Corona und Recht - „Dem übergriffigen Staat nicht tatenlos zusehen“

Der Genesenenstatus gilt nur noch für drei Monate, und eine Impfung mit Johnson & Johnson wird nicht mehr als vollständige Impfung anerkannt. Die Rechtsanwältin Jessica Hamed legt gegen solche willkürlichen Entscheidungen der Politik Klage ein. Im Interview erklärt sie, was sie sich von juristischen Verfahren erhofft und welche Grenzen die Gerichte den Regierungen setzen müssten.

Wenn man nicht weiß, ob man überhaupt noch als geimpft oder genesen gilt, herrscht Willkür / dpa
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Ingo Way ist Chef vom Dienst bei Cicero Online.

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Jessica Hamed ist Fachanwältin für Strafrecht und Dozentin an der Hochschule Mainz. Seit März 2020 vertritt sie bundesweit in verwaltungs- und strafrechtlichen „Coronaverfahren“ und veröffentlicht eine Vielzahl ihrer Schriftsätze.

Frau Hamed, Sie haben beim Verwaltungsgericht Berlin für Ihre Mandanten zwei Eilanträge eingereicht – einmal gegen die Aberkennung des Geimpftenstatus für einmal mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson Geimpfte, den anderen gegen die Verkürzung des Genesenenstatus von sechs auf drei Monate. Wie argumentieren Sie in diesen Anträgen?

Konkret haben wir für zwei Mandanten gegen die Verkürzung ihres Genesenenstatus sowie für einen Mandanten gegen dessen Aberkennung des Geimpftenstatus im Wege des Eilverfahrens geklagt. Alle Mandanten waren durch die plötzliche Änderung von heute auf morgen ohne Vorwarnung quasi rechtlos gestellt.

Die Argumentation ist in beiden Verfahren weitestgehend gleichlaufend. Wir beanstanden zuvörderst die Verlagerung der Entscheidung über die Anforderungen an Immunitätsnachweise an das RKI und das PEI als verfassungswidrig. Wir halten es allerdings auch schon für rechtlich nicht vertretbar, der Exekutive, also der Bundesregierung oder dem Gesundheitsministerium, die Entscheidung über diese Fragen zu überlassen. Unseres Erachtens müssen sie aufgrund der hohen Grundrechtsrelevanz – letztlich entscheiden sie schließlich über die Berechtigung zur Teilnahme am öffentlichen Leben und bald sogar über die Erlaubnis zur Ausübung des Berufs, etwa bei Ärzten und Pflegekräften – mittels eines formellen Gesetzes, sprich vom gewählten Parlament, geregelt werden. Das ergibt sich aus der vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Wesentlichkeitstheorie. Sie besagt, dass der förmliche Gesetzgeber alles Wesentliche, und dazu gehören letztlich alle grundrechtsintensiven Bereiche, selbst regeln muss.

Während man bei dieser Frage, ob überhaupt die Regierung Regeln zum Immunitätsnachweis machen darf oder ob darüber das Parlament befinden müsste, noch gerade so juristisch streiten kann, kann es für die von uns beanstandete Subdelegation von der Bundesregierung an die nachgeordneten Behörden (PEI und RKI) schwerlich zwei Meinungen geben. Diese Einschätzung scheint auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags zu teilen, der mit überraschend deutlichen Worten zu dieser Causa Stellung bezogen hat und zu dem Ergebnis kommt, dass sich Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit ergeben. Dieselben Bedenken teilt übrigens auch der Bundesdatenschützer in einer Stellungnahme vom 12.01.2022. Er empfahl aus diesen Gründen von der beabsichtigten – und dann erfolgten – Änderung Abstand zu nehmen. 

Welche weiteren Gründe führen Sie in Ihren Anträgen an?

