Ankaras Einfluss in Deutschland - „Wer hier AKP wählt, ist nicht grundsätzlich deutschlandfeindlich“

Die deutsch-türkische Community ist polarisiert. Im Interview erklärt Levent Taşkıran, Präsident des Vereins türkischer Studenten und des Vereins türkischer Akademiker in Köln, wie Politik und Gesellschaft hier helfen können.

Zahlreiche Türken feiern auf dem Kurfürstendamm den Wahlsieg Recep Tayyip Erdogans im Mai / dpa
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Autoreninfo

Ilgin Seren Evisen schreibt als freiberufliche Journalistin über die politischen Entwicklungen in der Türkei und im Nahen Osten sowie über tagesaktuelle Politik in Deutschland. 

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Mit dem erneuten Sieg Erdogans bei den diesjährigen Präsidentschaftswahlen etablierten sich mehrheitlich islamische und patriarchalische Parteien im türkischen Kabinett. Die Mehrheit säkular und westlich ausgerichteter Jugendlicher und Akademiker möchte das Land auch deshalb verlassen. Meist entscheiden sie sich für Deutschland, da sie hier auf bestehende türkische Netzwerke zurückgreifen können.

Der in Deutschland geborene Levent Taşkıran ist Präsident des Vereins türkischer Studenten und des Vereins türkischer Akademiker in Köln. Das Erstarken islamistischer Bruderschaften, die gute Vernetzung der aus der Türkei gesteuerten Moscheen und AKP-naher Funktionäre beobachtet er mit großer Sorge. 

Herr Taşkıran, wie haben Sie das Ergebnis der Wahlen in der Türkei erlebt?

Zunächst einmal: Ich habe mich eindeutig positioniert. Und das für die Opposition, also den sozialdemokratischen Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu. Die Wahlen in der Türkei waren für mich sehr wichtig, denn hier ging es nicht nur um reine Parteipolitik, sondern um die politische und kulturelle Zukunft der Türkei. Wird die Türkei zu einer parlamentarischen Demokratie zurückfinden oder in einer präsidialen Autokratie enden? Das war die zentrale Frage, die wir demokratische Türken uns stellten.

Ich hoffte, dass nach 20 Jahren AKP eine politische Kehrtwende eingeläutet wird und die Menschen, auch insbesondere die Opposition mit ihren sechs Bündnisparteien das Land nach ihren Vorstellungen gestalten dürfen. Leider hat die Opposition die Wahl verloren und für mich starb damit die Hoffnung auf politische Selbstbestimmung und mehr Demokratie im Land. Auch für die Wirtschaft wäre ein Wechsel sehr sinnvoll gewesen, da das Präsidialsystem der Türkei nicht kompatibel mit den wirtschaftlichen Strukturen im Lande ist, was man ja heute an der Inflation und der schlechten Wirtschaftspolitik sehr gut erkennt. 

Glauben Sie, dass die Wahl manipuliert wurde?

Zuerst muss ich betonen, dass die sehr hohe Wahlbeteiligung viele überrascht hat. Das zeigt, dass die Menschen die Demokratie schätzen. Das ist natürlich begrüßenswert. Jedoch muss man auch anmerken, dass die politischen Lager sehr gespalten waren und immer noch gespalten sind. Die AKP hat mit sehr unfairen Methoden die Opposition kriminalisiert und den Präsidentschaftskandidaten, Herr Kılıçdaroğlu, sogar mit einem Fake-Video als PKK-Sympathisant diskreditiert.

Welche Rolle spielten die türkischen Medien?

Da die meisten Medien in der Türkei einseitig für die Regierung berichten, also mehrheitlich gleichgeschaltet sind, wurde hier eine einseitige Propaganda mit sehr unfairen Mitteln zu Ungunsten der Opposition betrieben. Wir sehen an diesen Beispielen, dass die Wahlen schon vor dem Feststehen des Ergebnisses manipuliert wurden und daher glauben viele, dass auch das Ergebnis nicht stimmt. Am Wahlabend kam es an vielen Orten der Türkei zu Gewalt gegenüber Oppositionellen, Wahlhelfer, hier wie dort, berichteten von Ungereimtheiten. Nicht wenige sind überzeugt davon, dass die Opposition die Wahlen gewonnen hat. 

