Ausblick auf 2024 - Das 75. Jahr des Grundgesetzes wird turbulent

Viele Probleme türmen sich zu einem Berg, den auch die bestfunktionierende Bundesregierung kaum bewältigen könnte. Die Ampel aber, eine politische Chimäre, deren Teile partout nicht harmonieren wollen, wird der Lage wohl noch viel weniger Herr werden können.

Dunkle Wolken über dem Reichstagsgebäude / picture alliance
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Autoreninfo

Markus Karp ist an der Technischen Hochschule Wildau Professor für Public Management und Staatssekretär a.D.

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Mit dem Jahr 2023 geht ein Annus horribilis, ein Schreckensjahr, zu Ende. Es ist nun schon das zweite in Folge. Auch 2022 war, zumindest ökonomisch und politisch, eher desaströs. Die krisengeschüttelte Bundesrepublik bräuchte eine Wende zum Besseren. Leider aber stehen die Aussichten, dass 2024 zum Annus mirabilis, einem Wunderjahr, wird, nicht gut.

Die Vorzeichen sind einfach zu schlecht: Die apokalyptischen Reiter politischer Unzufriedenheit, kriselnde Wirtschaft, Inflation, verkorkste Energiewende, noch immer ungesteuerte Zuwanderung, Krieg in Europa und eine neue Blockkonfrontation, entschwinden nicht am Horizont. All diese Probleme türmen sich zu einem Berg, den auch die bestfunktionierende Bundesregierung kaum bewältigen könnte. Die Ampel aber, eine politische Chimäre, deren Teile partout nicht harmonieren wollen, wird der Lage wohl noch viel weniger Herr werden können.

Das Charisma der Gründerin

Gleichwohl glauben einige, aus dieser Situation zumindest ein persönliches politisches Wunder machen zu können. Immerhin stehen in Deutschland 2024 vier wichtige Wahlen an, von denen zwar drei nur regionalen Charakter, trotzdem aber das Potential haben, neue Schockwellen in die politische Landschaft zu senden. Brandenburg, Sachsen und Thüringen wählen. Zuvor kommt noch der Urnengang für das Europaparlament, traditionell ein Magnet für Protestwähler und inzwischen ohne disziplinierende Fünfprozenthürde. 

Sahra Wagenknecht ist eine, die sich von dieser Konstellation viel verspricht. Ihr ohne falsche Bescheidenheit Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) getauftes Projekt, dessen Kitt im Wesentlichen das Charisma der Gründerin ist, hofft darauf, mehr als nur Achtungserfolge erzielen zu können. Warum das diesmal besser gelingen sollte als bei der ebenfalls von Sahra Wagenknecht aus der Taufe gehobenen großen linken Sammlungsbewegung „aufstehen“, ist jedoch unklar. 

Möchte das BSW Stützrad der Regierungsparteien sein, wenn es sich als Koalitionspartner der sächsischen CDU ins Spiel bringt? Oder Fundamentalopposition, welche kräftig im AfD-Revier wildert? Die Stoßrichtung ist von Anfang an unklar. Deutlich konturierter ist Sahra Wagenknechts Rolle als politische Ich-AG, die schon vor Jahrzehnten im Feuilleton bürgerlicher Zeitungen wohligen Grusel verbreiten konnte und nun ebendort Hoffnungen weckt, eine Art harmlose Beschäftigungstherapie für Protestwähler werden zu können. Das wird aber an der Unmöglichkeit scheitern, gleichzeitig staatstragend und fundamentaloppositionell zu sein. Ob Wagenknechts noch nicht erwiesene Fähigkeiten, eine Organisation zusammenzuhalten und sich in eine Partei einzufügen, hinreichen, dieses Manko zu kompensieren, darf bezweifelt werden.

Honig aus der Dauerkrise

Ob stattdessen die AfD Honig aus der Dauerkrise ziehen kann? Die Partei hofft sicher darauf, allzumal bisweilen der Eindruck entsteht, dass im verfahrenen, kakophonen politischen Klima der Gegenwart die Rechtspopulisten gar nicht mehr selbst den Wahlkampf besorgen müssen. Sicherlich fühlen sich die Funktionäre der Partei auch von der überall in Europa beobachtbaren Entwicklung beflügelt, dass sich Parteien mit rechtspopulistischen, -radikalen und manchmal sogar -extremen Wurzeln vom Pariastatus lösen und in die Regierungen streben.
 

