Auftritt von Angela Merkel im Berliner Ensemble - Da geht noch was

An diesem Dienstagabend stellte sich die frühere Bundeskanzlerin zum ersten Mal nach Ende ihrer Amtszeit den Fragen eines Journalisten. Beim Auserwählten handelte es sich um den gebürtigen Ost-Berliner Alexander Osang – womit zwei frühere DDR-Bürger auf der Bühne saßen. Nachdem heute Morgen mit Ben Krischke ein gelernter „Wessi“ über die Veranstaltung schrieb, folgt hier nun die Perspektive des „Ossis“ Holger Friedrich auf die gestrige Veranstaltung.

Angela Merkel und Alexander Osang am Dienstagabend im Berliner Ensemble / dpa
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Autoreninfo

Holger Friedrich (Foto dpa) kam 1966 in Ost-Berlin zur Welt. Er ist erfolgreicher IT-Unternehmer und erlangte überregionale Bekanntheit über seine Branche hinaus, als er im September 2019 gemeinsam mit seiner Frau Silke Friedrich die Berliner Zeitung erwarb.

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Alexander Osang, Angela Merkel, das Berliner Ensemble, der Aufbau-Verlag und ein Buchtitel namens „Was also ist mein Land“: eine für ostdeutsch Sozialisierte sorgsam formulierte Botschaft zwischen den Zeilen. Der Abend hat die Erwartung geweckt, dass die leise, höfliche, doch deutliche Ansage aus der Rede zum 3. Oktober 2021 in Halle von Frau Angela Merkel eine Vertiefung erfahren würde. 

Merkels verkürzte Aussage damals: Eine DDR-Biografie ist keine Bürde, eher eine Chance, um mit dem stetigen Wandel in und um Deutschland herum konstruktiver als bisher umzugehen. Die schlichten Muster des Westens über die Einordnung des Ostens erfuhren an diesem Herbsttag 2021 in der Industriestadt in Sachsen-Anhalt eine späte und doch souveräne Einordnung. Gleichzeitig war die Erwartung groß, wie Merkel die massiven geopolitischen Veränderungen seit ihrem freiwilligen Amtsverzicht rückblickend einordnen würde. Live on stage, für Merkel wie Osang eine Herausforderung.

Der Saal im Berliner Ensemble war voll, die deutsche und internationale Presse war umfangreich vertreten. Phoenix, der gemeinsame Spartensender von ARD und ZDF, übertrug die Veranstaltung live. Die Stimmung war freundlich, man wähnte sich unter Gleichen. 

Ein Ostberliner Idiom setzt den Ton für den Abend

Osang begann und las aus seinem jüngsten Buch einen einordnenden Text. Es war der Versuch, die Ambivalenz und Genese einer Beziehung zwischen Journalist und Amtsträgerin auf die einfache Formel zu bringen, dass man doch miteinander reden solle. Auch an diesem Abend, „hoff‘ ick jedenfalls“, schloss Osang seine Eingangsworte. Womit ein Ostberliner Idiom den Ton für den Abend setzte.

Die persönlichen Informationen über den Verbleib der Bundeskanzlerin a.D. in den vergangenen Wochen waren schnell abgearbeitet: Ostsee, Zurückgezogenheit, ein paar Bücher – und die Überraschung, dass man es gut mit sich selbst aushalten könne und sich nicht langweilen würde. Ein wenig schien die Erleichterung über diese Erfahrung durchzuschimmern. Ihr Dank an das weitere persönliche Umfeld, beispielsweise an ihren Wahlkreis, der ihre Privatsphäre akzeptiert bzw. vor zu aufdringlicher Presse schützt, schien Merkel wichtig zu sein.

Schnell ging es nach Russland, Sotschi 2007 und den Dissens zwischen Merkel und Putin über gesellschaftliche Konzepte. Es wurden Anekdoten ausgetauscht, erinnert wurde etwa an die Hundeszene als wenig subtile Machtdemonstration Putins gegenüber Merkel. Oder etwa an die Rolle Frankreichs und Deutschlands im Normandie-Format, als Merkel in einem nunmehr eskalierenden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine 2014 als Mediator auftrat. 6.000 eingeschlossene ukrainische Soldaten fürchteten um ihr Leben. 

Angela Merkel erinnerte an den Zeitdruck, in dem damals verhandelt wurde. Das Ergebnis war das Abkommen von Minsk, was die 6.000 ukrainischen Soldaten rettete und der Ukraine dann doch noch sieben Jahre Zeit verschaffte, sich auf den weiter eskalierenden Konflikt vorzubereiten. Weder von Osang noch von Merkel wurde thematisiert, wie die Unterstützung aus EU und Nato in diesen sieben Jahren gestaltet war. Da alle wichtigen Entscheidungen, wie sie betonte, 16 Jahre lang über ihren Tisch gingen, wäre es eine gute Gelegenheit gewesen, die eine oder andere russische Position einzuordnen. 

