Bundestag befragt Jens Spahn zu Corona - Erdrücken durch Umarmen

Jens Spahn ist einfach nicht zu fassen: Egal, mit welcher kritischen Frage die Bundestagsabgeordneten ihn heute konfrontierten, immer schob er den Schwarzen Peter weiter. Meistens an die Bundesländer. Zu Recht?

Stellt sich selbst einen Ablassbrief aus: Jens Spahn / dpa
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Marko Northe hat die Onlineredaktion von cicero.de geleitet. Zuvor war er Teamleiter Online im ARD-Hauptstadtstudio und Redakteur bei der "Welt". Studium in Bonn, Genf und Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 

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Viel wird darüber geschrieben, was Jens Spahn im Moment alles nicht kann: Genügend Impfstoff beschaffen, den Impfstoff verteilen und verimpfen lassen, Schnelltests testen, kaufen und verteilen, und dann ist da ja auch immer noch und immer wieder das Thema Maskenbeschaffung. Eines kann der Gesundheitsminister aber mit Sicherheit, wie man heute im Bundestag erleben durfte: Seinen Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen.

Das begann schon vor der einstündigen Regierungsbefragung, während der Spahn seine Corona-Politik rechtfertigen musste. Denn seine kurze Einstiegsrede begann mit den Worten: „Wir wähnten uns auf einem guten Weg.“ Nachdem Kanzlerin Angela Merkel bereits zu Beginn dieser Woche davor warnte, dass Deutschland nun am Beginn der dritten Infektionswelle stehe, pflichtete Spahn ihr heute bei. „Wir sind vielfach müde, pandemiemüde, aber das Virus ist es nicht.“

„Tag für Tag“ und „Stück für Stück“

Nach über einem Jahr Corona wären sicherlich nicht nur die Bundestagsabgeordneten froh über positivere Neuigkeiten aus dem Mund des Gesundheitsministers, aber die Worte Spahns gaben keinen Anlass zur Hoffnung, dass die Pandemie bald vorbei sein könnte. Immerhin: „Tag für Tag“ gebe es mehr Möglichkeiten, damit umzugehen und „Stück für Stück“ Normalität wiederherzustellen. Und zwar durch immer mehr Impfstoff und immer mehr Tests.

Was Spahn bereits vor der ersten Frage an ihn macht, das macht er in der folgenden Stunde auch in seinen Antworten: Seinen Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen, jegliche Kritik wegbügeln, Verantwortung delegieren (böse Zungen könnten auch sagen: abwälzen), und das alles mit dem Vokabular eines protestantischen Pfarrers. 

Teflonhafte Unangreifbarkeit 

Beobachten konnte man diese teflonhafte Unangreifbarkeit schon bei der Antwort auf die erste Frage des AfD-Abgeordneten Detlev Spangenberg. Der entrüstete sich darüber, dass es CDU- und SPD-Veranstaltungen gegeben habe, bei denen die Anwesenden keine Maske getragen hätten. Spahn entschloss sich für eine zugleich vereinnahmende und erdrückende Antwort: „Ich bin da bei Ihnen“, erwiderte er, da hätten alle Vorbildfunktion.

Und während man als Zuhörer kaum glauben konnte, dass da ein CDU-Minister einem AfD-Mitglied recht gibt, kam die Retourkutsche von Spahn: Die Vorbildfunktion gelte „im Zweifel auch im Bundestag“, ein Seitenhieb darauf, dass gerade die AfD-Fraktion sich nicht gerade konsequent an die Hygieneregeln hält.

Erdrücken durch Umarmen

Erdrücken durch Umarmen, so könnte man das Vorgehen des Gesundheitsministers beschreiben. Und wo diese Taktik nicht weiterhilft, da gibt es immer noch den guten alten Föderalismus. Egal, ob es um Probleme mit den Impfterminen, mit den Testkapazitäten oder mit der Öffnungsstrategie ging, Spahn hatte immer eine Antwort, die ihn aus der Verantwortung nahm: Ländersache. 

So reagierte Spahn auf die Kritik aus den Reihen des Koalitionspartners SPD, dass nicht schnell genug geimpft werde: Vor ein paar Wochen habe man sich noch beschwert, dass die Länder zu wenig Impfstoff haben, jetzt sei genug da. „Und ich gehe davon aus, dass die Länder die jetzt auch verimpfen.“ Und auf eine Frage der FDP, warum die Friseursalons öffnen dürfen und der Einzelhandel nicht: „Ich weiß nicht, wen Sie mit ‚Sie‘ meinen, die Maßnahmen bestimmen die Länder.“ Es gebe „ja föderale Vielfalt miteinander“.

Er hat Recht

Das Problem an Spahns Argumentation ist: Er hat Recht. Im deutschen Föderalismus einen Verantwortlichen auszumachen, ist nicht leicht. Der Gesundheitsminister ist es in vielerlei Hinsicht trotz erweitertem Infektionsschutzgesetz nicht. Als sich die Kanzlerin im letzten Frühling gegenüber den Ministerpräsidenten nicht mit gemeinsamen, länderübergreifenden Maßnahmen durchsetzen konnte, gab sie die Verantwortung entnervt an die Länderchefs ab. Und noch immer ist das der eigentlich Stand der Dinge. Zwar werden auf den Ministerpräsidentenkonferenzen regelmäßig Beschlüsse gefasst, doch die werden wenig später von den Landesvätern und -müttern unterschiedlich interpretiert, gekürzt oder erweitert, je nach eigener Bewertung.

Und darüber hinaus ist die Pandemie eine solch komplexe Krise, dass einfache Schuldzuweisungen nicht treffen. Beispielhaft hierfür war die Frage einer Grünen-Abgeordneten in der heutigen Regierungsbefragung. Warum Spahn denn keine Schnelltests ohne vorherige Zulassung bestellen wollte, wenn er zugleich Dosen eines noch nicht zugelassenes Antikörper-Medikaments für 400 Millionen Euro kaufe? Spahns Antwort begann wieder mit einer erdrückenden Umarmung: „Ich verstehe die Frage gut.“ Das Medikament sei allerdings weltweit – wie die Impfstoffe –  umkämpft. „Und Sie wären die erste, die mir andersherum vorwerfen würde, warum haben andere Länder das und wir nicht?“

Keine einfache, eindeutige Antwort

Es ist nur eine von vielen Unwägbarkeiten in dieser Pandemie: Vielleicht hat die Bundesrepublik fast eine halbe Milliarde Euro für ein nicht brauchbares Medikament verschleudert. Vielleicht rettet es nach der Zulassung viele Menschenleben. Vielleicht helfen dem Land regional unterschiedliche Maßnahmen besser durch die Pandemie als bundesweit einheitliche. Vielleicht wird sich das am Ende aber auch als falsch herausstellen.

Wahrscheinlicher ist allerdings, dass es auch auf diese Frage keine einfache, eindeutige Antwort geben wird. Und wahrscheinlich ist, dass sich Maßnahmen zugleich als Erfolg und Misserfolg herausstellen werden, wie am Lockdown zu sehen ist. Der senkt zwar die Infektionszahlen, doch zerstört er auch Existenzen. Nach der Pandemie würden wir uns einander wohl „viel verzeihen“ müssen, sagte Jens Spahn im April 2020. Es ist auch so ein Den-Wind-aus-den-Segeln-nehmen-Satz. Er ist perfide, weil sich Spahn damit schon prophylaktisch selbst einen Ablassbrief ausgestellt hat.

Wahr ist er dennoch, und das sagt vieles über die derzeitige Krise.

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