Juden in Deutschland - „Wir wollen keine Privilegien, aber auch nicht am Rand stehen“

Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, ist eines der bekanntesten Gesichter des Judentums in Deutschland. Als Kind überlebte sie die Gräuel des Holocaust. Im Gespräch mit Rafael Seligmann warnt sie vor dem zunehmenden Antisemitismus.

Zwei Jungen mit Kippa sitzen in Hamburg in der Talmud Tora Schule / picture alliance
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Autoreninfo

Rafael Seligmann, Jahrgang 1947, ist Historiker, Journalist und Schriftsteller. Er lehrte an der Ludwig-Maximilian-Universität Strategie und Sicherheitspolitik. In Kürze erscheint sein Buch „Brandstifter und Mitläufer. Hitler, Putin, Trump“ im Verlag Herder.

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Charlotte Knobloch ist Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG). Von 2006 bis 2010 war sie Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Knobloch wurde 1932 in München geboren und überlebte den Holocaust, indem die nichtjüdische Hausangestellte ihres Onkels, Kreszentia Hummel, sie als ihre eigene Tochter ausgab.

Frau Knobloch, Ihre Tochter Iris ist Präsidentin des Filmfestivals von Cannes, Ihr Sohn Bernd war Vorstandsvorsitzender einer großen deutschen Bank, Ihre älteste Tochter Sonia ist eine leitende Ärztin. Was haben Sie als Mutter richtig gemacht?

Ich stand meinen Kindern stets zur Verfügung und habe viel Zeit und Energie in ihre Erziehung und Ausbildung investiert – mehr als das heute üblich ist. Ich war durchaus streng und habe stets Leistung verlangt. Mein Ziel war: Die Kinder sollten all das wahrnehmen können, was mir durch die NS-Verfolgung vorenthalten wurde. Dabei habe ich immer ein inniges Verhältnis zu meinen Kindern und Enkeln gepflegt.

Israel hat vor wenigen Wochen den 75. Jahrestag seiner Unabhängigkeit begangen. Wie beurteilen Sie die Entwicklung des jüdischen Staates?

Charlotte Knobloch / picture alliance

Im Mai 1948 habe ich inmitten von tausenden Überlebenden in München die Proklamation Israels bejubelt. Endlich hatten wir Juden einen Schutzhafen vor Verfolgung. Heute wird nicht nur Israels Politik vielfach kritisiert – sondern dessen schiere Existenz. Jüngst sagte mir mein Enkel, der in Israel lebt: „Wir können ohnehin tun, was wir wollen. Niemand mag uns.“ Es wird vielfach gegen Israel polemisiert oder zumindest einseitige Kritik geübt. Aber man darf nicht vergessen, das Land befindet sich seit seiner Gründung in einem Existenzkampf. Bis heute.

An der 75-Jahresfeier Zions nahm auch ein Jagdflieger der deutschen Luftwaffe mit israelischen und deutschen Hoheitszeichen teil. Das ist ein klares Bekenntnis zur Freundschaft mit Israel.

So etwas konnte sich 1948 niemand vorstellen. Deutschland liefert U-Boote an Israels Marine, die dort dringend gebraucht werden, und nun sollen israelische Abwehrraketen Deutschland schützen. Es gibt eine vielfältige Zusammenarbeit. So ist mit den Jahren eine Freundschaft zwischen beiden Ländern entstanden, die hoffentlich weiterentwickelt werden wird.

Und dennoch nimmt in Deutschland der Antisemitismus seit Jahren zu. Es kommt selbst zu tätlichen Angriffen gegen Juden. Wie kann man dieser Entwicklung Einhalt gebieten?

Von Seiten der demokratischen Politiker, von der Regierung, und vom Bundespräsidenten hören wir Bekundungen der Solidarität und der Verdammung von Antisemitismus. Doch im Alltagsleben werden wir vielfach als Fremde behandelt, als Letzte in der Reihe der gesellschaftlichen Gruppen. Das ist mir unverständlich. Seit 1700 Jahren leben Juden in Deutschland. Dennoch gilt das Wort „Jude“ nach wie vor oder schon wieder als Schimpfwort. Judentum ist eine Religion und darf nicht zum negativen Marker geraten.

Sehen Sie keine Verbesserung der Situation für jüdische Menschen in Deutschland?

Als Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland (2006 bis 2010) wurde ich vielfach als „Mahnerin“ beschimpft. Doch ich habe lediglich auf eine Entwicklung hingewiesen, die zuletzt nicht mehr zu leugnen ist und zum Beispiel auch in den Berichten des Verfassungsschutzes hervorgehoben wird. Die Judenfeindschaft nimmt ständig zu. Die jüdische Gemeinschaft wird zunehmend als fremd ausgegrenzt. Man tut zwar heute mehr, aber immer noch zu wenig, um uns vor Angriffen zu schützen. Ich meine das vor allem in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht.

 

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Denken Sie dabei auch an die Ereignisse rund um die Documenta 15 in Kassel?

Unbedingt. Von den zuständigen Behörden der Stadt und des Landes sowie von Seiten der Documenta selbst wurde nicht genug unternommen, um antisemitische Bekundungen, die als Kunst deklariert wurden, zu unterbinden.

Kulturstaatsministerin Claudia Roth spricht sich prinzipiell gegen Antisemitismus aus; im Fall der Documenta aber hat sie sich zurückgehalten, selbst bei eindeutigen Bekundungen der Judenfeindlichkeit durch das indonesische Kollektiv Ruangrupa.

Das hat mich sehr überrascht. Ich kenne die positive Haltung von Claudia Roth gegenüber Juden und jüdischer Kultur. Aber hier hätte sie stärker tätig werden müssen.

Sie betonen, was jeder Jude in Deutschland kennt: Prinzipiell erklärt sich die Politik mit den Juden solidarisch, doch es wird zu wenig gegen Antisemitismus unternommen.

Als Kanzlerin hat Angela Merkel zugegeben, dass sie als ehemalige DDR-Bürgerin diese Themen anfangs noch nicht gründlich genug kannte. Diese Ehrlichkeit rechne ich ihr hoch an, und sie hat mit den Jahren viel dazugelernt. Bei der jetzigen Regierung habe ich dagegen den Eindruck, dass die Worte stimmen. Aber bei den Taten kommen wir nur sehr langsam voran. Und die AfD schürt die alten Vorurteile.

Aber es besteht doch viel guter Wille und Freude über jüdisches Leben in Deutschland ...

Wir sind aber kein Festival, auf dem man auftreten und wieder gehen kann, sondern eine Religionsgemeinschaft in der Mitte der Gesellschaft. Wir wollen keine Privilegien, aber auch nicht am Rand der Gesellschaft stehen. Es ist für viele unerträglich geworden, permanent bedroht und beschimpft zu werden.

Durch wen?

Von Rechtsextremen abgesehen, vorwiegend von islamistischen Gruppen, die aus ihrem Judenhass kein Geheimnis machen.

Wie beurteilen Sie die Zukunft des deutschen Judentums?

Wir Juden haben eine lange Erfahrung der Bedrohung. Vor den Nazis waren wir in die deutsche Gesellschaft eingebunden. Dahin müssen wir wieder kommen. Wir müssen uns zu Wort melden, und man sollte auch auf uns hören. Wenn aber Gefährdung an die Stelle der Freiheit tritt, dann werden die Juden zunehmend Deutschland verlassen – allen gutgemeinten Worten aus der Politik zum Trotz.    

Das Gespräch führte Rafael Seligmann.

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