Atomausstieg wackelt - FDP für „begrenzte Laufzeitverlängerung“ der Kernkraftwerke

Im Schatten des Ukraine-Kriegs bricht die FDP ein Tabu: Der Bundesparteitag spricht sich für eine Verschiebung des Atomausstiegs aus. Nun ist Parteichef Christian Lindner am Zug. Nur wenn er sich innerhalb des Kabinetts mit voller Kraft dafür einsetzt, können die sechs verbliebenen deutschen Kernkraftwerke gerettet werden. Bislang war er zu zögerlich.

Energiepolitische Kehrtwende: Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner spricht, aus Washington zugeschaltet, beim Bundesparteitag / dpa
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Daniel Gräber leitet das Ressort Kapital bei Cicero.

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Christian Lindner hat ein Problem. Im Bundestagswahlkampf entschied sich der FDP-Chef, das Thema Energiepolitik nicht anzurühren. Dabei hätte die schon vor dem Ukraine-Krieg zum Scheitern verurteilte deutsche Energiewende ausreichend Angriffspunkte geboten. Die utopische Fokussierung auf heimischen Wind- und Solarstrom beim gleichzeitigen Abschied von Kernkraft und fossilen Energieträgern ist für eine Industrienation in unseren Breitengraden ein bestenfalls waghalsiges, wenn nicht gar wahnsinniges Unterfangen.

In Lindners Partei gab und gibt es ausreichend Leute mit technischem und unternehmerischem Sachverstand, die vor diesem Irrweg gewarnt haben – und das bereits lange vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine und der Diskussion über ein Gas-Embargo gegen Putin. Sie forderten, den Atomausstieg – auch aus Gründen des Klimaschutzes – zu überdenken und die FDP als Partei zu positionieren, die beim Thema Energie nicht nur auf die Ökobilanz achtet, sondern genauso die Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit im Blick hat. Nur: Sie drangen nicht bis zur Parteispitze durch.

Lindner wollte das Atomkraft-Tabu nicht mehr anpacken

Lindner wollte wohl, nachdem er in der schwarz-gelben Koalition mit Angela Merkel schlechte Erfahrungen in Sachen Atomkraft gemacht hat, das Tabu Laufzeitverlängerung nicht mehr anpacken. So erfand er eine liberal klingende Begründung dafür, warum die FDP am Atomausstieg nicht rütteln wolle: Die Risiken der Kernenergie seien so hoch, dass kein privater Versicherer sie übernehme. Daher sei immer der Staat gefragt. Und das lehne er ab. Ein Argument, das angesichts eines jahrzehntelang ausgezeichnet funktionierenden Betriebs von Kernkraftwerken in Deutschland niemanden so recht überzeugte. Auch nicht innerhalb der FDP.

Nachdem zum Atom- und Kohleausstieg nun auch noch möglichst schnell der Gazprom-Ausstieg kommen soll beziehungsweise muss, ist die Verzweiflung zu groß geworden. Erdgas aus Russland galt bis vor kurzem schließlich noch als Retter der Energiewende. Wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint, sollten dutzende neue Gaskraftwerke den Strom liefern. Das war der von Lindner mit unterzeichnete Plan der Ampelkoalition. Er ist mit Putins Angriffskrieg in sich zusammengebrochen.

Freiheitsenergien, die in die Abhängigkeit führen

In der „Zeitenwende“-Sondersitzung des Bundestags, kurz nach Kriegsbeginn, traute sich Lindner noch nicht, am deutschen Tabu zu rütteln und den deutschen Sonderweg der atomkraftfreien Energiewende als das zu bezeichnen, was er ist: eine Sackgasse. Er hat in jene Abhängigkeit von Russland geführt, die nun für die Ukraine und für ganz Europa zum Verhängnis wird. Als der deutsche Atomausstieg beschlossen wurde, haben im Kreml vermutlich die Krimsektkorken geknallt. Lindner sprach dieses grundlegende Dilemma der Energiewende jedoch nicht an. Stattdessen adelte er die notorisch unzuverlässige Windkraft als „Freiheitsenergie“ und forderte, deren raschen Ausbau jetzt erst recht zu forcieren.

Der Finanzminister und Bundesvorsitzende der Liberalen verlor im Bundestag kein Wort darüber, woher der Strom in windstillen Zeiten kommen soll. Wetterabhängige Stromerzeugung braucht einen Schattenpark an konventionellen Kraftwerken, um Blackouts zu vermeiden. Wenn Kohle und Gas nicht mehr in Frage kommen, bleibt nur die Kernkraft. Das haben andere Länder längst erkannt. Sie setzen auf eine Renaissance der Nuklearenergie, als klimaverträgliche Ergänzung zu den Erneuerbaren.

