Ein Jahr mit Covid-19 - Wir dürfen wegen Corona nicht unsere Prinzipien verlieren

Vor einem Jahr, am 28. Januar 2020, wurde in Deutschland der erste Covid-19-Fall entdeckt. Seither prägt das Virus maßgeblich unsere Gesellschaft. Zeit für eine Bilanz der ersten 365 Tage mit Corona.

Ein Alltag ohne Maske ist inzwischen unvorstellbar / dpa
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Autoreninfo

Michael Theurer sitzt seit 2017 für die FDP im Bundestag. Er ist stellvertretender FDP-Fraktionsvorsitzender.

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Am Anfang stand die krasse Fehleinschätzung von Kanzlerin und Bundesgesundheitsminister. In den vergangenen Jahren hatte es immer wieder neue Krankheiten gegeben, teils auch mit erheblichen Todesfällen und einer raschen Ansteckung. Darunter auch Coronaviren wie die Erreger von SARS und MERS. Diese waren schlimm genug, doch tangierten sie weder die USA noch Europa direkt und drangen so nicht ins Bewusstsein der westlichen Öffentlichkeit. Das Risiko war freilich nicht weg – die Vorsorge wurde jedoch immer weiter vernachlässigt. Man wollte nicht an den Ernstfall glauben. Und so sprach Kanzlerin Merkel davon, Corona sei kein Anlass zur Sorge, und Gesundheitsminister Spahn ließ sich sogar zur Aussage verleiten, Corona sei nicht schlimmer als eine Grippe.

Und heute? Heute sind wir mitten in einer Pandemie-Zeit, deren Ende nicht absehbar erscheint. Dabei erscheint mir diese Zeit manchmal seltsam surreal, unwirklich, wie ein Albtraum, bei dem man sich nur wünscht aufzuwachen und alles ist einfach vorbei. Wer die offene Gesellschaft, die liberale Demokratie herausfordern, gar zerstören wollte, der müsste sich ein genau solches Horror-Szenario ausdenken. Warnte nicht Juli Zeh in ihrem Roman „Corpus Delicti“ schon 2009 vor einer Art Gesundheitsdiktatur, in der alles Gefährliche oder gar Gesundheitsschädliche verboten wird?

Dreifache Herausforderung

Die Corona-Pandemie ist freilich kein Szenario aus einem dystopischen Science-Fiction-Roman, sondern die bittere Realität. Sie fordert unser freiheitliches Gemeinwesen gleich dreifach heraus. Erstens die Eindämmung der Pandemie selbst im Spannungsfeld zwischen staatlich verordneten Einschränkungen und Eigenverantwortung, zweitens der massive staatliche Eingriff in individuelle Freiheitsrechte, der den liberalen Rechtsstaat mit parlamentarischer Demokratie als Gesellschaftsordnung herausfordert und drittens die Störungen der Sozialen Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung.

Im Systemwettbewerb mit autoritären Regimen wie China und Russland, die in Wahrheit längst den Propagandakrieg eröffnet haben, müssen wir beweisen, dass die Pandemiebekämpfung möglich ist ohne die freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der liberalen westlichen Demokratien zu zerstören oder auch nur nachhaltig zu schwächen. Ich habe das einmal auf die Formel gebracht: Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte, wenn wir am Ende nicht nur das Virus, sondern auch das autoritäre politische System und die staatskapitalistische Wirtschaft aus China importieren würden.

Bislang waren 200 Jahre lang liberale Demokratien mit marktwirtschaftlichen Elementen anderen politischen Systemen überlegen, weil sie schneller, kreativer, fortschrittsfreundlicher, reform- und leistungsfähiger waren. Dafür ist ein offener Diskurs in Gesellschaft, Wissenschaft und Politik notwendiger denn je. Vor allem müssen die Debatten und Entscheidungen aus den Hinterzimmern hinein in die Parlamente.

Einige markante Stationen des Jahres 2020 lohnen es, in Erinnerung gerufen zu werden, um daraus Lehren zu ziehen.

Start mit Mängeln

Zunächst, wie knapp wir im Februar, März und April an einer viel größeren Katastrophe vorbeigeschlittert sind. Täglich erreichten mich Hilferufe, etwa von Klinikchefs, denen OP-und Viren hemmende Masken auszugehen drohten und niedergelassenen Ärzten, die kein Desinfektionsmittel auftreiben konnten. Ich setzte mich bei Lufthansa Cargo und dem Zoll dafür ein, dass die Lieferungen durchkommen.