In der Türkei fordern auch Politiker linker Parteien eine dauerhafte Ausweisung der Millionen Flüchtlinge. In Deutschland werden solche Forderungen schnell als populistisch und rassistisch bezeichnet. Wie bewerten Sie die Forderung von linken türkischen Parteien, die Flüchtlinge aus der Türkei abzuschieben?

Die Abschiebung von circa 14 Millionen Flüchtlingen, die illegal in die Türkei aus Ländern wie Afghanistan über den Iran und mit Hilfe des iranischen Geheimdienstes in die Türkei geschleust werden sowie die Millionen Syrer, die in der Türkei Zuflucht gefunden haben, sind das Ergebnis einer völlig falschen Außenpolitik und Sicherheitspolitik der AKP. Circa 14 Millionen Menschen, die vor Bürgerkriegen flohen, die weder demokratische Strukturen kennen noch Frauenrechte, können nicht so einfach in eine bis dato mehrheitlich säkulare Gesellschaft integriert werden. In der Türkei sprechen sich neben linken und bürgerlichen Parteien auch nicht wenige NGOs, die sich für Frauenrechte engagieren, für die Ausweisung der Flüchtlinge aus, eben weil sie oft aus patriarchalischen und frauenfeindlichen Gesellschaften stammen und der türkischen Zivilgesellschaft dauerhaft schaden werden. 

Wie empfinden Sie die Haltung der Europäischen Union gegenüber der Türkei?

Die Haltung der Europäischen Union erachte ich als heuchlerisch und zwiespältig. Die EU hat insbesondere bei der Flüchtlingsproblematik die Türkei im Stich gelassen. Die Versprechen des EU-Migrationsabkommens mit der Türkei vor allem in Bezug auf die Visafreiheit und andere Zugeständnisse wurden ignoriert oder nicht erfüllt. Auch die Erweiterung der Zollunion war ein falsches Versprechen. Auch ist die Haltung der deutschen Regierungsparteien problematisch. Damit die Türkei die Flüchtlinge im eigenen Land behält, wird Erdogan über verschiedene Projekte und Abkommen unterstützt. Dies empfinden liberale Deutsch-Türken und Türken als Verrat an westlichen Werten wie dem Säkularismus, der Gleichstellung der Frau – also an Werten, die EU-Länder wie Deutschland doch offiziell hochhebt. 

Liberale Türken und Deutsch-Türken sind also der Meinung, dass europäische Politiker auf einen Wahlsieg der AKP hofften, weil Europa stark vom Flüchtlingsdeal mit der Türkei profitiert? 

Der Oppositionsführer Kılıçdaroğlu hat sich ganz klar für eine rasche Abschiebung der Flüchtlinge ausgesprochen. Das hat viele EU-Länder und Deutschland natürlich abgeschreckt. Kılıçdaroğlu teilte in einem Tweet mit, dass an erster Stelle die Interessen der Türken stehen und somit nicht die Interessen der Europäer. Die Haltung der Bundesregierung und der EU, insbesondere in Bezug auf die AKP, finden viele Türken und Deutsch-Türken problematisch. Die Türkei soll als Puffer und Aufnahmeland dienen, damit die Flüchtlinge nicht nach Europa kommen. Das ist aber ein großer strategischer Fehler.

Warum?

Eine Türkei, die durch circa 15 Millionen Flüchtlinge ökonomisch, sozial und kulturell destabilisiert wird, wird auch irgendwann die EU destabilisieren. Was werden aber dann die Flüchtlinge machen? Sie werden nach Europa kommen. Es wäre besser gewesen, wenn man gegenüber der Türkei aufrichtig gewesen wäre. Die Türkei ist eine Brücke zwischen Europa und Asien. Die Türkei sollte weiterhin als stabiles Brückenland und Mitglied Europas erhalten bleiben. Die EU schießt sich mit dem Flüchtlingsdeal dauerhaft ein Eigentor, das wird die Zukunft zeigen. 

