Anne Spiegels Erklärung - Würdelos, selbstgefällig, überfordert

Bundesfamilienministerin Anne Spiegel hat gestern der Öffentlichkeit zu erklären versucht, warum sie als stellvertretende Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz nach der Flutkatastrophe an der Ahr einen vierwöchigen Frankreichurlaub antrat. Ihr Auftritt geriet zu einem Desaster und zeugt von einer völlig zerstörten politischen Kultur. Anstatt Verantwortungsbewusstsein zu zeigen, zerfloss die Grünen-Politikerin in Selbstmitleid.

Bundesfamilienministerin Anne Spiegel nach ihrem Pressestatement am Sonntagabend / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Es gibt politische Statements, die muss man mit eigenen Augen, live und in Farbe, gesehen haben, um sie überhaupt für möglich zu halten. Der Auftritt von Bundesfamilienministerin Anne Spiegel gestern Abend gehört zweifelsfrei dazu. Einfaches Nachlesen der Aussagen reicht nicht aus, um sich ein Bild davon zu machen, wie ein Mitglied des Bundeskabinetts nicht nur die eigene Eignung für jegliches Amt komplett negiert, sondern noch dazu die Führungsfähigkeit des Bundeskanzlers – und die Regierung, der sie angehört, der Lächerlichkeit preisgibt. Was die Grüne abgeliefert hat, ist die totale Bankrotterklärung einer Politik, bei der es nur noch um eigene Befindlichkeiten geht, um eigene Gefühle, ums Private – das selbstverständlich jederzeit mehr zu zählen hat als das Wohl der Allgemeinheit. Es ist eine Schande.

Anne Spiegels Versagen im Zusammenhang mit der Flutkatastrophe an der Ahr ist inzwischen weithin bekannt: Ihre größten Sorgen galten der eigenen Außenwahrnehmung, dem „Wording“, der Frage, wie sie angesichts von Zerstörung und am Ende mehr als 130 Toten eine gute Figur abgibt, obwohl sie es als zuständige Umweltministerin unterlassen hat, vor der Gefahr rechtzeitig zu warnen. Auch das korrekte Platzieren von Gendersternchen im Wort „Campingplatzbesitzer“ stand sehr weit oben auf der Prioritätenliste der stellvertretenden Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, die sich – wie am Wochenende bekannt wurde – nach der Flut in einen vierwöchigen Frankreichurlaub begab. Um später vom linken Flügel der Grünen in ein Bundesministerium befördert zu werden.

Es lässt einen sprachlos zurück

Schon ohne die jetzt publik gewordene Urlaubsnummer wäre der Rücktritt Anne Spiegels nicht nur konsequent gewesen, sondern geradezu zwingend. Jedenfalls unter normalen Umständen. Aber die politische Quoten- und Ego-Kultur, maßgeblich befördert von Spiegels Partei, hat jeden normalen Maßstab verloren. Und ihr an diesem Sonntagabend abgeliefertes Pressestatement zeugt davon in völlig unverstellter Klarheit: Anne Spiegel jammert der Bevölkerung die Ohren voll von wegen privater Malaisen, die als Rechtfertigung dienen sollen für einen Monat der Entspannung an der französischen Mittelmeerküste (oder wo auch immer sonst der Überforderung im Beruf Linderung verschafft werden sollte). Es ist nicht zu glauben und lässt einen sprachlos zurück.

Das Gestammel der grünen Bundesministerin ist ein Tiefpunkt der politischen Kultur und eine Beleidigung all jener Menschen in diesem Land, die trotz ihres Berufs diese und andere Beschwerlichkeiten jener Politikerin tragen müssen, die ihre eigene Lebenslage für offenbar derart singulär hält, dass man bitteschön für jegliches Versagen Verständnis aufbringen möge. Der Mann krank, die Kinder „schlecht durch die Coronazeit gekommen“: Das sind natürlich Argumente, auf die sich andere Frauen nicht berufen können. Und zwar schlicht und ergreifend deshalb nicht, weil sie nicht die Bühne einer Pressekonferenz geboten bekommen, auf der eine Ministerin sich ausheulen und in Selbstmitleid zerfließen kann. Übrigens nicht irgendeine Ministerin – sondern jene, die in der Bundesregierung ausgerechnet das Familienressort verantwortet. Mehr Schmierenkomödie ist eigentlich unvorstellbar. Aber wahrscheinlich kann auch dieses Niveau von der „Mehr Aufbruch wagen“-Truppe immer noch unterboten werden. Nichts ist unmöglich in Deutschland anno 2022 – inmitten der größten Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Was Anne Spiegel abgeliefert hat, scheint derart unglaublich, dass man es für eine Art Gesellschaftsexperiment halten könnte, bei dem herausgefunden werden soll, was dem Volk zugemutet werden kann, ohne dass es im Berliner Regierungsviertel zu spontanen Demonstrationen gegen die offensichtliche Verblendung einer Spitzenpolitikerin kommt. Tatsächlich erinnert Spiegels Statement in seiner unfassbaren Mischung aus Selbstgefälligkeit und Naivität (beziehungsweise Hinterhältigkeit) an Erich Mielkes „Ich liebe euch doch alle“. Da lebt jemand in einem Paralleluniversum, das im Falle der Bundesfamilienministerin aus bündnisgrünen Gewissheiten besteht, wonach Politik eine Art Selbsterfahrungstherapie ist. Deswegen geriet Spiegels Pressekonferenz auch zu einer Art Psychogespräch mit sich selbst.