Daneben die Verhandlungen mit der Bundesregierung und den regierungstragenden Fraktionen sowie den Grünen über die Notfallmaßnahmen.

Hier erlebten wir ein böses Omen, das die Bundesrepublik in der Form noch nicht gesehen hat. Denn der Gesetzentwurf aus dem Hause Spahn sah vor, dass das Bundesgesundheitsministerium zukünftig ohne Parlamentsbeteiligung einen Notstand einschließlich der Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten ausrufen und auch nur das Gesundheitsministerium einen solchen wieder aufheben könne.

Empörter Anruf von Jens Spahn  

Ich weiß nicht, welche Mischung aus Arroganz der Macht und völliger Geschichtsvergessenheit einen Ministerialjuristen dazu bewegen, einen solchen Gesetzentwurf aufzuschreiben und was in einem Bundesgesundheitsminister vorgehen muss, der einen solchen Entwurf freigibt. Doch ich bin froh und dankbar, dass die Bundesregierung – natürlich auch aus einem gewissen Eigeninteresse heraus – hier FDP und Grüne in den Gesetzgebungsprozess eingebunden hat, um die Beschlüsse auf eine breite parlamentarische Mehrheit zu stützen. Denn mit der FDP wäre eine Notstandsgesetzgebung ohne Parlamentsvorbehalt in tausend kalten Wintern nicht zu machen.

Als ich vor diesen Verhandlungen – wie sich das als Oppositionspolitiker gehört – bereits am 28. Februar einen Plan vorlegte, wie die Pandemiebekämpfung besser organisiert werden könnte, bekam ich einen empörten Anruf von Herrn Spahn. Die Lautstärke werde ich jedenfalls nicht so schnell vergessen. Nach und nach setzte er aber umso leiser meine Vorschläge um. Immerhin.

„Öffnungsdiskussionsorgien“

Im Anschluss gab es natürlich Debatten über die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen– von der Kanzlerin verunglimpft als „Öffnungsdiskussionsorgien“. Den Sommer über geschah dann politisch im Wesentlichen: Nichts. Keine flächendeckende Beschaffung von Be- und Entlüftungsanlagen mit Filterfunktion für die Kindergärten, Schulen und Hochschulen, aber auch keine Vorbereitung auf Distanzunterricht. Die Impfstoffbestellung wurde genauso verschlafen wie der Aufbau von Produktionskapazitäten, Programme für mögliche notwendige rasche Liquiditätshilfen wurden nicht frühzeitig aufgesetzt, Risikogruppen nicht flächendeckend geschützt. Als Oppositionspolitiker hatte ich das Gefühl, ich rede mir den Mund fusselig, aber niemand will hören, dass man für die zweite Welle vorsorgen muss – und dass die Vorsorge nicht nur darin bestehen kann, dass man notfalls eben wieder das Land dicht macht.

Jetzt sieht die Situation so aus: Eine ganze Reihe von Ländern sind mit dem Verimpfen eines in Deutschland entwickelten Impfstoffs weiter als wir. Impfstoffe sind Mangelware. Und im aktuellen Impftempo wären wir wahrscheinlich irgendwann 2025 fertig. Das Tempo wird wahrscheinlich auch erst in einigen Monaten wirklich anziehen.

In den Schulen gibt es meist keine adäquaten pädagogischen Konzepte für das Distanzlernen, Präsenzlehre mit offenen Fenstern kann aber im Januar auch keine ernsthafte Alternative sein, zumal die Arbeitsstättenverordnung Raumtemperaturen von mindestens 19 Grad Celsius erforderlich macht. Präsenzunterricht bedeutet aktuell also Infektionsrisiko, Rechtsverstoß oder Kältefrei.

Hilfen fehlen immer noch

Der zweite Lockdown traf nach den Aussagen von Herrn Spahn im September, dass man Einzelhandel und Friseure mit dem Wissen von heute nicht mehr schließen würde, viele überraschend. Die vor dem zweiten Lockdown versprochenen „großzügigen und unbürokratischen" Hilfen wurden bis heute größtenteils nicht ausgezahlt. Denn die Bundesregierung hat hier zwei elementare Fehler gemacht: Zum einen hat sie die Hilfen nicht bereits vorab für ein solches Szenario geplant, weshalb die Computerprogramme für die Berechnung und Auszahlung der Hilfen überhaupt erst einmal programmiert werden mussten. Zum anderen hat sie die Hilfen nicht so gestaltet, dass sie leicht mit den beim Finanzamt ohnehin vorhandenen Daten berechnet werden können.

