Parlamentarismus als Weg aus der Krise - Wir müssen mehr Bundestag wagen

Am Ende der Ära Merkel brechen überall immense Probleme auf: Inflation, Rohstoffmangel, Verwaltungschaos, Fachkräftemangel. Und inmitten dieser Situation befindet sich ausgerechnet die CDU in einer Selbstfindungskrise. Ein Ausweg könnte in der Revitalisierung des Parlamentes und in der Wiederentdeckung der offenen Debatte liegen.

Der Parlamentarismus als Licht in der Dunkelheit / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Der eitle Tanz um das Goldene Kalb der Macht steht in einem bizarren Gegensatz zur Situation des Landes. Die ist prekär auf allen denkbaren Feldern. Wir machen uns lustig über die Briten, die mit ihrem Brexit auch jene Lastwagenfahrer aus dem Land gejagt haben, die sie für elementare Dienste brauchen, und sehen nicht, dass dieselbe ignorante Brüsseler Maschinerie drauf und dran ist, mit hämischer Begleitung aus Berlin nun auch die Polen aus der Europäischen Union zu vergraulen. 

Hat irgendwer hierzulande eigentlich auch nur eine ungefähre Vorstellung davon, was ein Rückzug der fleißigen, zuverlässigen und handwerklich begabten Polen für Folgen hätte? Offensichtlich nicht, sonst wäre diese Kanzlerin längst ihrer Busenfreundin von der Leyen in den Arm gefallen. Doch es ist Angela Merkel auch diesmal schlicht wurscht. Der polnische Rechtsstaat steckt in der Krise, das ist wahr, aber uns steht die Rolle des Oberlehrers weniger zu als je zuvor.

Deutschland leistet sich mit Stephan Harbarth einen Präsidenten an der Spitze des Bundesverfassungsgerichts, dessen juristische Qualifikation für dieses Amt zweifelhaft ist und der dieses nie bekommen hätte ohne seine Herkunft aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. 

Allerorten lauern Gefahren

Deutschlands Hauptstadt leistet sich eine Landesregierung, der außer einem „Ups!" nichts einfällt zu einem Wahl-Sonntag, der miserabler organisiert war als in jeder Bananenrepublik, der nicht einmal eine Wahlbeteiligung von 150 Prozent ernsthaft zu denken gibt, denn, so der zuständige Innensenator mit SED-Vergangenheit (für die er sich, wie er sagt, nicht schämen mag), außer ein wenig Rechtsaufsicht habe er mit den chaotischen Ereignissen vom 26. September nichts zu tun. Woraufhin eben jener BVerfG-Präsident Harbarth als Bruder im Geiste vorsorglich klarstellt, dass die „Bestanderhaltung einer gewählten Volksvertretung“ einen sehr hohen Wert darstelle, der, wenn überhaupt, nur durch extreme „Wahlfehler“ in Frage gestellt werden könne. Allzu große Hoffnungen auf eine vorbehaltlose verfassungsrechtliche Prüfung sollten sich jene Leute, die diese Landtags- und Bundestagswahlen anzufechten gedenken, also besser nicht machen.

Es ist andererseits wahr: Miesepetrigkeit und überzogene Schwarzmalerei bekommen leicht einen reaktionären Charakter, weil sie Resignation und Fatalismus fördern. Aber zu einer realistischen Analyse der Situation gehört eine Auflistung der vielfachen Gefahren und Probleme, der sich die kommende Bundesregierung, hoffentlich bald gewählt vom größten Bundestag aller Zeiten, möglicherweise ausgesetzt sehen wird:

Die Inflation ist im Begriff, außer Kontrolle zu geraten. Das speziell von linker Seite zu vernehmende Gerede, hier habe man es nur mit temporären Faktoren zu tun, das Thema werde sich schon bald von selbst erledigen, wird von Tag zu Tag unglaubwürdiger. Es droht eine Lohn-Preis-Spirale, die zusätzlich von globalen Einflüssen wie einem nie gesehenen Rohstoffmangel befeuert werden wird und einen gefährlichen Regelkreis in Gang setzt. 