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Allerdings wird dabei übersehen, dass jene Parteien, denen dieses Kunststück gelungen ist, samt und sonders zunächst einmal die lautesten Rechtsextremen ausgefegt, sich zur europäischen Idee und dem westlichen Bündnissystem bekannt und eine klar gegnerische Position zu auswärtigen Diktatoren eingenommen haben. Von alldem ist die AfD ungeheuer weit entfernt. Reicht es trotzdem für hohe Wahlergebnisse? In der 2024 absehbaren wirtschaftlichen und politischen Krise sicherlich. Und für eine Regierungsbeteiligung? Ganz sicher nicht, denn jede Hand, die aus einem anderen politischen Lager einer derart aufgestellten Truppe gereicht würde, müsste unweigerlich verdorren. 

Achillesferse des christdemokratischen Siegeszuges

Wird also die Union der große Gewinner des kommenden Krisenjahres sein? Inzwischen stabilisiert sich der demoskopische Trend, dass die christdemokratischen Schwestern so stark sind wie die drei Regierungsparteien zusammen. Bei den kommenden Wahlgängen bestehen sogar gute Aussichten, dass ein Effekt eintritt, wie er bei der Landtagswahl 2021 in Sachsen-Anhalt zu beobachten war: Der Union strömen Leihstimmen aus der linken Mitte zu, welche zwar mit den Konservativen wenig am Hut haben, aber einen Wahlsieger AfD verhindern wollen. Wie aber sollen diese guten Ergebnisse in überzeugende Regierungsarbeit umgemünzt werden? 

Hier liegt das christdemokratische Dilemma: Wenn die Grünen als „Hauptgegner in der Regierung“ als möglicher Koalitionspartner ausscheiden, bleibt nur noch die früher sogenannte große Koalition. Aber ob das ideale Voraussetzungen für eine glänzende Regierungsarbeit sind? Die Vorstellung, dass die bisherige Kanzlerpartei SPD, deren wundersamer Wahlsieg von 2021 in Trümmer gesunken ist, zur halbierten Hilfskraft degradiert eifrig den Reformplänen von Friedrich Merz und Carsten Linnemann zum Erfolg verhilft, erinnert an magisches Denken und ist die Achillesferse des christdemokratischen Siegeszuges in den Umfragen. 

Gewaltenteilig zwischen Bund und Ländern

Ein solche Konstellation lässt sich derzeit in Berlin besichtigen: Hier regiert der als schwarzer Sheriff angetretene Kai Wegner mit der gezwungenermaßen ins zweite Glied gerückten SPD. Das Regieren gestaltet sich eher rumpelig, von Aufbruchstimmung keine Spur mehr. Der noch recht frische Senat hat schon wieder die rote Laterne der unbeliebtesten Landesregierung übernommen. 

All das spricht nicht dafür, dass 2024 in Deutschland jene politische Ruhe einkehren wird, welche sich in unserer Konsensrepublik höchster Beliebtheit erfreut. Das aber ist kein Grund zum Lamentieren. Denn aus Ruhe kann auch Friedhofsruhe werden, welche dazu verleitet, strukturelle Probleme auszusitzen und nötige, aber kontroverse Weichenstellungen für die Zukunft hinauszuzögern. Die massiven Probleme, mit denen das Land kämpft, benötigen jedoch hartes politisches Ringen und machen grundsätzliche Kurskorrekturen notwendig. 

Dass darüber in den Parlamenten, gewaltenteilig zwischen Bund und Ländern und im Spannungsfeld von Verfassungsgerichten, Gesetzgeber und Regierenden, erbittert gestritten wird, ist der angemessene Umgang mit der Krise und kein Krisensymptom. Das Grundgesetz, das sich 2024 ein Dreivierteljahrhundert bewährt haben wird, ist dafür gerüstet. Eine quicklebendige Demokratie ist im besten Sinne der Verfassung! Der 75. Geburtstag wird allerdings, altersunüblich, turbulent.  
 

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