Auswirkungen der Corona-Notbremse - „Natürlich ist das eine willkürliche Festlegung“

Auch der Bundesrat hat der Corona-Notbremse zugestimmt. Die Neuerungen werden ab Samstag greifen. Wie zielführend bundesweit einheitliche Regelungen sind und ob eine Ausgangssperre wirklich etwas bringt, erklärt der Virologe Helmut Fickenscher im Interview.

Eine bundeseinheitliche Ausgangssperre soll die Inzidenz in Deutschland senken / dpa
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Autoreninfo

Sina Schiffer studiert an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Politik und Gesellschaft und English Studies. Derzeit hospitiert sie bei Cicero. 

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Prof. Dr. Helmut Fickenscher ist Direktor des Instituts für Infektionsmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein und der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel sowie der Präsident der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten (DVV). 

Herr Fickenscher, schon in der kommenden Woche könnte die Corona-Notbremse in Kraft treten. Wie zielführend sind die neuen Corona-Regelungen? 

In der Vergangenheit haben wir gesehen, dass es eine große Vielfalt landesspezifischer Regelungen gab und dass viele Bürger dies lästig und unübersichtlich fanden. Insbesondere bei bedrohlich hohen Inzidenzzahlen ist es unverständlich, wenn mancherorts kaum Maßnahmen ergriffen werden, während an anderen Orten sehr strikte Maßnahmen gelten. Daher befürworte ich es sehr, einheitliche Regelungen zu finden.

Nachteil ist, dass die lokale Entscheidungsmöglichkeit kaum mehr gegeben ist. Zum Beispiel gab es während des Coronavirus-Ausbruchs in einem großen Schlachthof in Nordrhein-Westfalen die Situation, dass zwar lokal eine hohe Inzidenz zu beobachten war, aber eben nur das Personal des Schlachthofes betroffen war. Das zeigt, dass es in so einer Situation nicht notwendig ist, den gesamten Landkreis auch in der Nacht zuzusperren. Aber derzeit haben wir ja überwiegend ein breiteres Geschehen, und an den Orten, wo wir derzeit bundesweit besonders hohe Inzidenzen haben, geht das ja auch schon längere Zeit so. Von daher ist das insgesamt schon nützlich. 

Wie beurteilen Sie den Streit um die Ausgangssperre?

Den Streit um die Ausgangssperre und die Abwägung der Argumente finde ich insgesamt wichtig. Dass eine Ausgangssperre die Inzidenzen deutlich, gezielt und schnell reduzieren kann, haben wir schon gesehen. In Schleswig-Holstein wurde das in Flensburg angewandt. In Folge des Auftretens der britischen Variante ist bereits zum Jahreswechsel eine bedrohliche Situation eingetreten, und man konnte dann durch diese eng befristete Ausgangssperre eine schnelle Normalisierung beobachten. So bin ich mir sehr sicher, dass eine Ausgangssperre insgesamt eine nützliche Maßnahme ist. Sie muss aber kontrolliert werden. Die Maßnahmen nach dem Infektionsschutzgesetz sind jetzt auch wieder terminlich recht eng limitiert, sodass auch diese Anforderung erfüllt sein müsste. 

Es gibt unterschiedliche Studien zur Frage, ob eine nächtliche Ausgangssperre die Infektionszahlen bremst. Eine aus Paris sagt, sie sei kontraproduktiv und steigere die Zahl sogar, und eine aus Oxford sagt, die Rate sinke um 10 bis 20 Prozent. Welche hat denn nun recht? 

Dazu gibt es sicher eine ganze Menge einigermaßen regionaler Faktoren, und da kann es gut sein, dass die Situation in Deutschland anders ausfällt als in anderen Städten oder Ländern. Wenn aber das Treffen im öffentlichen Raum ohnehin untersagt ist und dazu noch das Treffen im Privaten, dann finden auch eine ganze Menge privater Treffen statt, die nicht den Vorschriften entsprechen. Wenn ich dann aber abends unterwegs bin und mich in einer Wohnung aufhalte, in der ich eigentlich gar nicht sein darf, und vermutlich auch zu lange bin, dann wäre es risikoreich, sich in der Nacht auf den Weg zu machen, um noch nach Hause zu kommen. Das führt dann zur Vermeidung und somit zum nützlichen Effekt.

Kommen die Maßnahmen nicht viel zu spät? 

Vielerorts gab es bereits adäquate Maßnahmen. Für Schleswig-Holstein überblicke ich es sehr deutlich. Ich habe allerdings in der Presse gelesen, dass es in anderen Bundesländern mit einer hohen Inzidenz in den letzten Monaten wohl nicht ganz so gut geklappt hat. Ein einheitliches und konsequentes Vorgehen in besonders bedrohten Kreisen oder Städten trägt zur Glaubwürdigkeit gegenüber den Bürgern bei. Aber insgesamt fehlt eben die Möglichkeit, bei regionalen Sondersituationen andere Entscheidungen zu treffen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass man nicht in jeder Situation die Ausgangssperre benötigt. Trotzdem ist aber der Vorteil einheitlicher Lösungen hier auch recht überzeugend. 

Helmut Fickenscher / UKSH

Wie lange wird es mit der Corona-Notbremse dauern, bis die Menschen wieder in ein normales Leben zurückkehren können? 