Ein Land voller Baustellen

Als die Preissteigerung zuletzt im Zuge der Wiedervereinigung solche Werte erreichte, gab es noch eine Bundesbank, die energisch mit höheren Leitzinsen gegensteuerte, überschießende Liquidität einsammelte und dafür auch einen schweren Konflikt mit dem Bundeskanzler in Kauf nahm, denn Helmut Kohl fürchtete um die Konjunktur und damit um seine Chancen im Wahljahr 1994. Demgegenüber ist die Europäische Zentralbank mit einer Präsidentin nach Frankreichs Geschmack 28 Jahre später nicht Teil der Lösung, sondern selbst als vertragswidrige Staatsfinanziererin das Hauptproblem. 

Mit einer wirksamen Verringerung der Anleihekäufe bei gleichzeitiger Normalisierung der Leitzinsen würde sie nicht nur ihre eigene Politik fundamental in Frage stellen, sondern brächte auch die Südländer über Nacht in große Schwierigkeiten. Deshalb ist hier nur mit homöopathischen Maßnahmen zu rechnen. Das Hauptargument für den Euro, er sei jahrzehntelang stabiler gewesen als die D-Mark, zerbröselt derweil vor aller Augen.      
      
Wer seine Lkw-Fahrer hinauswirft, hat hinterher keine Lkw-Fahrer mehr. Das lernen gerade die Briten. Aber siehe da, wir sind mindestens genauso phantasielos: Wer seine Kraftwerke reihenweise abschaltet, hat hinterher keine Kraftwerke mehr. Wer keine Ärzte ausbildet, hat irgendwann keine Ärzte mehr. Wer keine Handwerker und Ingenieure ausbildet und das einst weltweit vorbildliche Duale System verkommen lässt, weil ihm immer neue Gender-Professuren, Gleichstellungsbehörden und staatlich alimentierte Anti-Rassismus-Initiativen wertvoller erscheinen, hat irgendwann keine Handwerker und Ingenieure mehr. Und wer sich um eine Anpassung der Rentengesetze an die sich rasant verändernde gesellschaftliche Realität – etwa durch eine überfällige branchenspezifische, aber automatische (!) Kopplung  des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung – herumdrückt, der provoziert nichts weniger als die Staatspleite.

Selbstfindung inmitten der Krise

Und das sind nur einige der Schwarzen Schwäne als Vorzeichen für einen perfekten Sturm, der in diesen 20ern jederzeit ausbrechen kann. Die außenpolitischen Herausforderungen, die sich alleine schon aus der Abkehr der USA von Europa ergeben – eine Abkehr, die nach Obama und Trump nun der dritte US-Präsident in Folge vollzieht – , sind da noch gar nicht berücksichtigt. Im Vergleich zu den Briten, die immerhin so etwas wie eine Außenpolitik haben, steht bei uns eine ganze Elefantenherde im Raum. Schadenfreude ist da eher nicht angesagt.   

CDU und CSU haben sich für ihre Selbstfindung also den denkbar ungünstigsten Zeitpunkt ausgesucht. Nichts wäre jetzt notwendiger als eine rationale, kühl kalkulierende politische Kraft mit der Fähigkeit, von sich selbst zu abstrahieren und das Gemeinwohl in den Mittelpunkt aller Überlegungen und Entscheidungen zu stellen. 

Tatsächlich geschieht das Gegenteil: Die einen sinnen auf Rache nach der Demütigung durch den Wähler, weshalb ihnen alleine der Gedanke, Armin Laschet könnte noch Kanzler einer Jamaika-Koalition werden, absurd erscheint. Die anderen fänden Jamaika gar nicht übel, wissen aber noch nicht, wie sie dieses Modell für ihre eigenen Ambitionen nutzen können, weshalb sie Laschet an geraden Tagen fördern und an ungeraden feuern. Die dritte Gruppe schließlich nähme noch die härteste Oppositionsbank in Kauf, erhielte sie durch dieses Fegefeuer nur die Garantie für eine Zäsur, die ein für allemal die Ära Merkel samt ihrer innerparteilichen Gefolgschaft kaltstellt und ins Museum befördert. Für die Probleme des Landes bleibt da aktuell kein Raum. Das ist nicht konservativ, das ist verantwortungslos. 

