Corona-Beschlüsse in der Kritik - „Die Pandemiemüdigkeit ist mit den Händen zu greifen“

Die Corona-Beschlüsse der gestrigen Ministerpräsidentenkonferenz stehen in der Kritik. Der Epidemiologe Klaus Stöhr plädiert für den Blick über die Landesgrenze hinaus auf die Strategien der Nachbarländer.

Die Bundeskanzlerin gibt die Ergebnisse der Bund-Länder-Konferenz bekannt / dpa
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Sina Schiffer studiert an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Politik und Gesellschaft und English Studies. Derzeit hospitiert sie bei Cicero. 

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Klaus Stöhr ist deutscher Virologe und Epidemiologe. Er war Leiter des Globalen Influenza-Programms und SARS-Forschungskoordinator der Weltgesundheitsorganisation (WHO). 

Deutschland wird über Ostern in einen der schärfsten Lockdowns seit Beginn der Pandemie gehen. Ist die Strategie der Regierung aus epidemiologischer Sicht überhaupt zielführend? 

Aus epidemiologischer Sicht möchte man schwere Erkrankungen und Todesfälle verhindern und die ökonomischen Auswirkungen der Bekämpfungsmaßnahmen minimieren. Die Maßnahmen, die die Bundesregierung jetzt erlässt, sind politischer Natur und spiegeln eine unterschiedliche Risikoauffassung wider, auch im Vergleich zu unseren Nachbarländern. Die Schweiz hat zum Beispiel einen Drei-Stufen-Plan aus der Pandemie heraus entwickelt, mit einem Richtwert von 175 Fällen pro 100.000 Einwohnern/Woche. In Österreich bleiben die Geschäfte und die Schulen bei einer Inzidenz über 200 offen.

Führt die Entscheidung der gestrigen MPK, Supermärkte am Karsamstag zu öffnen, nicht erst zum Anstieg von Infektionen?

Das kann keiner vorhersagen. Letztendlich sind die hauptsächlichen Infektionsorte wohl die Familie, der Freundeskreis und die Arbeit. Dort die Kontakte zu beschränken, wäre sicher am effizientesten, das hätte sicherlich die grösste Wirkung. Es gibt ja leider in Deutschland immer noch keine Studien, die die Anteile der wesentlichen Lebensbereiche am Infektionsgeschehen deutlicher erhellen würden. 

Wenn Sie sagen, dass das private Zusammenkommen der größte Infektionsherd sei, sollte dies auch zu Ostern vermehrt kontrolliert werden? Oder setzen Sie da vielmehr auf das Vertrauen gegenüber den Bürgern? 

Die Eigenverantwortung hat man von Anfang an wenig gefördert. Dadurch, dass man die Kontaktverfolgung zumindest partiell nicht an die Betroffenen weitergegeben hat. Das dadurch die Ressourcen der Gesundheitsämter gebunden wurden und sie ihre eigentlichen präventiven Aufgaben zum Beispiel in den Alten- und Pflegeheimen und Krankenhäusern nicht nachkommen konnten, ist aber das viel größere Problem. Jetzt ist es so, dass die Pandemiemüdigkeit ja mit den Händen zu greifen ist. Man hat die Leute von einem Lockdown in den nächsten Lockdown vertröstet, mit der 50er und 35er Inzidenz unrealistische Ziele in den Wintermonaten gesetzt, die auch noch zusätzlich von der Hauptaufgabe, dem Schutz der Vulnerablen, ablenkt.

Dazu kommt, dass man sich mit der Meldeinzidenz als alleinigen Erfolgsindikator eingegraben hat. Bei der Pandemie macht man Fehler; der Gesichtsverlust, sie nicht einzugestehen und der Schaden für die Bekämpfung ist jedoch größer, als den Richtungswechsel vorzunehmen. Die Datenlage ist ja auch weiterhin bestenfalls übersichtlich. Warum wurden keine Studien initiiert, um den Bekämpfungsfortschritt zu evaluieren und die einzelnen Einflussfaktoren für die Zunahme der Infektionen zu belegen? Keiner kann gegenwärtig zuverlässig sagen, welchen Anteil die Variante B.1.1.7 an der jetzt beobachteten Zunahme der Fälle hat. Oder ist es doch die zunehmende Mobilität oder die Testung? 

Unterschiedliche Stimme fordern schon seit längerer Zeit, dass die Inzidenz nicht die einzige Pandemie-Messgröße bleiben dürfe. Wie sehen Sie das? Gibt es noch andere Parameter, die bei einer landesweiten Öffnungsstrategie mit bedacht werden müssten? 

