Bundestagswahlkampf - Alles oder nichts

Bei der Frage nach möglichen Parteienkoalitionen im Anschluss an die Bundestagswahl ist absehbar, dass die Verhandlungen sehr kompliziert und langwierig werden dürften. Dabei könnte es zu einem Überbietungswettbewerb kommen. Ein Motto könnte sein: „Nichts ist unmöglich“.

Ein Radfahrer fährt an Wahlplakaten der Spitzenkandidaten von SPD, CDU und Grünen vorbei / dpa
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Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Keine Frage beantwortet Olaf Scholz so ausweichend wie die nach der Zusammensetzung einer möglicherweise von ihm geführten Koalition. Darüber entschieden die Wähler, antwortet der Kanzlerkandidat der SPD meistens. Oder noch verschwurbelter: „Ich finde, es geht darum, dass die Wählerinnen und Wähler das Mandat vergeben.“

Genau das tun die Wähler definitiv nicht. In einem Sechs-Fraktionen-Parlament ohne klar abgegrenzte Lager – Rot-Grün versus Schwarz-Gelb – liegt es zwar allein an den Wählern, welche Partei wie viele Mandate erringt und welche Koalitionen theoretisch möglich sind. Aber das letzte Wort haben eben nicht die Wähler, sondern die Parteiführungen.

Verringerte Farbkombinationen

Sicherlich werden wir am Abend des 26. Septembers die genaue Sitzverteilung im neuen Parlament kennen. Gleichwohl werden wir wahrscheinlich dann auch wissen, wer mit wem regieren will und wird. Wer Grün wählt, kann den Weg ebnen für ein Jamaika-Bündnis (CDU/CSU + Grüne + FDP) oder für eine Ampel (SPD + Grüne + FDP) oder für Rot-Grün-Rot unter Einschluss der Linkspartei oder für eine Kenia-Koalition à la Sachsen-Anhalt (CDU/CSU + SPD + Grüne). Wer bei der CDU/CSU sein Kreuz macht, der kann neben der Kenia- einer Jamaika-Koalition ebenso zur Mehrheit verhelfen wie einer Deutschland-Koalition (CDU/CSU + SPD + FDP). Da wird der Stimmzettel schnell zum Lottoschein.

Die Schwäche der Union und das Erstarken der SPD haben die Zahl möglicher Farbkombinationen freilich verringert. Zweier-Bündnisse wie Schwarz-Grün oder Rot-Grün sind – Stand heute – bei Anteilen von jeweils 22 bis 23 Prozent für Union und SPD und 18 bis 20 Prozent für die Grünen ebenso ausgeschlossen wie Schwarz-Gelb. Ausschließen kann man auch „Kenia“. Das war in Sachsen-Anhalt eine Notmaßnahme, weil ohne AfD und Linke keine andere Koalition gebildet werden konnte.

München gegen Berlin

Die Wahrscheinlichkeit für eine Deutschland-Koalition ist ebenfalls sehr gering. Bei der SPD würde die mehrheitlich linke Basis verhindern, dass die Partei als Juniorpartner der Union abermals zur Kanzlerschaft verhilft – und das noch eingezwängt zwischen den angeblich neoliberalen Parteien CDU/CSU und FDP. Bei der Union wiederum dürfte die Bereitschaft, als Mehrheitsbeschaffer für einen SPD-Kanzler zu fungieren, ebenfalls sehr gering sein. Vor allem die CSU wird lieber von München aus gegen ein Linksbündnis in Berlin agieren, als sich vor den bayerischen Wählern für viele unumgängliche Kompromisse in Berlin rechtfertigen zu müssen.

Bei all diesen Gedanken- und Rechenspielen darf eines nicht übersehen werden: Neben den sieben im Bundestag vertretenen Parteien treten noch weitere 40 Gruppierungen mit Landeslisten an. Von diesen „Sonstigen“ hat mit Ausnahme der Freien Wähler keine Partei Aussichten, auch nur in die Nähe der Fünf-Prozent-Hürde zu kommen; die Freien Wähler liegen laut Umfragen bei rund drei Prozent. Den Sonstigen werden von den Demoskopen insgesamt sieben bis acht Prozent der Stimmen zugetraut. Was bedeutet, dass bereits 46 oder 47 Prozent der Stimmen ausreichen, um im Bundestag auf die Kanzlermehrheit, also die absolute Mehrheit, zu kommen.

SPD wird nach der Wahl keine Ein-Mann-Partei mehr sein

Es dürften sehr komplizierte, langwierige Koalitionsverhandlungen werden. Dabei könnte es zu einem Überbietungswettbewerb kommen. Haben Union und FDP den Grünen in der Klimapolitik mehr zu bieten als die SPD? Oder locken SPD und Grüne die Freien Demokraten mit einem Verzicht auf Steuererhöhungen? Dass die Linke außenpolitisch ein unsicherer Kantonist ist, haben deren Abgeordnete erst in dieser Woche gezeigt, als die große Mehrheit dem Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan die Zustimmung verweigerte. Dabei ging es definitiv nicht um irgendwelche imperialistischen Eroberungen, sondern um die Rettung von Menschenleben. Aber wer weiß, welche Kröten die Linken zu schlucken bereit sind, um gemeinsam mit SPD und Grünen endlich Steuern erhöhen und identitätspolitische Kapriolen schlagen zu können? „Nichts ist unmöglich – Toyota“ lautete einmal ein Werbespruch. Er könnte zum Motto der Koalitionsverhandlungen werden.

Eines freilich wird nicht möglich sein: Dass die SPD nach dem 26. September eine Ein-Mann-Partei bleibt wie während des Wahlkampfes. Die Co-Vorsitzende Saskia Esken und der Parteivize Kevin Kühnert, eifrige Vorkämpfer für Rot-Grün-Rot, Verstaatlichungen und möglichst viel Umverteilung, werden ebenso wie andere führende Linke nach Schließung der Wahllokale nicht hinter den Kulissen bleiben. Sie werden dann von Olaf Scholz einen Preis dafür verlangen, dass sie die Wähler nicht mit ihrer Vision eines demokratischen Sozialismus verschreckt haben. Dann wiederum ist alles möglich.

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