Ich denke, das kann niemand so richtig abschätzen. Pessimistische Vorhersagen sind ja schon seit mehreren Monaten weit verbreitet. Ich gehöre eher zu den Anhängern der Strategie, lieber abwarten, bis ein Phänomen tatsächlich zu beobachten ist.

Ist die Hoffnung auf eine sinkende Inzidenz schon ein Entscheidungsgrund?

Nein, erst müssen Fakten vorliegen. Ich hatte auch meine persönlichen Probleme mit der Ankündigung der dritten Welle. Denn diese Vorankündigung, dass die dritte Welle kommen würde, war eigentlich nur eine Befürchtung aufgrund des Auftretens der britischen Mutation.

Aber die dritte Welle ist dann ja tatsächlich eingetreten.

Sie hätte aber auch ausbleiben können. Insofern war es mir wichtiger, anhand der Fakten die Entwicklung weiter zu betrachten. Natürlich rechnen wir alle damit, dass die Inzidenzen sinken werden. Derzeit sieht es auch sehr stark danach aus, dass die dritte Welle in ihrer Dynamik schon deutlich abgeschwächt wird. In manchen Bereichen ist zumindest jetzt schon eine rückläufige Tendenz zu beobachten. Trotzdem ist die weitere Entwicklung offen und derzeit noch nicht beurteilbar.

Kommt es uns entgegen, dass es draußen wieder wärmer wird?

Ja, klimatisch haben wir ja Erfahrungen aus dem letzten Jahr, wo Lockdown-Maßnahmen zusammen mit besserem Frühlingswetter dann doch effizient dazu geführt haben, dass die Fallzahlen massiv gesunken sind. Bei massiv sinkenden Fallzahlen – die magische Grenze heißt ja jetzt eine Siebentages-Inzidenz von 100 – wird sich die Situation dann eigentlich automatisch bessern.

Ab kommender Woche sollen dann Schulen ab einer Inzidenz von 165 schließen und in den Online-Unterricht wechseln. Wie ist dieser Wert zustande gekommen? Und was halten Sie von den Vorwürfen, dass die im Gesetz genannten Grenzwerte willkürlich seien? 

Das ist natürlich eine willkürliche Festlegung. Man muss sich aber für einen Wert entscheiden. Warum jetzt der Wert 165 festgelegt worden ist, ist mir insgesamt nicht plausibel. Aber ob man nun 165 oder 200 festlegt, beides ist willkürlich. Konkretere Präzision ist aus meiner Sicht nicht möglich. Man muss sich eben für irgendeinen Wert in diesem Bereich entscheiden.

Müssen Schulen nicht auch bereits ab einer Inzidenz von 100 geschlossen werden? Das Infektionsgeschehen ist doch auf engeren Räumen mit vielen Menschen sehr hoch. 

In Schulen greifen aber auch die entsprechenden Maßnahmen sehr effizient. Das heißt, fast alle Schüler tragen Masken, deswegen gibt es auch fast keine engen Kontaktpersonen. Wenn es dann zu einem Erkrankungsfall kommt, entsteht daraus kaum ein weiterer Schaden und kein Ausbruch. Und deshalb halte ich es auch für sinnvoll, hier relativ tolerant zu verfahren. Natürlich macht es keinen Sinn, bei einer besonders hohen Inzidenz die Schulen offen zu lassen. Aber solange die Inzidenz in einem gewissen vernünftigen Rahmen bleibt, kann man mit Einzelerkrankungen sehr gut zurechtkommen. 

Kanzleramtsminister Helge Braun äußerte sich gestern zu der Einführung einer bundeseinheitlichen Corona-Notbremse wie folgt: „Das aktuelle Infektionsgeschehen ist in den meisten Regionen viel zu hoch und droht unser Gesundheitssystem zu überfordern.“ Teilen Sie diese Erfahrung? 

Schleswig-Holstein hat eine Sondersituation: Es ist das Bundesland mit den wenigsten Infektionsfällen und der geringsten Inzidenz. Das heißt, wir betrachten das Geschehen von unten, und derzeit ist es auch das einzige Bundesland, bei der die Bundesnotbremse nicht greift. Das ist also eine Sondersituation. In Schleswig-Holstein ist die Situation in den Krankenhäusern auch noch sehr entspannt. Aber wenn man sich die bundesweite Situation anschaut, dann nimmt die Belegung der Intensivstationen täglich weiter zu, und die Fallzahlen sind tatsächlich bedrohlich. Das ist ein weiteres Argument dafür, dass hohe Fallzahlen und Inzidenzen immer noch ernst genommen werden müssen. 

Der Chef von Deutschlands größter Krankenhauskette Helios, Francesco de Meo, behauptet, dass die Lage in den Krankenhäusern nicht wirklich dramatisch sei. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen? 

Die Anzahl der Todesfälle durch das Coronavirus ist bisher erheblich. Mittlerweile werden auch Todesfälle in jüngeren Altersgruppen beobachtet, zwar nicht mit dieser hohen Häufigkeit wie es bei den Hochbetagten zu beobachten war, aber immerhin nimmt dieser Anteil erheblich zu. Die Tendenz wird sich mittelfristig in Richtung einer Entlastung verändern, denn die Impfrate nimmt derzeit sehr kräftig zu. Die Marke der 20 Prozent der Erstgeimpften ist schon überschritten – das ist aber noch weit entfernt vom Ziel.

 

Die Fragen stellte Sina Schiffer 

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