Frappierende Würdelosigkeit

Frappierend ist die Würdelosigkeit, mit der die Ministerin sich der Öffentlichkeit stellte – und bei dieser Gelegenheit auch noch ihre eigene Familie instrumentalisierte, um sich mit letzter Kraft an ein Amt zu klammern, das (einen Rest von Normalität vorausgesetzt) über kurz oder lang ohnehin nicht zu halten sein dürfte, weil die Kollateralschäden von Spiegels Verhalten die Dysfunktionalität der sie tragenden Ideologie zu decouvrieren drohen. In der ganzen Peinlichkeit ging ja beinahe unter, dass ihr Entschuldigungs-Sermon wegen des Urlaubs zur Unzeit noch das Eingeständnis einer früheren Falschaussage enthielt, die Lüge nicht genannt werden soll, weil es angeblich nur ein dummes Versehen war: Anne Spiegel gab gestern nämlich zu, von ihrem Urlaubsort doch nicht per Video an Kabinettskonferenzen teilgenommen zu haben, wie ursprünglich behauptet. Dafür sei sie aber jederzeit telefonisch erreichbar gewesen. Das muss ihr erstmal jemand nachmachen!

Es gibt aber sogar noch weitere Indizien dafür, dass Frau Ministerin ganz selbstlos und um der großen Sache wegen den Urlaub zu unterbrechen bereit war: Für einen Tagesausflug ins Katastrophengebiet nämlich, wo sie sich kameratauglich mit sorgenvoll-betroffenem Minenspiel in Kümmerer-Pose begab, damit hinterher bloß niemand behaupten kann, sie hätte sich aus dem Staub gemacht. Das übliche abgeschmackte Empathie-Theater eben, ersonnen von irgendwelchen Pressestellen und PR-Beratern. Erbärmlich ist das und widerwärtig. Und jeder, der es sehen will, kann es nun erkennen. Das gilt wahrscheinlich sogar für jene öffentlich-rechtlichen Nachrichtenonkel, die wider besseres Wissen das Gegenteil behaupten, weil ihnen sehr bewusst ist, wem sie ihre Fernsehjobs zu verdanken haben. Und dann gibt es natürlich noch die üblichen Apologeten aus der zweiten Grünen-Reihe, die sich tatsächlich nicht zu dumm sind, Anne Spiegels desaströse Séance als Ausdruck von „menschlicher Politik“ zu verbrämen. Womöglich sind derlei Irrlichtereien sogar ernst gemeint.

Erzählung von der eigenen Unfähigkeit

In der Filmkomödie „King Ralph“ wird durch die Verkettung unglücklicher Umstände ein amerikanischer Barpianist plötzlich zum Chef des britischen Königshauses. Der Witz des Films lebt davon, dass eine auf den ersten Blick völlig ungeeignete Person im Hawaiihemd am Ende gar keinen schlechten Job macht. Bei Anne Spiegel ist es genau umgekehrt: Ihre Qualifikationen (woke, weiblich, links) machten sie formal zur idealen Kandidatin für jene öffentlichen Ämter, in denen sie so kläglich versagte. Tatsächlich strahlt aber jeder Barpianist in bunten Klamotten mehr Würde, mehr Kompetenz, mehr Aufrichtigkeit aus als diese an ihrem Amt klebende Bundesministerin, die ohne es zu merken mehr als zehn Minuten lang von ihrer eigenen Unfähigkeit erzählte.

Wenn Olaf Scholz, immerhin Regierungschef, auch nur den Hauch von Führungsverantwortung besitzt, muss er sie entlassen. Egal, ob Spiegel einer anderen Partei angehört als der Kanzler selbst. Es geht jetzt ausnahmsweise um mehr als kleinliche Machtarithmetik. Nämlich um das Ansehen der Bundesrepublik und ihrer höchsten Repräsentanten.

Mit hilflosem Blick richtete sich Anne Spiegel gestern Abend am Ende ihrer Ausführungen an einen neben ihr stehenden „Berater“, von dem sie wissen wollte, ob sie ihr peinliches Gestammel jetzt mit einem „Abbinder“ zu Ende bringen solle. Es folgte jene Entschuldigung, die ihr im Eifer des Gefechts als Finale grandioso offenbar nicht mehr einfallen mochte. Dabei hätte der nach normalen Maßstäben einzig denkbare „Abbinder“ aus einem Satz bestehen müssen, der da lautet: „Und aus diesen Gründen trete ich mit sofortiger Wirkung von meinem Amt zurück.“ Aber so weit scheint die Phantasie der Bundesfamilienministerin nicht zu reichen. Die Phantasie ihrer Partei übrigens auch nicht. Es ist ein Elend.

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