Coronakrise - Die neue Herrschaft der Virologen

Die in Deutschland fast schon lustvoll praktizierte Preisgabe von Grundrechten in der Corona-Krise zeigt, dass der Glaube an den Obrigkeitsstaat nie wirklich verloren ging. Über die Risiken des Notstandsregierens.

Gesichter des Ausnahmezustands: Eine papierdünne Legitimationsdecke / picture alliance
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Autoreninfo

Prof. Dr. Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin und Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Als im Mai 1949 das Grundgesetz im Parlamentarischen Rat verabschiedet wurde, enthielt es keine Vereinbarungen über das Notstandsrecht oder den Ausnahmezustand. Dies war ein Ergebnis des Missbrauchs des Artikels 48 Absatz 2 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) und des Vetos der Alliierten. Artikel 48 Absatz 2 billigte dem Reichspräsidenten die Befugnis zum Erlass „gesetzesvertretender Notverordnungen“ zu. Unter Hindenburg führten diese Notverordnungen zu den berüchtigten Präsidialkabinetten, zum Bruch mit dem Parlamentarismus und 1933 zur Machtübergabe (nicht Machtergreifung) an Adolf Hitler. 

Um den Lesern schon an dieser Stelle ein Aufstöhnen zu ersparen, sei vermerkt: Die Berliner Republik des Jahres 2020 ähnelt gewiss nicht jener Weimars im Jahre 1932. Berlin ist weder Weimar noch Bonn. Und das ist gut so. Interessant ist aber, dass später, im langen parlamentarischen Ringen um die „Notstandsgesetze“ (1968), zwei unterschiedliche verfassungstheoretische Positionen zwischen den damals beiden großen Parteien erkennbar waren: die CDU mit dem damaligen Bundesinnenminister Gerhard Schröder, die geradezu in Carl-Schmitt-Manier forderte, der Notstand sei „die Stunde der Exekutive“. Dagegen argumentierten Rechtspolitiker der SPD, wie der spätere Bundesverfassungsrichter Martin Hirsch, gerade die Krise müsse die „Stunde des Parlaments“ und des mündigen Staatsbürgers sein. 

Die Differenz ist verschwunden

Diese zwei verfassungsrechtlichen Positionen trennten in den beiden ersten Nachkriegsjahrzehnten die CDU/CSU von der SPD. Verkürzt lässt sich zusammenfassen: Während die SPD sich als Hüterin des Parlaments präsentierte, plädierte die Union für die Dominanz der Regierung in der Krise. Diese Differenz ist heute verschwunden. Die beiden in der „Großen“ Koalition verbundenen Parteien lassen in der Corona-Krise keine Unterschiede im Demokratieverständnis mehr erkennen. Das Krisenmanagement war und ist de facto und de jure die Stunde der Exekutive. So verlautbarte Eva Högl, stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, die Grundrechte seien gegenwärtig zwar „bis zur Unkenntlichkeit beschnitten“, dies sei aber leider „notwendig“. 

Ist das so? Mit zunehmender Dauer der Krise darf man daran Zweifel anmelden. Historisch formuliert: Die SPD hat die Demokratieposition der CDU der fünfziger Jahre übernommen, ohne unbeabsichtigte Anklänge an Carl Schmitt vermeiden zu können.

Infektionsschutz schlägt Grundrechte

In der Tat ordnet sich der Bundestag ohne Murren der Regierung unter und degradiert sich dabei selbst zu einer der Exekutive nachgeordneten Institution. Dies gilt für Bund und für Länder. Das Infektionsschutzgesetz, in der Normenhierarchie ein vergleichsweise triviales Gesetz, genügte, um fast flächendeckend Grundrechte außer Kraft zu setzen. Im Eilverfahren paukte die Regierung mit Unterstützung der Grünen und der FDP am 25. März 2020 das novellierte „Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ durch. Linke und AfD widersprachen nicht, enthielten sich aber.

Das Gesetz erteilt dem Gesundheitsministerium und der Regierung weitreichende Kompetenzen im Falle einer Epidemie von „nationaler Tragweite“. Erst in letzter Minute wurde verhindert, dass die Regierung selbst diesen Notstand erklären und dann administrieren kann. Legislative und Exekutive wären schlicht eins geworden. In der geänderten Novellierung genügt allerdings eine einfache Mehrheit für das Ausrufen eines Notstands. Dies ist eine papierdünne Legitimationsdecke.

Die Verhältnismäßigkeit des neuen Gesetzes und die zeitweise Suspendierung zentraler Grundrechte wurden im Bundestag nicht offen und kontrovers diskutiert. So wenig Opposition war nie. Dies mag legal sein, aber ist es legitim? Beschädigt es die rechtsstaatlich-demokratische Ordnung? Ist wirklich derjenige souverän und legitim, der über den Ausnahmezustand verfügt, wie es der umstrittene Staatsrechtslehrer Carl Schmitt in seiner „Politischen Theologie“ (1922) formulierte?

