Cem Özdemir im Porträt - Der Mehrsprachler

Der Bundeslandwirtschaftsminister kann ganz verschiedene Bühnen bespielen. Doch wo der Grüne Cem Özdemir künftig am nötigsten gebraucht wird, ist noch offen.

Cem Özdemir / Foto: Maximilian Mann
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Autoreninfo

Johanna Henkel-Waidhofer ist Korrespondentin für Landespolitik in Baden-Württemberg für mehrere deutsche Tageszeitungen. 

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Hinweis: Dieses Porträt ist in der Januar-Ausgabe des Cicero und vor den Bauernprotesten erschienen. 

Er ist eloquent und erfahren und hat in den Augen vieler das Format, um Ministerpräsident Winfried Kretschmann zu beerben. Aber die Nervosität unter Südwest-Grünen steigt. Cem Özdemir zögert, ob er tatsächlich versuchen soll, als erstes Gastarbeiterkind überhaupt in Deutschland zum Regierungschef gewählt zu werden. Erst im Frühjahr 2026 sind in Baden-Württemberg Wahlen, aber keiner weiß, ob es nicht vielleicht unterwegs einen Wechsel geben könnte.

Zunächst ist der Bundeslandwirtschaftsminister noch eingeklemmt in einem doppelten Sandwich. Zum einen agiert Özdemir zwischen landespolitischen Ambitionen und bundespolitischer Realität. Zum anderen wird er eingequetscht zwischen den hohen Erwartungen auf der einen Seite, die Umweltverbände und Naturschutz-NGOs an einen Grünen formulieren, und vielen Verbotsvorwürfen seiner Gegner auf der anderen Seite. Neuerdings greift er sogar zum Mittel der Satire in der Hoffnung, dass er spöttisch, spitzzüngig und mit Humor der Zwangslage effektiver begegnen kann als mit inhaltlichen Belehrungen. 

Die beste Brezel 

Das Prinzip jedenfalls sei immer dasselbe, berichtet der Vegetarier Özdemir. Es werde so viel Unsinn über seine Pläne erzählt und geschrieben, dass es viel zu viel Redezeit bräuchte, die Verdrehungen und Verdächtigungen zu entkräften: zur Tierhaltung, zur Renaturierung, zu Süßigkeiten, Salz, Wurst und manchem mehr.
Sogar beim Fleischerhandwerk kommt inzwischen gut an, wenn Özdemir Uli Hoeneß’ Behauptung, er wolle ihm vorschreiben, Kaffee ohne Zucker zu trinken, aufgekratzt mit dem Bekenntnis kontert: „Von mir aus kann er sich Speckwürfel in den Kaffee tun.“
 

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Ein Clip vom Brezeltest des Comedian Aurel Mertz, noch ein abtrünniger Schwabe in Berlin, könnte als Bewerbung für den Top-Job in Stuttgart verstanden werden: Auf dem Tisch Özdemirs drei Exemplare dieser Backware, die der Sage nach seinem Erfinder im 15. Jahrhundert das Leben gerettet hat, außerdem ein Glas Streuobstwiesen-Apfelsaft, ein Baden-Württemberg-Fähnchen und einschlägige Infos auf Schwäbisch. Darunter die Hinweise, dass und warum die beste Brezel natürlich aus seiner Geburtsstadt Bad Urach stamme.

Der studierte Sozialpädagoge versteht sich auch auf Selbstvermarktung. Auf seinen Namen angesprochen, sagt er seit Jahren, er sei gut zu Fuß, aber nicht eingewandert. Das Leben eines typischen Gastarbeiterkinds hat er sehr wohl gelebt. In der Schule abgestempelt als nicht einmal mittelmäßig qua Herkunft, kein Abi, aber mit 18 – auf Antrag – die deutsche Staatsbürgerschaft.

Anerkennung in zwei Welten

Der Mehrsprachler strebt beharrlich nach der Anerkennung in zwei Welten, poliert auf seinen ersten Alleinreisen in das Herkunftsland der Eltern das durch deren Auswanderung angestaubte Türkisch auf, das daheim gesprochen wird. 1994 zieht er in den Bundestag ein. Der Titel seines ersten Buches richtet sich fünf Jahre später an die deutschen Mitbürger: „Ich bin Inländer“. Es grenze an ein Wunder, anerkennt ein Rezensent, „dass er trotz all der Intrigen und Hetzjagden gegen ihn sein Herz für Menschen in Not offenhalten konnte“. Große Fehler hat er da noch vor sich. Ein dubioses Darlehen zwecks Begleichung einer Steuerschuld und die private Nutzung von durch Dienstreisen gesammelten Bonusmeilen führen zu einer Auszeit und zu Kopfschütteln gerade in der türkischen Community. 

Özdemir strickt dennoch energisch an seinen Netzwerken. Behilflich sind ihm Zugewandtheit und Temperament. Dass ihm Eitelkeit nicht fremd ist, hat nicht nachhaltig geschadet. In seinem Stuttgarter Wahlkreis hat Özdemir mit selbst für die erfolgsverwöhnten Grünen dort herausragenden 39,9 Prozent das Direktmandat geholt. Er ist Realo, hat aber auch schon mal für einen auf 49 Prozent erhöhten Spitzensteuersatz plädiert, kennt Aufs und Abs wie nur wenige aus der Berufspolitikerkaste. Der eigene Landesverband verwehrt ihm 2009 die Rückkehr in den Bundestag. Er wird Bundesvorsitzender, 2013 dann wieder MdB. Unerfüllt blieb bisher der Traum, das Amt des Außenministers zu übernehmen. 

Vor wenigen Wochen haben Özdemir und seine aus Argentinien stammende Frau ihre Trennung „in Freundschaft“ bekannt gegeben. Der Hoffnungspegel unter Südwest-Grünen schnellte nach oben in der Einschätzung, dass den 57-Jährigen jetzt familiär weniger als bisher von höheren Ämtern fernhält. Und wenn Özdemir sich durchringt, im Ländle anzutreten, kommt noch eine „Sprache“ ins Spiel. Sein Lieblingsspruch in Mundart zum Thema Bildung: „Bloß Domme moinet, de Gscheide wisset älles.“ Der hätte auch von Kretschmann kommen können.


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