Versteckte Kehrtwende

Dass ausgerechnet die wirtschaftsfreundliche FDP bei diesem für Deutschlands Industrie zentralen Thema so zurückhaltend ist und den realitätsfernen Träumereien der Grünen kaum widerspricht, stieß in ihrer Mitglied- und Anhängerschaft schon länger auf Unverständnis. Jetzt, endlich, beim Bundesparteitag an diesem Wochenende, läuteten die Liberalen eine energiepolitische Kehrtwende ein. Allerdings versteckt in einem umfassenden Antrag des Bundesvorstands, der sich der deutschen Ostpolitik widmete: „Frieden, Freiheit und eine europäische Perspektive für die Ukraine – 11 Forderungen der Freien Demokraten“.

In diesem Antrag, der am Freitagabend kurz vor Beginn des Parteitags im Präsidium beschlossen wurde, hieß es zunächst: „Um unsere Energieversorgung akut und für die Zukunft zu sichern, fordern wir eine ideologiefreie und technologieoffene Debatte auch über die verstärkte Nutzung heimischer und europäischer Gas- und Ölvorkommen, über neue Entwicklungen in der Kernenergie und über vorübergehend längere Laufzeiten für die bestehenden Kohle- und Kernkraftwerke.“ Das „vorübergehend“ war eine Kompromissformulierung, um den Atomkraftskeptikern, die es auch innerhalb der FDP gibt, entgegenzukommen.

Keine offene Debatte

Auf dem Parteitag wurde am Samstag sehr viel über den Antrag diskutiert, allerdings ging es dabei um ganz andere Themen: um Waffenlieferungen an die Ukraine, um deren EU-Mitgliedschaft und so weiter. Über den neuen Pro-Atom-Kurs wurde nicht öffentlich debattiert. Die ihn betreffenden schriftlich eingereichten Änderungsanträge ließen sich geräuschlos integrieren. Beschlossen wurde dann folgende Formulierung:

„Um unsere Energieversorgung akut und für die Zukunft zu sichern, fordern wir eine ideologiefreie und technologieoffene Debatte. Wir wollen deshalb die Förderung heimischer Gas- und Ölvorkommen schnellstmöglich realisieren. Die Kohlekraftwerke aus der zweiten und dritten Auktionsrunde sollen nicht vom Netz genommen und auch nicht rückgebaut werden, bis ausreichend Freiheitsenergien zur Verfügung stehen. Angesichts der volatilen Lage im Energiemarkt fordern wir eine Debatte über eine begrenzte Laufzeitverlängerung für die Kernkraftwerke in Deutschland. Wir sprechen uns für eine ideologie- und technologieoffene Erforschung neuer Generationen von Kernenergie aus. Bei der zukünftigen Energiestrategie Deutschlands muss als drittes Ziel neben der Versorgungssicherheit – u.a. durch Diversifizierung – und der Umwelt- und Klimaverträglichkeit die Bezahlbarkeit weiter verfolgt werden.“

Die FDP fordert jetzt also eine „begrenzte Laufzeitverlängerung“ für die Kernkraftwerke in Deutschland. Ob dies nur die drei sich noch am Netz befindenden Kraftwerke betrifft, die laut Ausstiegsgesetz von 2011 Ende diesen Jahres stillgelegt werden sollen, lässt der Parteitagsbeschluss offen. Technisch wäre es möglich, auch noch jene drei weiteren Anlagen zu retten, die Ende vergangenen Jahres abgestellt wurden. Dazu müsste die Bundesregierung aber schnell reagieren, um zu verhindern, dass diese Kernkraftwerke zerstört werden.

Christian Lindner muss Energiepolitik zur Chefsache machen

Ob sich die Ampel-Koalition dazu durchringt, ist offen. Bei den Grünen sind die Widerstände und Bedenken am größten. Christian Lindner müsste das Thema zur Chefsache machen und mit Robert Habeck gemeinsam einen Weg finden, der die Ökopartei nicht zerreißt. Vielleicht ist der Parteitagsbeschluss aber auch ein Wink in Richtung Union. Denn CDU und CSU haben angesichts des Russland-Desasters ihren von Merkel verordneten Anti-Atomkurs längst verlassen.

Die FDP-Basis sollte jedenfalls mit aller Macht darauf pochen, dass ihr Parteichef den Beschluss ernst nimmt und im Bundeskabinett klar formuliert, was er von seinen Koalitionspartnern erwartet: dass diese über ihre ideologischen Schatten springen und angesichts der bedrohlichen Lage einer Laufzeitverlängerung der sechs noch zu rettenden Kernkraftwerke zustimmen.

Hören Sie zum Thema Energieversorgung auch den Cicero-Podcast mit Anna Veronika Wendland: „Bei der Energiestrategie ist Stimmungspolitik Gift“ 

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