Regiert vom Souverän dritter und vierter Ordnung

Zunächst sei an Folgendes erinnert: In der Demokratie ist nicht die Exekutive, also die Regierung der Souverän, sondern das Volk. Über freie und allgemeine Wahlen überträgt das Volk, also der Souverän erster Ordnung, seine Souveränität auf das Parlament. Die Übertragung ist zeitlich begrenzt, typischerweise auf eine Wahlperiode. Damit entsteht als Souverän zweiter Ordnung das Parlament. In parlamentarischen Demokratien wählt dann das Parlament die Regierung. Erst jetzt kommt die Exekutive als Souverän dritter Ordnung ins Spiel.

In der Corona-Krise rückte zudem ein weiterer Akteur ins Rampenlicht: die Wissenschaft, insbesondere Virologen und Epidemiologen. Sie avancierten ganz offen zu einem Semisouverän vierter Ordnung. Souverän ist, wer über das Wissen verfügt. Da in medizinisch-wissenschaftlichen Fragen Parlament und Regierung über nur geringe Expertise verfügen, sind sie in hohem Maße abhängig vom Ratschlag medizinischer Experten. „Evidence-based policy making“ nennen technokratische Politik- und Verwaltungswissenschaftler so etwas beschönigend. Das Land wurde also in der Krise der vergangenen zwei Monate im Notstandsmodus vom Souverän dritter und vierter Ordnung regiert.

Leben retten vs. Grundrechte schützen?

Den ersten Souverän, die Bürgerinnen und Bürger, beunruhigte dies nicht. Im Gegenteil, sie zeigten eine hohe Folgebereitschaft gegenüber der Regierung und den medialen Stars der Virologenszene. Sicherlich haben dazu die vernünftigen und bisher erfolgreichen politischen Entscheidungen der Regierung beigetragen. Häufig wiederholte, grauenhafte Bilder aus den Kliniken Bergamos und der Leichenkühlwagen vor den Hinterausgängen der Krankenhäuser New Yorks haben das Ihre getan.

Es gibt noch ein Drittes. Die Modellrechnungen der Epidemiologen Deutschlands zeichneten über Worst-Case- oder auch nur Normal-Case-Studien ein düsteres Bild. Nicht mehr von Tausenden, sondern von Zehntausenden oder gar Hunderttausend möglichen Todesfällen war die Rede. Die Überlastung der intensiv­medizinischen Kapazitäten und drohende Triage-Entscheidungen seien unbedingt zu vermeiden. Wie richtig oder fehlerhaft die epidemiologischen Projektionen auch (gewesen) sein mögen, wer von den politischen Entscheidungseliten oder den folgebereiten Bürgern könnte politisch oder moralisch verantworten, Zehntausende Menschen dem Tod auszuliefern? Keiner!

Die TV-Szenen und die epidemiologischen Modellrechnungen erklären den Konformismus des Parlaments wie das Verstummen der Opposition in Politik und Gesellschaft – aus demokratischer Perspektive problematisch. In Zeiten, in denen die Regierung so viel Macht an sich gezogen hat, wird die Kontrolle durch Opposition, Parlament, Justiz und Zivilgesellschaft wichtiger als in normalen Zeiten. Nicht zuletzt die Machtkontrolle unterscheidet Demokratien von Autokratien. Die Sozialdemokraten hatten dies noch während der Notstandsgesetzgebung 1968 mit guten Argumenten vertreten. Heute passt sich die SPD dem Krisen-Zeitgeist an. Leben retten geht vor Grundrechtsschutz. Als wären dies unaufhebbare Gegensätze.

Söder als Erfolgsmodell politischer Führung

Die Konformität von Medien, Intellektuellen und Bürgern offenbarte in der Krise ein Phänomen, das in der deutschen Geschichte viel Unheil angerichtet hat. In der Bundesrepublik Deutschland über Jahrzehnte fast verschwunden, erleben wir heute eine Wiedergeburt der starken entscheidungsbereiten politischen Führer. Das demokratische Paradox der Krise lautet: Je einschneidender die Eingriffe in die Grundrechte der Bürger, je schärfer die Maßnahmen des Kontaktverbots, umso größer die Zustimmung jener, denen die Grundrechte genommen und die Kontakte verboten werden.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder geriet zum Erfolgsmodell politischer Führung. Armin Laschet, im Kampf um die Kanzlerkandidatur krampfhaft eine liberalere Alternative präsentierend, vermochte nicht zu punkten. Die unkritische Hinnahme der Grundrechtseinschränkungen ist nicht die Wiedergeburt des wilhelminischen Untertans oder von Theodor Adornos „autoritärer Persönlichkeit“. Aber es ist das Publikum selbst, das der Transformation vom Subjekt zum Objekt, vom aktiven Bürger zum hingebungsvollen Adressaten obrigkeitsstaatlicher Exekutiventscheidungen erliegt.