Jessica Hamed

Ferner rügen wir einen Verstoß gegen das Verkündungsgebot; der Verweis auf die Webseiten der nachgeordneten Behörden genügt schon aufgrund der Flüchtigkeit des Internets nicht den Anforderungen einer amtlichen Bekanntmachung. Hierdurch wird die Rechtssicherheit gefährdet. Bürgern muss klar sein, was erlaubt ist und was nicht. Dass diese Verweistechnik höchstproblematisch ist, hat sich bereits gut darin gezeigt, dass es nicht einmal öffentliche Verlautbarungen gab und anzunehmen ist, dass zahlreiche Staatskanzleien erst durch Twitter und erste Medienberichte von den Änderungen erfahren haben. Die Änderungen galten ab dem 15.01.2022, breit darüber berichtet wurde aber erst ab dem 17.01.2022. Es ist bei lebensnaher Betrachtung davon auszugehen, dass Tausende von bußgeldbewehrten Verstößen gegen die diversen Landesverordnungen usw. in dieser Zeit stattgefunden haben. Hier offenbart sich ferner das nächste verfassungsrechtlich relevante Thema: Die Regelungstechnik verstößt auch gegen den Bestimmtheitsgrundsatz. Da die Webseite von einer auf die andere Sekunde geändert werden kann, müssen die Bürger letztlich ständig vor Aufsuchen einer Lokalität, in der 2G oder 3G gilt, überprüfen, ob sie aktuell Zugang haben oder nicht. Dass das nicht zumutbar ist, liegt auf der Hand.

Im Übrigen sind wir der Meinung, dass wenigstens eine Übergangsregelung, die vier Wochen nicht unterschreiten dürfte, hätte geschaffen werden müssen. Das gebietet der aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet Vertrauensschutz. Bürger dürfen sich darauf verlassen, dass ihnen Rechte nicht ankündigungslos ohne ihre Schuld über Nacht genommen werden. Es ist ihnen zuzugestehen, sich auf die geänderte Rechtslage einzurichten. Ihnen muss es möglich sein, Rechtsschutz zu ersuchen, ohne bereits rechtlos gestellt zu sein oder aber ihren Immunitätsstatus mittels der geforderten Impfung wieder herzustellen.

Worin unterscheiden sich die beiden Anträge?

Inhaltlich rügen wir in beiden Fällen die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung mit vollständig Geimpften. In Bezug auf Genesene halten wir die Ungleichbehandlung schlicht für willkürlich. Experten sind sich einig, dass der Schutz von Genesenen mindestens genauso gut ist wie der von Geimpften, das belegen schließlich zahlreiche Studien. Vor dem Hintergrund, dass das RKI selbst der Meinung ist, dass doppelt Geimpfte nach zwei bis drei Monaten keinen ausreichenden Schutz mehr gegen die Omikron-Variante aufweisen, drängt sich die Frage auf, wieso Geimpfte eine bevorzugte Behandlung genießen. Juristisch gerechtfertigt ist das jedenfalls eindeutig nicht.

In Bezug auf Johnson & Johnson argumentieren wir zudem damit, dass sich die Zulassung durch die EMA auf ein 1er-Impfschema mit einem optionalen Booster und nicht auf ein nunmehr vom PEI angenommenes 2er-Impfschema bezieht.

Jetzt fordern die Ministerpräsidenten der Länder die Deutungshoheit über den Genesenenstatus vom RKI zurück, wollen aber mehrheitlich den Status nicht wieder auf sechs Monate verlängern, um die Bürger „nicht zu verwirren“. Was ist von dieser Argumentation zu halten?

Es handelt sich bei der „Argumentation“ um einen weiteren rechtstaatlichen Tiefpunkt. Grundrechte dürfen nicht ohne Rechtsgrund eingeschränkt werden. „Keine weitere Verwirrung stiften“ ist kein rechtlich anerkannter Grund für Freiheitsbeschränkungen. Mit dieser Äußerung offenbaren die Regierenden aber zugleich, dass sie inhaltlich eine Verkürzung des Status nicht für erforderlich halten, und bestätigen damit unsere Beurteilung, dass die Verkürzung des Status nicht nur formal rechtswidrig, sondern auch in der Sache selbst willkürlich ist.

