Führungskrise - Die CDU muss sich erneuern, bevor sie implodiert

Die CDU befindet sich in einer existenziellen Krise. Wenn sie als Volkspartei überleben will, muss sie sich nicht nur personell, sondern auch inhaltlich und mental erneuern. Die Alternative liegt in einer Implosion – mit ungewissem Ausgang.

Bei der Krise der CDU geht es um die politische Gestalt der Bundesrepublik, wie wir sie kennen / picture alliance
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Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Universität Mainz und Mitglied der CDU. Der 52-Jährige ist Vordenker eines modernen Konservatismus und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. 2019 erschien von ihm „Konservativ 21.0“ (C. H. Beck) (Foto: dpa)

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Krisen haben keinen guten Ruf. Krise klingt wie Krätze, und keiner will sie haben. Auch die CDU nicht. Dabei ist die eigentliche Bedeutung des Begriffs gar nicht so negativ. „Krise“ kommt vom griechischen „krinein“, zu Deutsch „trennen“ oder „unterscheiden“. Eine Krise ist eine Entscheidungssituation, in der sich die Dinge zum Guten oder zum Schlechten wenden können. In der Tat: Beides ist möglich.

Die Gefahr liegt darin, dass die CDU implodiert. Wenn Glaubwürdigkeit verloren geht, können stabile Strukturen, die lange Zeit Bestand hatten, sehr viel schneller kollabieren, als man noch am Vorabend dachte. Das haben nicht nur die DDR im Herbst 1989 oder die italienische Democrazia Cristiana 1994 erlebt. Daher haben alle, die nun die üblichen Versatzstücke von Geschlossenheitsappellen und Hinterzimmerdiplomatie bemühen, den Ernst der Lage nicht verstanden.

Die Chance hingegen liegt darin, dass die CDU einen Neuanfang schafft, neue Stärke gewinnt und damit auch die kriselnde, sich polarisierende bundesdeutsche Parteiendemokratie wiederbelebt. Es geht um mehr als nur die Personalie eines Parteivorsitzes oder auch das Schicksal einer einzelnen Partei. Wie keine andere politische Kraft hat die CDU das Gesicht der Bundesrepublik geprägt. Es geht um die politische Gestalt der Bundesrepublik, wie wir sie kennen.

Während der Ära Angela Merkels hat sich die CDU für gesellschaftliche Schichten geöffnet, die ihr zuvor verschlossen waren. Andererseits hat die Politik der Alternativlosigkeit und der abrupten Wenden die Partei in eine inhaltliche Erschöpfung geführt und eine Repräsentationslücke auf der politischen Rechten eröffnet, in der sich die AfD etabliert hat. Die große Aufgabe für die neue CDU-Führung wird darin bestehen, die Offenheit der Partei zu bewahren und zugleich eigene und unterscheidbare Antworten auf die großen politischen Fragen zu formulieren. Der Nachfolger Kramp-Karrenbauers und Merkels muss die Partei integrieren, sie profilieren und mit persönlicher Autorität führen. Dann hat er die Chance, sie wieder in die politische Offensive zu bringen und die AfD substanziell zu reduzieren.

Integration 

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Seit ihrem Ludwigshafener Parteiprogramm von 1978 spricht die CDU von ihren „drei Wurzeln“: der sozialen, der liberalen und der konservativen. Das wirkte einerseits integrativ. Zugleich aber führte es dazu, dass die drei Begriffe nebeneinander- und in letzter Zeit sogar zunehmend gegeneinanderstanden: Wer zum liberalen Flügel zählte, war in dieser Logik nicht sozial, und wer auf dem konservativen Flügel stand, demzufolge nicht liberal.

Die Zentrifugalkräfte haben sich inzwischen so verstärkt, dass Vertreter der unterschiedlichen Richtungen aufeinander einschlagen und sich gegenseitig die Zugehörigkeit zur Partei absprechen. Ein mahnendes Beispiel gibt die Democrazia Cristiana, die letztlich an erbitterten Flügelkämpfen zerbrochen ist. Die erste Aufgabe der neuen Parteiführung besteht also darin, den unterschiedlichen Positionen innerhalb der Union das Gefühl der politischen Heimat zu geben, einschließlich der Union der Mitte und der Werteunion – und dann von beiden ihre Auflösung zu erwarten.

Die Integrationsaufgabe geht zugleich über die politischen Richtungen hinaus. Sie richtet sich ebenso auf die ostdeutschen Länder, die der CDU und der westdeutsch geprägten politischen Kultur abhandenzukommen drohen. Das wird freilich ebenso wenig durch Anbiederung an die AfD gelingen, wie die Anpassung an Rot-Grün die CDU im Westen zukunftsfähig macht. Erfolgreiche Integration erfordert vielmehr eine im Wortsinn attraktive, anziehende CDU, die weiß, wofür sie steht, und die einen eigenen Standpunkt hat. Pragmatische Integration und inhaltliche Unterscheidbarkeit sind nämlich keine Gegensätze, wie es oft heißt. Im Gegenteil: Pragmatismus und Profil sind zwei Seiten der einen Medaille namens Volkspartei.

