuldigte eines schweren Verbrechens auf den Bürgermeister eines Stadtstaates zugeht und der ihm auch noch hilft, indem er Papiere entgegennimmt, ihn mehrmals trifft und ihn proaktiv anruft, um ihn an Peter Tschentscher zu verweisen und somit den damaligen Finanzsenator einbindet, obwohl der gar nicht zuständig ist und als Politiker sich aus der Arbeit des Finanzamtes heraushalten muss. Scholz hätte eigentlich sagen müssen: „Die Sache gehört zum Finanzamt, suchen Sie sich einen guten Anwalt, Sie haben ein Strafverfahren am Hals.“ Aber nur acht Tage, nachdem das Papier bei Tschentscher auf dem Tisch lag, erhielt Olearius die Nachricht, dass die Stadt eine Rückforderung in Höhe von 47 Millionen doch nicht zurückverlange und die Ansprüche somit steuerrechtlich verjährten. Es ist eine unglaublich dichte Indizienkette, die Bände spricht.

Bislang hat sie Scholz nicht geschadet. Mittlerweile ist er Bundeskanzler, der zweitbeliebteste Politiker des Landes und wurde wegen der angeblichen „Erinnerungslücken“, auf die er sich beruft, juristisch nicht belangt.

Es ist mir ein Rätsel, warum das im Wahlkampf keine Rolle gespielt hat und warum der ganz große Aufschrei in den Medien ausgeblieben ist. Was die „Erinnerungslücken“ angeht: Scholz musste mehrfach vor dem Finanzausschuss des Bundestages aussagen und konnte sich auf Nachfrage der Abgeordneten minutiös erinnern, wann er Olearius in der Elbphilharmonie getroffen und über Harmloses geredet hat. Aber an ein Treffen mit einem mutmaßlich Kriminellen, in dem es um 47 Millionen Euro Steuerrückzahlungen geht, kann er sich nicht erinnern? Das ist nicht glaubwürdig.

Trotzdem war er bisher nicht handfest angreifbar.

Verschweigen gilt vor Gericht als Lügen und ist strafbar. Nachdem wir bei Panorama und in der Zeit im Februar 2020 über eines der Treffen von Scholz mit Olearius berichtet hatten, hat Scholz auf Nachfrage von Abgeordneten im Finanzausschuss zwei vorherige Treffen mit Olearius verschwiegen. Als die im September 2020 durch unsere weiteren Recherchen bekannt wurden, weil Olearius sie in seinem Tagebuch festgehalten hat, hat Scholz die Strategie geändert und plötzlich gesagt, er könne sich an nichts erinnern. Ein Richter würde ihn in einem Indizienprozess mit den Ungereimtheiten konfrontieren und gnadenlos wegen Falschaussage verurteilen. Der Richter in Bonn hat es so gemacht, als er den ehemaligen Warburg-Banker konfrontierte und so zum Geständnis drängte: „Erzählen Sie uns nichts! Halten Sie uns nicht für naiv!“ Auch bei Scholz liegen die Indizien alle offensichtlich auf dem Tisch. Deshalb lehne ich mich auch aus dem Fenster und sage: Wir haben einen Kanzler, der ein Lügner ist.

Die Hamburger Staatsanwaltschaft hatte ab Frühjahr 2020 mehr als anderthalb Jahre ein Vorermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Untreue gegen Scholz geführt. Drei Wochen vor der Bundestagswahl wurde das Verfahren eingestellt, weil sich angeblich keine hinreichenden Verdachtsmomente für Straftaten ergeben hätten. Wie passt das mit der Indizienlage zusammen?

Das ist halt die Hamburger Staatsanwaltschaft und nicht die Kölner. Als ich mitbekam, dass die Hamburger Staatsanwaltschaft ermittelt, habe ich sie kontaktiert – und sie meinte, es sei keine Ermittlung, sondern eine Vorermittlung.  Die Akte hatte aber ein „JS“-Aktenzeichen, was für Ermittlungen steht. Für Vorermittlungen gibt es das Aktenzeichen „AR“. Als ich die Staatsanwaltschaft damit konfrontierte, hieß es, das gelte für den Rest der Republik, in Hamburg sei das anders. Okay, dann waren es eben Vorermittlungen, sage ich, haben Sie denn Scholz davon in Kenntnis gesetzt, dass gegen ihn ermittelt wird und ihm die Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben? Nein, antwortete die Staatsanwaltschaft, bei einer Vorermittlung müsse man den Beschuldigten nicht informieren. Gleichwohl habe sich ein Anwalt von Scholz gemeldet.

Dieser Anwalt hatte mehrfach auf die Einstellung des Verfahrens gedrängt, wie aus einer Antwort des rot-grünen Senats auf eine Kleine Anfrage der CDU-Bürgerschaftsfraktion hervorgegangen ist. Scholz wusste also offenbar doch Bescheid, der zuständige Untersuchungsausschuss wurde hingegen nicht informiert. Der CDU-Abgeordnete Richard Seelmaecker vermutet deswegen ein Leck in Hamburgs Justiz.