Abgesehen davon verwirrt nicht die Rückgabe von irrigerweise vorgenommenen Grundrechtseingriffen, vielmehr erschüttert eine solche „Begründung“ das Vertrauen in den Rechtstaat noch weiter. Ich hoffe sehr, dass die Regierenden ihre Meinung diesbezüglich überdenken und nicht – wie es aktuell, wenn man sich anschaut, welche Länder für die Rücknahme der Verkürzung aussprachen – aus machtpolitischen Gründen dabeibleiben. Der Zustand ist schlicht unerträglich und rechtsratsuchenden Menschen nicht mehr zu vermitteln.

Hat diese Entscheidung der Länder Auswirkungen auf Ihre Eilanträge?

Solange die von uns angegriffenen Bundesverordnungen weiterhin unverändert bleiben, ändert sich nichts. Sofern die Regelungstechnik abgeändert wird und der Verordnungsgeber selbst darüber entscheidet, wer genesen und wer geimpft ist, entfallen Teile unserer Argumentation in „formaler“ Hinsicht. Wir halten aber, wie gesagt, auch eine Regelung durch die Bundesregierung selbst für rechtswidrig und sehen in § 28c IfSG keine ausreichende Ermächtigung der Bundesregierung. Falls das Gericht diesem Gedanken folgt, müsste es die Frage dem Bundesverfassungsgericht vorlegen, da nur dieses ein formelles Gesetz für verfassungswidrig erklären kann.

Auf die Frage kommt es aber unseres Erachtens am Ende nicht an, da selbst, wenn man annähme, die Regierung dürfe derartig tiefgreifende Grundrechtseingriffe vornehmen, es dabei bliebe, dass es sich in beiden Fällen inhaltlich um eine rechtswidrige Ungleichbehandlung handelt. Soweit jedenfalls zu den theoretischen Erwägungen.

Praktisch würden unsere Erfolgsaussichten mit einer formalen, aber nicht inhaltlichen Änderung der Verordnung deutlich sinken, da zu befürchten ist, dass sich das Verwaltungsgericht darauf zurückziehen würde, dass die Entscheidung über die Dauer des Genesenenstatus bzw. über die Anzahl der erforderlichen Impfungen im Ermessenspielraum des Verordnungsgebers liege. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen zur Bundesnotbremse leider Tür und Tor für eine derartige Argumentation geöffnet. Faktisch darf die Regierung so gut wie alles.

Wie schätzen Sie Ihre Erfolgsaussichten insgesamt ein?

Von der Sache her müssten wir gewinnen. Das ist allerdings bei vielen Corona-Verfahren der Fall gewesen. Etwa bei der Maskenpflicht im Freien beim Joggen aber auch bei 2G im Handel. In meiner Beratungspraxis lautet die Antwort auf die Frage daher häufig: Rechtlich gesehen sind die Erfolgsaussichten hoch, faktisch hingegen kaum vorhanden. In diesem Fall halte ich ausnahmsweise die Chancen für ziemlich hoch, da die Subdelegation an das RKI und PEI evident rechtlich nicht haltbar ist und diese Frage zudem keine wissenschaftliche Einschätzung, bei der man immer eine Gegenansicht findet, erfordert. Sollte die Subdelegation hingegen während des laufenden Gerichtsverfahrens zurückgenommen werden, bliebe es vor allem bei den inhaltlichen Fragen, und hier würde es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wieder heißen: Einschätzungsprärogative der Regierung.

Mit anderen Worten: Es bleibt bei reiner Willkür?