Die CDU und das Simonis-Syndrom

Eine schlichte Trennung zwischen innerparteilicher Aufarbeitung und staatspolitischer Rolle wäre kein Hexenwerk, sondern pure Notwendigkeit. Dass das Simonis-Syndrom („Und was wird aus mir?“) flächendeckend in CDU und CSU verbreitet ist, zur handlungsleitenden Maxime werden konnte und den ganzen Laden unzurechnungsfähig macht, gehört zu den schmerzhaftesten Erkenntnissen dieser Tage. 

In kritischer Lage hilft aber oft ein Blick ins Grundgesetz. Dort ist von Koalitionen gar nicht und von Parteien nur sehr selektiv die Rede. Dort gibt es einen Bundestag, der einen Kanzler wählt und anschließend die Gesetze macht, und eine Regierung, die sie umsetzt und ausführt. Deutschland braucht ein Parlament mit deutlich höherer Problemlösungskompetenz, als dies in den vergangenen 15 Jahren der Fall war. Nach der Agenda 2010 kam nichts Gescheites mehr, im Gegenteil, und eben diese kostete den Kanzler, der sie durchsetzte, den Job.

Sollte sich nur ein Teil der oben beispielhaft aufgeführten Probleme realisieren, wird man diese kaum auf den schmalen Schultern des Mini-Think-Tanks Habeck-Lindner abladen können. Vor allem muss der Bundestag sich von einem Blockade- in ein Erfolgsinstrument wandeln. 

Das Parlament im Zentrum

Wirklich schlau wäre eine grün-gelbe Liaison, die nur eine kurze Liste von Projekten erarbeitet und sich die jeweiligen Mehrheiten dann im Parlament von Fall zu Fall sucht – und zwar nicht vorweg per Koalitionsvertrag, sondern durch, man höre und staune, den freien Austausch von Argumenten im Plenum und in den Ausschüssen. Schlagartig erhielte das Parlament endlich wieder jenen Stellenwert, auch in der öffentlichen Wahrnehmung, der ihm zusteht. 

Es ist doch ein Unding, dass Abstimmungen nur dann freigegeben werden, wenn es nicht etwa um den Haushalt geht, sondern um eher moralisch-ethisch-gefühlige Fragen. Organspende, Hauptstadt-Sitz, Ehe für alle – wichtige Themen, sicher, aber für die Substanz und die Zukunft des Landes nicht vorrangig, vergleicht man sie mit jenen, die vielfach sogar ohne ausreichende parlamentarische Mitwirkung von der Kanzlerin entschieden wurden wie Aussetzung der Wehrpflicht, Abschaltung aller Atomkraftwerke oder – gesellschaftlich besonders verheerend – Asyl für alle, die es irgendwie auf deutsches Staatsgebiet geschafft haben, zuletzt auch Einschränkung von Grundrechten im Zuge der Pandemie-Bekämpfung.

Raus aus den Talkshows, mehr Bundestag wagen, neue Wege beschreiten, weil sich das gute alte deutsche Koalitionsmodell als nicht länger zukunftsfähig erwiesen hat – exakt an dieser Stelle könnten sich Grüne und Liberale in diesen Wochen bleibende Verdienste erwerben. Das Grundgesetz wäre dabei auf ihrer Seite. Sie müssten sich nur trauen, neu zu denken. Weder SPD und Union werden ihnen das abnehmen. Die denken nur an sich. Und werden damit scheitern, weil die Wahrheit sie in kürzester Zeit überholen wird. Denn die ist konkret.
 

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