Oppositionelle aus der Türkei beklagen den hohen Grad an Vernetzung und professioneller Organisation, den Erdogan nahe Moscheen und Verbände in Deutschland haben. Teilen Sie diese Einschätzung türkischer Strukturen in Deutschland?

Europäische Länder, insbesondere Deutschland haben diese Strukturen doch mitverschuldet. Seit den 60er Jahren wurden die Türken in Deutschland einseitig nur als Gastarbeiter geduldet. Eine echte Integrationspolitik gab es leider nicht. Das hat dazu geführt, dass die Türken in Deutschland ihre eigenen Strukturen, also Moscheen und bestimmte Gemeinden parallel zur deutschen Gesellschaft und ihren Strukturen aufgebaut haben. Nun existieren diese Strukturen schon seit mehr als 50 Jahren. Erdogan nahe Vereine sind sehr gut untereinander vernetzt und finanziell unterstützt. Die türkische Opposition dagegen ist nicht vernetzt und nicht konsolidiert. Die demokratischen türkischen oppositionellen Vereine oder Menschen sollten sich auch hier besser vernetzen und auch für die Interessen der türkischen Bürger in Deutschland mehr einsetzen.

Was fordern Sie von der deutschen Politik, um den Einfluss Erdogans in Deutschland einzudämmen?

Der erste richtige Schritt wäre, dass türkische Wahlen in der Türkei stattfinden und nicht in Deutschland. Auch wenn man die türkische Staatsbürgerschaft besitzt, sollten Menschen nicht über die Zukunft der Menschen in der Türkei entscheiden, wenn sie nicht dort leben. Aber ein Wahlkampf in der Türkei sollte die Türken in Deutschland nicht spalten, was zurzeit der Fall ist, und auch die dauerhafte Integration türkischer Bürger verhindert. Zudem sollten mehr liberale Vereine und Funktionäre in die deutsche Innenpolitik eingebunden werden und migrationspolitische Entscheidungen mitgestalten – denn sie kennen sich mit innertürkischen Angelegenheiten und Organisationen besser aus. 

Wie erklären Sie sich den hohen Grad an Emotionalisierung bei seit vielen Jahrzehnten in Deutschland lebenden Deutsch-Türken, wenn es um die Türkei geht? 

Viele Türken in Deutschland kennen die wirtschaftliche und politische Lage der Türkei nicht wirklich, da sie meistens in Deutschland leben und ihren Lebensunterhalt hier verdienen. Sie erachten die Türkei eigentlich nur als Urlaubsland, wo sie mit einem günstigen Wechselkurs einen schönen Urlaub verbringen. Ich kenne aber auch einige Deutsch-Türken, die vor 15 Jahren in die Türkei ausgewandert sind und jetzt zurückgekehrt sind; die das jetzt auch anders sehen als zuvor. Die Unkenntnis über den Alltag in der Türkei erklärt ihre Emotionalisierung. Zudem nutzen türkische Politiker die Bildungsschwäche einiger Deutsch-Türken, um sie für ihre Zwecke zu emotionalisieren.
 

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Teilen Sie die Auffassung, dass sich viele Deutsch-Türken eher der Türkei als Deutschland verbunden fühlen? Wenn ja, wieso schaffen wir es nicht, dass sich die in Deutschland lebenden Türken dem Land verbunden fühlen, in dem sie leben?