Die Hilfen in ihrer konkreten Ausgestaltung sind ein bürokratisches Monstrum, das in vielen Fällen bei der Antragstellung schon mehr Geld in Form von Steuerberaterkosten verschlingt als am Ende hinten rauskommt. Nachdem schon die Entschädigungsregeln bei der Schließung ganzer Branchen nicht äquivalent zur Schließung einzelner Unternehmen aus Infektionsschutzgründen angewendet wurden, der nächste Schlag ins Gesicht für die Betroffenen. Ich persönlich fände einen solchen Anspruch auf Entschädigung nur fair, die FDP hat sie im November mit ihrem Gesetzentwurf zur Reform des Infektionsschutzgesetzes im Bundestag beantragt. Denn die Gemeinschaft hat ein Interesse an der Betriebsschließung, dann sollte auch die Gemeinschaft haften.

Schutz der Risikogruppen

Und schließlich der Schutz der Risikogruppen: Man hat uns ein Dreivierteljahr lang erzählt, das sei unmöglich, während es der Oberbürgermeister von Tübingen Boris Palmer einfach gemacht hat. Was in Tübingen erfolgreich praktiziert wird, muss in ganz Deutschland möglich sein. Denn die dramatischen Todesfälle im Dezember und Januar ereigneten sich in den Alten- und Pflegeheimen und sind maßgeblich auf diese fatale Fehleinschätzung zurückzuführen. Vielleicht verstärkt noch durch eine fehlende Überwachung von Mutationen. Ein entsprechender Rat von Virologen wurde über ein Jahr lang im Bundesgesundheitsministerin einfach ignoriert. Während das Land im Lockdown ist, läuft das Virus in den Alten- und Pflegeheimen weiter Amok. Noch im Januar ist bei der Altersgruppe der über 90-jährigen die Inzidenz bei über 600, mehr als viermal so hoch wie in der Gesamtbevölkerung. Nur langsam werden Schritte unternommen, um echten Schutz zu gewähren.

Dass nun der Lockdown womöglich noch weiter verlängert wird und noch niedrigere Inzidenzen angestrebt werden, ist mit der Gefahr von Mutationen einigermaßen begründbar. Nur dass wir bisher kaum wissen können, wie verbreitet welche Mutation in Deutschland ist. Bis Mitte Januar wurde nur etwa jeder 900. positive Corona-Test genom-sequenziert, also auf Mutationen überprüft, während es in Großbritannien etwa jeder 16. Positive Test ist. Zur Einordnung: Selbst auf dem absoluten Höhepunkt der zweiten Welle wurde damit im Schnitt pro Landkreis nur eine einzige Probe alle anderthalb Wochen überprüft. Aussagekraft: Nahe null.

Das weitere Vorgehen

Für das weitere Vorgehen gilt, dass Familien, Arbeitnehmer und Unternehmen Planbarkeit brauchen. Notwendig ist deshalb eine souveräne und verlässliche Strategie, die den Bürgerinnen und Bürgern Orientierung bietet und die notwendigen Maßnahmen begründet.

Schutz vulnerabler Gruppen, mehr Nachdruck in der Impfkampagne, bessere Datengrundlagen, ein Stufenplan der eine regional differenzierte Öffnung ermöglicht, Förderung von Corona-Medikamenten und die Aufarbeitung der Coronakrise werden nun die nächsten notwendigen Schritte sein.

Mittelfristig noch wichtiger wird aber etwas anderes sein: Wir müssen zurück zu den Grundsätzen unserer Gesellschaft. Vertrauen in Fortschritt bedeutet Unterstützung von wissenschaftlich-technologischer Innovation und radikale Reformbereitschaft. Erhalt der Sozialen Marktwirtschaft bedeutet Einheit von Handeln und Haften, und das bedeutet Entschädigungen. Liberale Demokratie bedeutet offene Debatten über Ziele und Maßnahmen. Parlamentarismus statt Hinterzimmerrunden und geleakten Gesprächsfetzen. Rechtsstaatlichkeit bedeutet, dass jede Maßnahme verhältnismäßig sein muss. Wenn wir diese Prinzipien verlieren, verlieren wir uns selbst.

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