Ja, dazu kommt die immer ungeeignetere Messung der Pandemieintensität über die Meldeinzidenz. Es reicht nur der Blick in unsere Nachbarländer, wo neben der Meldeinzidenz dann auch zum Beispiel der R-Wert, die Krankenhausauslastung, die Intensivstationsbelegung als Indikator dienen. Beispiele wie die Niederlande, Frankreich oder die Schweiz zeigen, wie auch andere Faktoren für Öffnungsstrategien herangezogen werden können. Pandemiebekämpfung heißt, immer differenziert zu bekämpfen. Da, wo das höchste Risiko ist. Der größte Teil der öffentlichen Diskussion liegt weiterhin auf den Kitas und Schulen. Doppeltestung bei asymptomatischen Kindern, Grundschulschließungen. Der Blick auf die Kinder bleibt wichtig, aber man vergisst wohl weiterhin die Alten- und Pflegeheime. Wo sich die Regierung die Frage stellen muss, welche Verantwortung sie übernimmt bei 30.000 Todesfällen in Alten- und Pflegeheimen. 

Machen Sie die Bundesregierung für die 30.000 Todesfälle verantwortlich? 

Nein, die Bundesregierung muss sich überlegen, welche Verantwortung sie übernehmen will oder welche Verantwortung sie hat. 

Muss sich die Bundesregierung also auch einen anderen Pandemiemaßstab neben der Inzidenz überlegen? 

Ja, eine Inzidenz von 50 im Winter ist völlig illusorisch, die von der eigentlichen Bekämpfung und dem Schutz der Risikopatienten ablenkt. Die allgemeine Inzidenz von 50 für alle vernachlässigt völlig, dass das Sterberisiko für jemanden, der über 80 ist, bis zu 600-1000 Mal höher ist, als für jemanden der mit 20 in die Disco geht. Ich würde mir wünschen, dass NoCovid in den Alten- und Pflegeheimen greift, aber so ein Durchschnittswert allein ist für die differenzierte Pandemiebekämpfung und Risikoabschätzung völlig ungenügend.  

Sie haben eben die Rolle von Schulen und Kitas angesprochen. Sind diese für den Anstieg der Infektionszahlen verantwortlich? Und welche weiteren Schritte müssen hier eingeleitet werden? Schließungen? 

Ja, nach mehr als 12 Monaten in der Pandemie, tausenden von Studien ist es nun langsam nicht mehr verständlich, dass man den Kindern in Kitas und Grundschulen immer noch einen signifikanten Anteil am Infektionsgeschehen bei den Vulnerablen zuschreibt. Die Daten sprechen hier eine eindeutige Sprache. Es erscheint langsam müßig, ein und denselben Punkt zu wiederholen.

Es ist erstaunlich, wie die Stellungnahmen der Deutschen Fachgesellschaften weiterhin ignoriert werden, wie zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene oder die Deutsche Gesellschaft für Infektiologie. Über 1700 Fachleute, die eindeutig dafür plädieren, asymptomatische Kinder nicht zu testen, weil das Aufwandrisiko- und Aufwandnutzenverhältnis klar dagegensprechen, die sich aber klar dafür aussprechen, dass auch Lehrer systematisch getestet werden müssen. Es ist erstaunlich, wie wenig Gehör die besten deutschen Fachleute finden im Vergleich zu einigen ständig in Talkshows und anderen Medien präsenten Wissenschaftlern oder Politikern. 

Der Geduldsfaden der Bürger reißt langsam. Viele wollen nun in den Urlaub, und da bietet sich ja wieder Mallorca an. Ist es nicht eigentlich paradox, dass Urlaubsziele wie Mallorca oder auch außereuropäische Reiseziele erlaubt sind, aber sich die Regierung gegen den Osterurlaub im eigenen Land, bzw. sogar im eigenen Bundesland ausspricht? 

Es ist unstrittig, dass eine Kontaktreduktion im Winter bei der noch sehr hohen Populationsempfänglichkeit notwendig ist. Es ist jedoch exemplarisch für die epidemiologisch in Teilen paradoxe Herangehensweise an die Pandemiebekämpfung in Deutschland, dass man in Europa in Nicht-Risikogebiete reisen darf, aber das in Deutschland nicht möglich ist, und wenn man dann nach Deutschland zurückkommt, in Quarantäne muss. Die Pandemiebekämpfung der Bundesregierung entfernt sich immer weiter vom Rest Europas. 

Wird Deutschland auch vom Rest Europas im Umgang mit den Impfungen abgehängt? Und wer hat Schuld an dem Impfversagen? Die Politik, die Wissenschaft, die Industrie? 

Die Wissenschaft sicherlich nicht. Die Politik sicher nur zum Teil. Ich würde auch nicht von einem Impfversagen sprechen. Wo wurde denn versagt? Nicht bei der Bestellung; die solidarische Grundhaltung in Europa hat mich überrascht, auch wenn für die Entwicklungsländer das Problem wiederum nicht gelöst wurde. Ich hätte aber nie geglaubt, dass man so viel Impfstoff in so kurzer Zeit in einer Pandemie zur Verfügung haben würde. Vor allem von so vielen unterschiedlichen Produzenten. Aber natürlich wäre noch mehr Impfstoff noch besser. Dass die Logistik in Deutschland jetzt offensichtlich schlechter funktioniert als in unseren Nachbarländern, ist schon bezeichnend für die Qualität des Krisenmanagements. 

Die Fragen stellte Sina Schiffer

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