Profilierung

Inhaltliche Profilierung setzt voraus, mit den gesellschaftspolitischen Debatten vertraut zu sein, um sich offensiv einzubringen. Unter Generalsekretären wie Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler hat die CDU dies getan. Damals war sie eine intellektuell aufregende Partei, und das Ludwigshafener Programm von 1978 war wohl das beste ihrer Geschichte. 

Seither aber hat sich die Debattenlage grundlegend verändert. Im 21. Jahrhundert lässt sich eine paradigmatische Verschiebung beobachten: von einem bürgerlichen Gesellschaftsentwurf, der vom Individuum und von seinen Chancen her denkt, hin zu einer multikulturalistischen Identitätspolitik, die von sozialen Gruppen und ihren Benachteiligungen ausgeht, welche durch Quoten zu beseitigen sind. Diese Verschiebung schlägt sich im Sprachwandel von „Gleichberechtigung“ zu „Gleichstellung“ nieder. Und sie führt zu absonderlichen Diskussionslagen: Während „biodeutsche Vollzeitmütter“ von feministischer Seite als „Heimchen am Herd“ diskreditiert werden, preisen Postkolonialisten voll verschleierte, nicht erwerbstätige Muslima als Ausweis kultureller Diversität. Demgegenüber machen sich rechte Nationalisten, die Frauen tatsächlich an den Herd wünschen, zu Anwälten von Frauenrechten, um Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie zu kaschieren. 

Gegenüber diesen Polarisierungen eigene, unterscheidbare Positionen zu formulieren, ist die Aufgabe, mit der sich die politische Mitte in Deutschland so schwertut, weil sie über der großkoalitionären Macht das Begründen von Politik verlernt hat. Dabei liegt das Besteck für die Operation „Profil“ im christdemokratischen Instrumentenkasten bereit. Das Wichtigste ist die Vorstellung der gleichwertigen, aber verschiedenartigen und unvollkommenen Menschen – mit der Konsequenz, dass soziale Ungleichheit dann in Ordnung ist, wenn sie auf eigenen Leistungen und freien Entscheidungen beruht; dass sie aber bekämpft werden muss, wenn sie durch ungleiche Voraussetzungen und Chancen entsteht. 

Christdemokratisches Denken sucht die Balance zwischen Individuum und Kollektiv und setzt daher besonders auf gesellschaftliche Institutionen wie Bürgergesellschaft und Familie. Und auf das Subsidiaritätsprinzip, das der christdemokratischen Gesellschaftsvorstellung und der sozialen Marktwirtschaft zugrunde liegt. Der Einzelne ist demzufolge grundsätzlich zur Selbstverantwortung verpflichtet; wenn er dies nicht leisten kann, dann (aber erst dann!) hat er das Recht auf die Solidarität der Gemeinschaft. Kurzum: privat vor Staat und klein vor groß.

Wie so vieles ist dies eine Frage der Balance, die immer neu begründet werden muss. Dabei geht christdemokratisches Denken stärker von Erfahrung und Alltagsvernunft aus als von Theorien und abstrakten Modellen: Pragmatismus anstatt dogmatischer Unbedingtheit. Christdemokratisches Denken verkörpert auch die „bürgerliche Mitte“ – in dem Sinne, dass es nicht einer linken ideologischen Selbstgewissheit folgt; dass es Bürgerfreiheit höher schätzt als Staatsinterventionismus. Und dass es für Chancengerechtigkeit eintritt anstatt für den Versuch, Ergebnisgleichheit herzustellen.

Mit diesem Instrumentarium lassen sich kohärente politische Positionen begründen. Etwa das Leitbild einer Europäischen Union, die sich auf ihre Kernaufgaben konzentriert und die nationalstaatliche Kooperation mit supranationaler Integration verbindet. Oder eine Klimapolitik, die Gefahren ernst nimmt, ohne in apokalyptische Hysterie zu verfallen – und die auf staatliche Ordnungspolitik in Verbindung mit Marktvertrauen und Technologieoffenheit setzt. Eine Familienpolitik, die den Familien nicht vorschreibt, nach welchem Modell sie leben sollen, sondern ihnen aktiv ermöglicht, so zu leben, wie sie es wollen. Eine Geschlechterpolitik, die strukturelle Benachteiligungen beseitigt und Ungleichheit als Ergebnis von freien Entscheidungen akzeptiert. Eine Bildungspolitik, die eine neue Bildungsoffensive vor allem für Migranten startet, um das Leitbild des Aufstiegs durch Bildung neu zu beleben. Und nicht zuletzt eine humanitäre und zugleich rechtsstaatlich-konsequente Migrationspolitik sowie eine Integrationspolitik, die eine bürgergesellschaftliche Leitkultur von allen einfordert und damit die offene Gesellschaft mit der Verbindlichkeit ihrer Grundlagen verbindet. 