Botschafter Melnyk hat Fragen

Stattdessen wurden Fragen von Botschafter Melnyk, den Osang vorab um eine Frage für Merkel gebeten und vier erhalten hatte, aufgegriffen. Der für seine Polemik bekannte Botschafter ließ über Osang anfragen, ob die Merkel'sche Beschwichtigungspolitik die heutige Situation erst ermöglicht hätte. Nach aller Heiterkeit zu Beginn des Abends wurde es still im Saal. Es war interessant zu erleben, mit welcher Sachlichkeit Merkel die damaligen Entscheidungs- und Bewertungsoptionen erläuterte. Wie sie sachlogisch ableitete, welche von allen schlechten Optionen die am wenigsten unmittelbar schädliche für die Ukraine war. Gute Optionen waren durch die Grundsätzlichkeit im Dissens über Wertevorstellungen zu Gesellschaftsorganisationen nicht auf dem Tisch. Daher sei es für sie klar, dass es keinen sachlichen Grund gebe, sich zu entschuldigen. Merkel sei überzeugt, dass das Mögliche im Rahmen von Diplomatie erreicht wurde. 

Unausgesprochen war, dass sie Rechtfertigungsforderungen vom politischen Gegner oder aus Teilen der deutschen Presse als minderkomplex oder gar unredlich empfinden würde. Es wurde viel debattiert über den Russland-Ukraine-Konflikt, mit einhergehenden politischen Einordnungen wie „Völkerrecht gebrochen“, „inakzeptabel“ und „nicht nur die Ukraine, auch Russland nimmt massiv Schaden“. Außerdem bemühte sich Merkel, ihre Russland-Politik zu differenzieren und einerseits Russlands Politik zu verurteilen, aber gleichzeitig die russische Kultur wertzuschätzen. Dann ging man zum Zustand der Bundeswehr über.

„Ham‘ se überhaupt jedient?“, fragte Merkel. Osang konnte schmunzelnd antworten: „Klar, Jefreiter, bei der Nationalen Volksarmee.“ Der Eingangston zwischen den Diskutanten wurde gehalten. Man arbeitete sich am äußeren Bild und den Einsätzen im Ausland und der internen Wahrnehmung über den Wartungs- und Versorgungsstand der deutschen Kampftruppen ab. Unfreiwillig lieferte Merkel eine Blaupause des Zustands nicht bewältigter deutscher Diskurse: Beim Thema Afghanistan-Einsatz wurde von ihr angemerkt, dass man viel über, aber nicht mit den Taliban gesprochen hatte. Daher wären die Konsequenzen in Afghanistan, wie sie seien. 

Austausch ostdeutscher Codes

Der Abend ging mit dem Austausch ostdeutscher Codes zu Ende: Aitmatow, Scholochow, Bulgakow – „Meister und Margarita“, mit dem versteckten Hinweis, auch in dialektischen Dimensionen zu denken und zu handeln. Was ausblieb, war die Vertiefung, warum Bulgakows „Meister und Margarita“ in einer Diktatur Werte-Orientierung gab, warum Scholochows „Stiller Don“ beklemmend aktuell ist. Und warum im Osten Deutschlands ein Diskurs in den dialektischen Dimensionen These, Antithese sowie der Ableitung einer Synthese als intellektueller Standard gilt, daher auch thesen- oder haltungsgetriebener Journalismus als einseitig oder weniger relevant wahrgenommen wird. 

Der Anlass der Veranstaltung wurde spät und nur kurz aufgegriffen. Angela Merkels Rede zum Tag der Deutschen Einheit 2021 war eine späte persönliche Einordnung als Ostdeutsche im Kanzleramt. Diese Rede hat etwas in großen Teilen der ostdeutschen Gesellschaft ausgelöst und die Hoffnung genährt, über Schwierigkeiten im gesamtdeutschen Zusammenhang konstruktiver als bisher debattieren zu können. Die Idee, diese und die Reden vor der Knesset sowie zur Offenhaltung der Grenzen in einem Buch zu veröffentlichen, entstand im Aufbau-Verlag. Constanze Neumann als Verlagsleiterin ist es zu verdanken, dass diese Idee in dem kleinen Band „Was also ist mein Land“ realisiert wurde.

Dieser Teil war verständlicherweise an diesem Abend von den geopolitischen Entwicklungen überschattet gewesen und an den Rand gedrängt worden. Osangs Schlussworte: „Klar, Halle (die Rede in Halle), dit BE (Berliner Ensemble) plus Aufbau (Aufbau-Verlag), besser jet det nich!“ waren etwas optimistisch formuliert. Die Gelegenheit war da, doch scheint ein Teil zwei notwendig zu sein, um offene Fragen eines Großteils der ostdeutschen Gesellschaft souveräner als bisher zu verhandeln.

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