Das ist eine richtige Einschätzung, aber daran sind eigentlich die deutschen Regierungsparteien und ihre schlechte Migrationspolitik schuld. Warum sich die Türken seit 60 Jahren nicht mit diesem Land verbunden fühlen, hat vielseitige soziokulturelle Hintergründe. Eine Akzeptanz türkischen Lebens in Deutschland ist meines Erachtens nicht gegeben. Das liegt auch an der deutschen Gesellschaft. Die Türken haben jedenfalls viel für Deutschland beigetragen. Es gibt ja auch sehr gute Beispiele und sehr erfolgreiche Deutsch-Türken wie Professor Ugur Sahin und Dr. Türeci von Biontech und andere hervorragende Wissenschaftler, Geschäftsmänner, Künstler, Politiker. Der erste richtige Schritt wäre, die Deutsch-Türken für deutsche Politik zu begeistern, ihnen das Gefühl der Akzeptanz zu vermitteln, indem man eben die Demokraten und Liberalen unter ihnen stärker in migrationspolitische Debatten einbindet. 

Türkische Intellektuelle gehen davon aus, dass die Wahl Erdogans den politischen Islam in der Türkei und in deutsch-türkischen Communitys vorantreiben wird. Schließen Sie sich dieser These an?

Diese Befürchtung teile ich auch. Aber ich hoffe, dass die Türkei auf Grund ihrer Gründung durch Atatürk und der hierdurch in der Verfassung verankerten kemalistischen Werte nicht wie der Iran oder Afghanistan enden wird. Die türkische Kultur und ihre ehemals schamanistische Religion, die vor dem Islam herrschte, ist grundverschieden zu anderen orientalischen Kulturen. Das Land hatte vor vielen anderen, auch europäischen Ländern ein Frauenwahlrecht. Der Kemalismus förderte zum Beispiel sehr früh den beruflichen Erfolg von Frauen, als selbst in Deutschland Frauen die Arbeit ohne das Einverständnis des Mannes noch nicht erlaubt war.

Das allein lässt mich hoffen, dass die Türkei nicht als ein islamistisches Land enden wird. Allerdings erleben wir in der türkischen Familienpolitik und in dem Verbot zahlreicher Festivals, der staatlichen Förderung von islamistischen Bruderschaften, der Verteuerung von Alkohol, dass die Regierung die Islamisierung des Landes in der Türkei und über ihren Einfluss in Deutschland auch innerhalb der deutsch-türkischen Community vorantreibt. 

Erdogan-Kritiker gehen davon aus, dass mit dem Brain Drain mehr Türken nach Deutschland auswandern werden, dass allerdings auch hier die Polarisierung unter den Deutsch-Türken zunehmend wird. Glauben Sie das auch?

Eine Polarisierung der Deutsch-Türken in Deutschland besteht schon. Diese Tendenz kann im Zuge des Brain Drains aus der Türkei zunehmen. Ich denke aber nicht, dass es zu Ausschreitungen oder Gewalt kommen wird. Ich jedenfalls habe auch Freunde, die die AKP wählen. Wir schaffen es trotz politischer Unterschiede respektvoll miteinander umzugehen. Ein solcher respektvoller Umgang wäre auch für die deutsch-türkische Community und ihre unterschiedlichen politischen Gruppierungen zu hoffen. 

Was müsste der deutsche Staat und seine Institutionen unternehmen, um den Einfluss Erdogans und islamistischer türkischer Organisationen in Deutschland zu schwächen? 

Die Türken, die in Deutschland die AKP wählen, sind meines Erachtens nicht grundsätzlich deutschlandfeindlich oder gegen Deutschland. Die Menschen, die die AKP wählen, fühlen sich nicht selten in Deutschland ausgegrenzt. Was kann man dagegen tun? Man sollte diese Menschen auch ruhig zu sich einladen und auch den Dialog stärken, ihnen zeigen, dass die Demokratie und eine moderne sowie liberale Gesellschaft eine bessere Alternative für sie ist.

Es gibt auch nicht wenige Moscheen, die keine Kontakte zur AKP haben und sich politisch neutral verhalten. Sie können getrost besucht und unterstützt werden. Solange Moscheen und ihre Gläubige sich nicht für Salafismus aussprechen, sollte der Dialog also aufrechterhalten werden. Das ist der beste Weg, um den Einfluss der AKP in Deutschland zu schwächen und viele Deutsch-Türken dauerhaft an Deutschland zu binden. 

Das Gespräch führte Ilgin Seren Evisen. 

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