Die einzige Oppositionspartei, die sich kritisch gegen den Grundwerteentzug durch die Bundesregierung geäußert hat, die FDP, wurde von den Wählern laut Umfragen bestraft. Wieder einmal kämpft sie gegen die Fünf-Prozent-Hürde. Die Mehrheit der Bürger billigt Kritik und Opposition ganz offensichtlich nicht als legitime Ausdrucksform in Zeiten des Ausnahmezustands. Der Bürger kennt keine Parteien mehr, sondern nur noch Regierung. Das Denken Carl Schmitts ist in Deutschland noch immer stärker verwurzelt als der Liberalismus von Ralf Dahrendorf, den die FDP freilich nur mühsam wiederentdeckt.

Erneuert Corona die Volksparteien?

Was bedeutet die Corona-Krise für das deutsche Parteiensystem? Die Umfragen weisen einen eindeutigen Zwischensieger aus: die Unionsparteien. Sie sind in Deutschland die Regierungsparteien par excellence. Die Stunde der Exekutive zahlt deshalb besonders auf ihr Konto ein. Wird dies andauern, wenn die Krise abflacht? Wird es der Union helfen, ihren Charakter als Volkspartei wiederzubeleben? Hier sind Zweifel angebracht. Der Niedergang der Volksparteien ist eine säkulare Entwicklung. Für individualisierte Gesellschaften und postindustrielle Wirtschaftsstrukturen passt das homogenisierende Format einer programmatisch diffusen Partei nicht. Corona hat den Niedergang unterbrochen, den Pfad selbst wird das Virus nicht ändern.

Die SPD wird nicht wieder zur Volkspartei aufsteigen; dieser Zug ist abgefahren. Erstaunlich mag sein, wie wenig die SPD in der Krise punkten kann, verfügt sie doch mit Finanzminister Olaf Scholz und Arbeitsminister Hubertus Heil nicht nur über zwei besonnene Persönlichkeiten, sondern auch die zentralen Ressorts für die Abfederung der Krisenlasten. Aber die Wähler honorieren ganz offensichtlich in der Krise eher Verbote als Angebote. Das könnte sich nach der akuten Krisenphase ändern.

Die Grünen, die sich gern als die Liberalen des 21. Jahrhunderts sehen, verlieren an Zuspruch. Was wohl weniger ihrer staatstragenden Unterstützung der Regierung zuzuschreiben ist als vielmehr der Tatsache, dass ihr Hauptthema „Klimawandel“ in der politischen Prioritätenliste nach unten gerutscht ist. Die Grünen bleiben somit eine postmaterielle Partei der Besserverdiener, die besonders in politischen Normalzeiten reüssieren kann.

Die Linkspartei verschwand fast vollständig aus den Nachrichten; sie steht außer in Thüringen und Berlin nirgendwo in der Regierungsverantwortung. Außerdem fehlt ihr nach dem Abgang Sahra Wagenknechts eine medial überzeugende Politikerin.

Notstandsregieren als neue Normalität?

Bleibt die AfD. Auch dieser Partei ist ihr Hauptthema – Migration – weggerutscht. Dies dürfte sich mit dem Abklingen der Krise aber wieder ändern. Zudem dürfte ein neues Thema für die Rechtspopulisten an Bedeutung gewinnen: Europa. Beim wirtschaftlichen Wiederaufbau werden alte wie neue Verteilungskonflikte aufbrechen, gerade auch im zwischenstaatlichen Bereich. Und die AfD wird sich da gegen finanzielle Zugeständnisse Deutschlands an die EU und die Hauptkrisenländer Italien, Spanien und Frankreich wenden. Dass Deutschlands ökonomischer Erfolg auch von der wirtschaftlichen Wiedergenesung der drei Länder abhängt, dürfte einem nicht unerheblichen Teil der deutschen Bürger nicht zu vermitteln sein. Die AfD könnte so zum Krisengewinnler werden.

Die Berliner Republik ist weder Weimar noch Bonn oder das Ungarn Viktor Orbáns. Gewöhnungseffekte durch autoritäres Regieren können dennoch nicht ausgeschlossen werden. Denn auch wiederkehrende Infektionswellen sind in Zukunft nicht auszuschließen. Soll dann wieder mit Notstandsregeln regiert werden? Shutdowns stets von Neuem? Regierungsmitglieder fanden dafür einen verheerenden Begriff: Notstandsregieren als „neue Normalität“. Manche Aktivisten von Fridays for Future oder Extinc­tion Rebellion sehen in den autoritären Entscheidungsstrukturen während der Corona-Krise schon eine Blaupause im Kampf gegen den Klimawandel: Warum nicht auch hier endlich wirkungsvoll durchregieren? Scientists for Future stehen sicher auch hier gern bereit. Wenn die Klimakrise entsprechend „gerahmt“ wird, erscheinen Demokratiefragen als zweitrangig. Triste Aussichten.

Dieser Text ist in der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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