Es ist richtig, dass der Regierung als gewähltes Verfassungsorgan ein Einschätzungsspielraum zusteht; Gerichte sind keine Ersatzgesetzgeber. Allerdings gibt es Grenzen, und das Gericht muss sie beispielsweise mittels der Einholung von Sachverständigengutachten stecken. Das wäre in zwei Jahren Pandemie übrigens problemlos möglich gewesen. Es hätte in jedem Bundesland dafür ein Musterverfahren zu den immer wiederkehrenden Fragen geführt werden müssen. Auch hätte den Regierungen von Beginn an aufgegeben werden müssen, ihre Maßnahmen zu evaluieren und saubere Daten zu erheben. In den ersten Wochen der Pandemie ist dem Verordnungsgeber naturgemäß ein weiterer Ermessenspielrum einzuräumen als jetzt. Das selbst verschuldete Unwissen hätte zulasten der Regierungen gehen müssen. Stattdessen war und ist es immer noch so, dass es eine faktische Beweislastumkehr vor Gericht gibt. Eigentlich müsste die Regierung ihren Grundrechtseingriff rechtfertigen, stattdessen ist es so, dass wir darlegen müssen, warum der Grundrechtseingriff rechtswidrig ist.

Die Regierung hat von der Justiz zu viel Macht zugebilligt und zu wenig Grenzen gesetzt bekommen. Das hat sich in zwei Jahren nicht geändert und wird sich nicht mehr ändern. Die Pandemie ist zu Ende, wenn die Politik sagt, sie ist zu Ende. Das muss man sich klar machen. Dass es auch anderes ginge, zeigte vor wenigen Tagen die Justiz in Österreich. Dort hat der Verfassungsgerichtshof der Regierung einen äußerst umfangreichen Fragenkatalog vorgelegt. Zum Beispiel will das höchste Gericht wissen, wer „an“ und wer „mit“ Covid-19 gestorben ist und vieles mehr. Das hätte ich mir auch von deutschen Gerichten gewünscht. Hierzulande hingegen kämpfen wir – zumeist erfolglos bis dato – sogar darum, überhaupt Einblick in die Entscheidungsfindung der Regierenden zu erhalten. Eine juristische Aufarbeitung halte ich – wenigstens im Nachgang – für unabdingbar, und wir werden uns um eine solche weiterhin mit Nachdruck bemühen.

Welche Anfragen bekommen Sie zur Zeit? Welche Probleme treiben potentielle Mandanten um?

Ich bekomme immer mehr Anfragen von doppelt Geimpften, oder Geimpft-und-Genesenen usw. Sie haben Angst, ihren Status, etwa durch die Umsetzung der Regelung zum EU-Zertifikat, wonach die letzte Impfung nicht länger als neun Monate zurückliegen darf, zu verlieren und wollen sich nicht noch einmal impfen lassen. Einige würden sich auch noch einmal impfen lassen, haben aber berechtigterweise die Befürchtung, dass es auch bei der dritten Impfung nicht bleibt. Die Unzufriedenheit in der Breite der Gesellschaft wächst spürbar. Viele Länder nutzen die offenbar deutlich ungefährlichere Omikron-Variante als Ausstieg aus der Pandemie. Dänemark, England, Irland, Finnland, Schweiz usw. Es ist nicht verständlich, warum Deutschland die Chance, den Ausnahmezustand zu beenden, bislang nicht nutzt, auch wenn erste Äußerungen in dieser Richtung wahrnehmbar werden.

Also ist es letztlich eine politische, keine juristische Entscheidung, ob Deutschland jemals aus der Pandemie herausfindet?

Gerichtliche Verfahren sind wichtig, weil es unerträglich ist, verfassungswidrige Gesetze unbeanstandet stehen zu lassen, und weil es den Betroffenen hilft, dem übergriffigen Staat nicht völlig tatenlos zuzusehen. Das treibt übrigens die meisten meiner Mandantinnen und Mandanten an. Sie wollen das Erodieren des Rechtsstaats für sich oder oftmals auch für ihre Kinder nicht schweigend hinnehmen. Auch wenn sie wissen, dass den Verfahren meist nur ein symbolischer Wert aufgrund der geschilderten Umstände zukommt. Wir führen die Verfahren aus Prinzip und zu Dokumentationszwecken. Dabei ist uns klar, dass es nicht dazu kommen wird, dass ein Gericht sagt: Jetzt ist Schluss. Wann Schluss ist, bestimmt einzig die Politik.

Die Fragen stellte Ingo Way.

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