Das habe ich der Staatsanwaltschaft auch gesagt: Wenn ein Anwalt von Scholz sich bei Ihnen gemeldet hat, ist es ja offensichtlich, dass es ein Leck in der Staatsanwaltschaft beziehungsweise in der Justizbehörde gibt. Wie hat der – damalige – Kanzlerkandidat sonst von den Ermittlungen gegen sich erfahren? Daraufhin war Schweigen im Wald. Und damit sind wir bei der nächsten Lüge von Olaf Scholz: Er hat den Untersuchungsausschuss in Hamburg angelogen, als er ihm verschwieg, dass gegen ihn ermittelt wird. Kurz vor seiner Anhörung im Untersuchungsausschuss hat sich nämlich sein Anwalt das erste Mal bei der Staatsanwaltschaft Hamburg gemeldet und eine Einstellung gefordert. Während der Vernehmung lief es aber noch, was er verschwiegen hat. Der Anwalt hat dann noch drei, vier Mal bis kurz vor der Bundestagswahl interveniert und drei Wochen vor der Wahl wurde das Verfahren eingestellt.

Der ganz große Aufschrei ist wieder mal ausgeblieben.

Das ist absolut wahnsinnig. Überhaupt, all die Skandale: Gegen Tschentscher wurde ebenfalls wegen der Warburg-Geschichte ermittelt, und in der Corona-Krise hat er falsche Daten veröffentlicht. Sein Innensenator Andy Grote hat nach der Wahl eine Corona-Party veranstaltet und die „Pimmelgate-Affäre“ am Hals. Der aktuelle Finanzsenator Andreas Dressel steht im Kreuzfeuer, weil er bei der Vergabe eines millionenschweren Auftrags einen SPD-Freund begünstigt haben soll. Der Zustand dieser Regierung ist wirklich desolat, und trotzdem tun diese Politiker völlig entspannt.

Wie erklären Sie sich das?

Ich habe mich bis zu dieser Warburg-Geschichte nie journalistisch mit der Hamburger Politik beschäftigt. Seit ich jedoch der Cum-Ex-Affäre um Tschentscher und Scholz in der Hansestadt nachgehe, überrascht es mich immer wieder, wie verfilzt hier die politische Landschaft ist. Abgesehen von den acht Jahren, in denen die CDU am Ruder war und sich in der Koalition mit der Partei des verhaltensauffälligen Ronald Schill auch nicht gerade mit Ruhm bekleckerte, wird die Stadt seit Jahrzehnten von der SPD durchregiert. Es gab schon unzählige Untersuchungsausschüsse in der Bürgerschaft. Vor 20 Jahren beschäftigte sich sogar einer ausdrücklich mit dem „roten Filz“ in der Hansestadt. Aber alle Ausschüsse gingen aus wie das Hornberger Schießen. Viele Posten in Behörden werden nach Parteibuch vergeben. Die Mediensituation ist schrecklich. Es gibt das Hamburger Abendblatt, deren Chefredakteure sich teils mit Kommentaren hervortun, als schrieben sie für die SPD-Zeitung Vorwärts. Es gibt eine tapfere, aber kleine Boulevardzeitung und einen öffentlich-rechtlichen Sender, der gegenüber der lokalen Politik oft sehr, sehr vorsichtig ist. Vor wem sollten sich Tschentscher und Co. also fürchten?

Mehrere Politiker von der Plattform „Finanzwende“ – der ehemalige Linken-Abgeordnete Fabio De Masi, der frühere Grünen-Abgeordnete Gerhard Schick und der CDU-Politiker Heribert Hirte – forderten kürzlich Tschentscher zum Rücktritt auf. Er hat das Warburg-Schreiben mit Bitte um Erlass der Rückzahlung, das Olearius ihm auf Empfehlung von Scholz geschickt hat, an seine Mitarbeiter weitergereicht und mit grüner Tinte die „Bitte um Information zum Sachstand“ notiert – was die drei Politiker als politische Einflussnahme werten. Trotzdem sagt die Hamburger Staatsanwaltschaft, die Vorprüfungen hätten „keine zureichenden Verdachtsmomente für Straftaten“ ergeben. Führen Sie das auch auf den SPD-Filz zurück?

Ich verrate Ihnen jetzt was, das zeigt, wie skandalös die ganze Situation in Hamburg ist: Es gab eine Beschwerde gegen die Einstellung der Verfahren gegen Scholz und Tschentscher, die schließlich zur Generalstaatsanwaltschaft in Hamburg ging. Im November 2021 hat der Generalstaatsanwalt dem Beschwerdeerstatter geschrieben und begründet, warum die Einstellung der Verfahren berechtigt sei. Es gäbe nämlich keinen Anlass – jetzt halten Sie sich fest –, gegen Scholz wie auch Verantwortliche der Hamburger Finanzverwaltung zu ermitteln. Das hat er im November geschrieben, als jeder in Hamburg wusste, dass zwei Monate zuvor, im September, die Kölner Staatsanwaltschaft wegen der Warburg-Steuergeschichte eine Razzia bei einer leitenden Finanzbeamtin und in der Finanzbehörde durchführen ließ, und dass es ein zweites Strafverfahren gegen die frühere Chefin des Finanzamtes für Großunternehmen gibt. Um durchsuchen zu dürfen, muss es schon einen gravierenden Tatverdacht geben. Aber die Uhren in Hamburg gehen einfach anders. Nichts davon hat den Hamburger Generalstaatsanwalt davon abgehalten, zu behaupten, es gäbe keinerlei Verdachtsmomente gegen Mitarbeiter der Finanzverwaltung. Damit diskreditiert er die Ermittlungen und Durchsuchungsmaßnahmen der Kölner Staatsanwaltschaft in der Hamburger Finanzbehörde und im Finanzamt.

Die Fragen stellte Ulrich Thiele.

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