Führung 

Inhaltliche Sprechfähigkeit ist die eine Grundlage politischer Führung; persönliche Autorität ist die andere. Beides brauchen sowohl die CDU als auch die Regierung. Der Thüringer Landesverband wollte sich in der Erfurter Affäre nicht von Berlin aus die Hand führen lassen. Tatsächlich ist die Unabhängigkeit der Landesverbände ein hohes Gut des Föderalismus; die CDU will ja keine zentralistische Kaderorganisation sein, sondern eine bürgerliche Partei. Gleichwohl braucht auch eine bürgerliche Partei ihre Regeln. Dazu zählen Grundsatz- oder Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Und daher muss die Parteiführung die Autorität besitzen, dass einzelne Kräfte die Leitplanken der Partei nicht als Altmetall verschrotten.

Leadership ist nicht nur innerhalb der Partei gefragt, sondern auch auf internationaler Ebene: gegenüber Donald Trump und Wladimir Putin, aber auch gegenüber Boris Johnson oder Emmanuel Macron. Nachdem der französische Präsident auf seine Vorschläge zur Weiterentwicklung der EU keine satisfaktionsfähige Antwort aus Berlin bekommen hat, ist er dazu übergegangen, an Deutschland vorbei Europapolitik zu machen und Berlin Lektionen in Sachen Machtpolitik zu erteilen.
Die deutsche Außen- und Europapolitik braucht dringend strategische Führung, wenn sich Europa in einer Welt behaupten will, die auf eine neuerliche bipolare Dominanz zusteuert, diesmal durch die USA und China. Ob Europa in zehn Jahren in diesem weltpolitischen Konzert noch mitspielt, hängt wesentlich von Berlin ab. Ob nach außen oder im Inneren – was die deutsche Politik dringend braucht, ist Leadership. 

Optimismus und Offensive

Integration, Profil und Führung – das Aufgabenbuch für den Nachfolger Merkels und Kramp-Karrenbauers ist prall gefüllt. Sollte er daran scheitern, rückt die Gefahr der Implosion tatsächlich näher. Im besten Fall aber kann die CDU aus dieser Herausforderung neue Kraft gewinnen. Tragfähige Antworten auf die Anforderungen sich wandelnder Zeiten zu entwickeln und zu begründen, bedeutet mehr als bloß pragmatische Anpassung. Vielmehr muss die deutsche Christdemokratie daraus auch im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine intellektuell und politisch anspruchsvolle Unternehmung machen.

Diese Aufgabe bietet zugleich die Chance, mit neuer Überzeugungskraft und mit Optimismus wieder in die politische Offensive zu gehen. „Es gibt noch Politikentwürfe, für die wir uns begeistern können, und wenn wir selbst begeistert sind, können wir auch andere begeistern“, rief Oskar Lafontaine 1995 in Mannheim seiner Partei zu, die ihn daraufhin mit großer Mehrheit zu ihrem Vorsitzenden wählte. Was auch immer Lafontaine danach fabriziert hat – dieser Satz, den auch Heiner Geißler schon verwendet hatte, bleibt goldrichtig. 

Eine CDU als profilierte Sammlungsbewegung der bürgerlichen Mitte kann den politischen Wettbewerb von den Rändern in die politische Mitte zurückholen. Sie hätte die Chance, die AfD wieder substanziell zu reduzieren; denn deren zynisches Machtspiel mit parlamentarischen Verfahren in Erfurt zeugt von einer Verachtung für die parlamentarische Demokratie, die sich auch bürgerliche Protestwähler kaum wünschen dürften. Zugleich böte eine profilierte CDU auch der SPD die Chance, als Volkspartei der linken Mitte wieder erkennbar zu werden.

Die Alternative liegt in einer Implosion der Volksparteien – mit ungewissem Ausgang. Vielleicht wäre das zentristische Experiment Emmanuel Macrons auch für Deutschland die Konsequenz. Allerdings ist Macrons Zukunft völlig offen. Die bundesdeutsche Demokratie mit ihren Volksparteien muss jetzt die Chance nutzen. Und eine starke neue CDU-Führung sollte dazu einen wesentlichen Beitrag leisten.

 

Dieser Text ist in der März-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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