Corona-Krise - Raus aus dem Wohlfühlmodus!

In Deutschland ist der Höhepunkt der Corona-Krise noch nicht erreicht. Die Bevölkerung muss sich von dem gewohnten Gefühl der Sicherheit verabschieden und mehr noch: Verantwortung übernehmen.

Omnipräsent: Das Coronavirus / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Epidemien sind, wie sonst nur Kriege, immer auch eine Herausforderung für eine Gesellschaft. Wie krisenfähig ist sie? Wie stabil? Wie solidarisch? Und vor allem: Wie schnell ist sie in der Lage, auf die neue Herausforderung zu reagieren? Eine der größten humanen Errungenschaften der Moderne erweist sich in solchen Krisen als Problem: Das Sicherheitsgefühl.

Der moderne Mensch des Globalen Nordens hat dank Hochleistungsmedizin, Sozialstaat und internationaler Sicherheitspolitik weitgehend verlernt, was für Menschen über Jahrtausende selbstverständlich war: Dass alle Ruhe trügerisch ist und schon morgen das Unheil vor der Tür stehen kann. Es ist ein wenig paradox. Eben weil wir glücklicherweise in der Lage sind, schnell und effizient auf Epidemien zu reagieren, laufen wir Gefahr, genau das nicht zu tun. Dabei ist es allerhöchste Zeit, den Wohlfühlmodus zu verlassen.

Aktuelle Zahlen sind Momentaufnahmen der Vergangenheit

Das bedeutet nicht, in Panik zu verfallen, lediglich, sich die Situation klar vor Augen zu führen. Dass sich in Deutschland aktuell – Stand 13 März, 20.30 Uhr – nur 3.634 Menschen infiziert haben und acht Patienten an Corona gestorben sind, bedeutet wenig. All jenen, die mit solchen Zahlen neunmalkluge Berechnungen anstellen, haben einiges nicht verstanden. Denn solche Zahlen – man muss das vermutlich häufiger wiederholen – sind Momentaufnahmen der Vergangenheit.

Wer heute positiv getestet wurde, hat sich vor Tagen, vielleicht vor zwei Wochen infiziert. Umkehrschluss: Wie es heute aussieht, werden wir er erst in zwei, drei Wochen wissen. Nur dann ist es gegebenenfalls zu spät. Wie schnell die Situation anziehen kann, zeigt das Beispiel Italien: Am Donnerstagmittag zählte das Land 12.462 Infizierte und 827 Tote. Am Mittwoch starben in Italien 196 Menschen, am Tag davor waren es 97, am Montag über 100.

Kein Anspruch auf Überheblichkeit

Auch wenn die Zahlen darin gründen, dass in Italien auch Tote getestet werden, die überhaupt nicht wegen Corona in Behandlung waren: Die Größenordnung alarmiert dennoch. Denn machen wir uns nichts vor: Die Wahrscheinlichkeit, dass Italien lediglich die Zustände abbildet, die wir in drei Wochen haben werden, ist extrem hoch.

Italien ist ein hochentwickeltes Land mit einem hochentwickelten Gesundheitssystem. Für Überheblichkeit und die Überzeugung, in Deutschland sähe die Sache anders aus, gibt es nicht den kleinsten Anhaltspunkt. Deshalb warnt der besonnene und sachliche Prof. Christian Drosten, Chefvirologe an der Charité, davor, den Vorsprung in der Diagnostik zu verspielen, den Deutschland durch Glück und ein gut ausgebautes Laborsystem hat.

Ein Shutdown hätte längst erfolgen müssen

Die Toten in einem Monat sind die Infizierten von heute. Jetzt auf aktuell verfügbare Zahlen zu verweisen und sich über Alarmismus und Hysterie lustig zu machen, ist eine Mischung aus Dummheit und Fahrlässigkeit. Auch weil die Mortalitätsrate bei über 65-Jährigen gegebenenfalls bis zu 25 Prozent beträgt. In einem Gespräch mit dem NDR mahnt Drosten daher: „Wollen wir in einem Monat wirklich sagen: 'Hätten wir doch damals einfach auf die Daten gehört. Und auf Experten aus dem Ausland gehört, auf Intensivmediziner, die verzweifelte Botschaften an deutsche Zeitschriften richten'?“

Die Lage ist eigentlich sonnenklar. Im Grunde hätte in Deutschland spätesten diese Woche der Shutdown erfolgen müssen. Eine realistische Infektionsquote von gut 60 Prozent – ab dann steht zu erwarten, dass die Infektionswelle sich von selbst einbremst – bedeutet 48 Millionen infizierte. Bei einer Mortalitätsrate von einem Prozent sind das 480.000 Tote.

Notwendige Verantwortung

Etwa zehn Prozent der Infektionen verlaufen kritisch: Das sind 4,8 Millionen Patienten. Bei diesen Zahlen kommt es darauf an, den Infektionsverlauf mit allen Mitteln über möglichst viele Monate zu strecken. Dafür ist jeder Einzelne verantwortlich, aber auch jedes Unternehmen, jeder Veranstalter. Und die Politik.

Es ist an der Zeit, mal wieder zu lernen, dass die angeblich notwendigen Dinge eines nicht sind: notwendig. Jedes Meeting, jedes Projekt, jeder Reise, jede Veranstaltung ist verschiebbar. Vor allem aber gebietet es auch das publizistische Ethos zu sagen: Dafür, den neunmalklugen Besserwisser zu spielen, der die führenden Virologen der Welt der Hysterie entlarvt, ist definitiv der falsche Zeitpunkt.

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