Angela Merkel wirbt mit Helmut Kohl - Beziehungen zu Russland: Merkels Doppelbeschluss

Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel hat „neue Handlungsspielräume“ gegenüber Russland eingefordert. Bei einer Gedenkveranstaltung für den früheren CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl mahnte sie, es sei sein Vermächtnis, „parallel immer auch das im Moment so Undenkbare, schier Unvorstellbare“ mitzudenken. Dabei erinnerte sie an den Gedanken des „Doppelbeschlusses“ aus der Kohl-Zeit, der Abschreckung und Gesprächsbereitschaft gegenüber Moskau verband. Bei der Veranstaltung traf Merkel erstmals wieder auf CDU-Chef Friedrich Merz.

Wiedersehen: Ex-Kanzlerin Angela Merkel und CDU-Chef Friedrich Merz /dpa
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Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Es sollte ein Gipfeltreffen dreier großer CDU-Kanzler werden. Nur gab es zwei Schönheitsfehler und eine Überraschung. Der erste Schönheitsfehler war, dass Helmut Kohl nicht persönlich kommen konnte, sondern nur im Video zu sehen war. Der zweite Schönheitsfehler war, dass CDU-Chef Friedrich Merz ja noch gar nicht Kanzler ist. Dafür gab es die Überraschung, dass Angela Merkel tatsächlich anwesend war und eine so gute Rede hielt, wie man sie während ihrer Amtszeit selten gehört – und mitunter vermisst – hat.

Eingeladen hatte die neu gegründete „Bundeskanzler Helmut Kohl Stiftung“, die – wie auch für andere ehemalige Regierungschefs vom Bundestag errichtet und mit öffentlichen Geldern finanziert – das Andenken an den Großen der Republik sicherstellen soll. Das ganze Setting entbehrte dabei nicht einer gewissen inneren historischen Ironie.

Fast genau vor 40 Jahren wurde Kohl in Bonn zum Kanzler gewählt, vielleicht der Höhepunkt der Bonner Republik. Nun wurde an dieses Ereignis erinnert, und dieser Kanzler ausgerechnet in Berlin von zwei Nachfolgern geehrt, die beide von diesem CDU-Titanen gefördert wurden, sich doch gleichsam zeitlebens auch an ihm abgearbeitet haben. Und dann fand das Hochamt für den Pfälzer Katholiken auch noch in der evangelischen Friedrichstadtkirche statt. Aber Kohl hatte Humor, im Gegensatz zu seiner Witwe Maike Kohl-Richter, die gerichtlich gegen die Stiftung vorgehen will. Sie verletze die „postmortalen Rechte“ ihres Mannes, ließ sie gestern mitteilen. 

Was würde Helmut Kohl heute sagen?

Angela Merkel war das Schlusswort zugedacht worden. Nachdem Merz eröffnet hatte, und nachdem zwei mehr oder weniger launige Vorträge sowie „Zeitzeugen-Interviews“ den Abend gefüllt hatten. Im Nachhinein war klar: Merkels Rede war der Hauptvortrag. Sie hatte sich genau diesen Anlass ausgesucht, um sich mit relevanten Äußerungen in der Öffentlichkeit zurückzumelden.

Ein Jahr nach ihrer Ablösung ist sie wieder da, ein Jahr und eine ganze Zeitenwende weiter. Und sie kommt keineswegs im Büßergewandt daher oder um Anekdoten aus dem Kanzleramt zu erzählen. War ihr erster Auftritt vor einigen Wochen im Berliner Ensemble noch was fürs Gemüt für Groupies, ging es nun um wirkliche Politik. Merkel, die manchen nun als Urheberin alles aktuellen Übels gilt, geht in den Verteidigungsmodus über, ohne, dass man es ihr im Geringsten anmerken würde.

Drei Maximen der Staatskunst

Merkel stellte sich dabei ganz als Schülern des Lehrmeisters Helmut Kohl vor. Mehr noch wagte sie es, die hypothetische Analyse Kohls auf die aktuelle Lage zu formulieren. „Was würde Kohl heute sagen?“, fragte sie und gab sich dann als authentische politische Witwe aus, die postmortal Kohls Vermächtnis ausdeutet. Mit einer originellen Reminiszenz an die Tischrede Kohls beim Honecker-Besuch im Westen 1987 schlug sie einen großen Bogen.

Möglicherweise hätte es Kohl sogar gefallen, wie sie aus seinem Leben drei Maximen der Staatskunst herausdestillierte, denen auch sie nachgeeifert haben will. Die persönliche Dimension des Politischen, die Notwendigkeit des Machtwillens und schließlich die historische Verortung des Handelns skizzierte sie als die große politische Kohl-Matrix. Und dann schlug Merkel aus ihrer persönlichen Hommage einen Funken für die aktuelle politische Debatte, der doch kaum zu erwarten war. Kein anderer Redner war substantiell auf den Ukraine-Krieg eingegangen. Da erwies Merkel sich tatsächlich als Schülerin Kohls, immer und zu jeder Zeit Politik zu machen, nicht nur im Festakt mitzuspielen.
 

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Merkel pries die Unterstützung der Ukraine durch den Westen. Deutschland müsse alles daransetzen, die Souveränität und Integrität der Ukraine zu verteidigen, das wäre auch Kohls Mantra heute. Doch zugleich, so glaube sie, würde Kohl bei Fragen derartiger Tragweite nie „den Tag danach“ aus dem Blick verlieren. Auf heute übertragen, würde Kohl „parallel immer auch das im Moment so Undenkbare, schier Unvorstellbare mitdenken – nämlich, wie so etwas wie Beziehungen zu und mit Russland wieder entwickelt werden können“, formulierte die ehemalige Kanzlerin. „Beides würde er natürlich niemals in einem deutschen Alleingang angehen.“  

Der weiße Elefant im Berliner Porzelanladen

Es müsste eigentlich als Paukenschlag im aktuellen politischen Berlin wahrgenommen werden. Die künftigen Beziehungen zu Russland nach einem wie auch immer beendeten Krieg – das ist derzeit der größte weiße Elefant im Porzellanladen der Berliner Republik. Merkel nimmt sich die Autorität des „Riesen“, wie Kohl von Bewunderern gerne genannt wird, und hebt diese Dimension der aktuellen Weltkrise in den unantastbaren Bereich der Kohl’schen Weisheit. Merkel macht sich zum Kohl’schen Politik-Orakel. Und keiner hindert sie daran.

Was sich der amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz kaum zu sagen traut, was sich der CDU-Kanzleranwärter Merz nicht ausmalen möchte, das, was als politisch randständig ausgemacht wird, spricht Merkel an. Es wird künftig irgendwie und irgendwann Beziehungen wieder zu Moskau geben müssen. „Putin ernst nehmen“ und sich mit ihm auseinanderzusetzen, heiße keineswegs, so Merkel, seine Positionen zu teilen oder zu akzeptieren. Und natürlich war das auch eine Selbstverteidigungsrede.

Abschreckung plus Gesprächsbereitschaft

Merkel erinnerte an die Nachrüstungsdebatte. Sowohl Helmut Schmidt als auch Helmut Kohl hätten die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen befürwortet und dafür gestritten. Doch sei dieser zentrale Anker westdeutscher Außenpolitik eben unter dem Begriff des „NATO-Doppelbeschlusses“ bekannt geworden. Die andere Seite des Doppelbeschlusses sei eben gewesen, mit Moskau im Gespräch zu bleiben. Das Wesen dieser Kohl’schen Außenpolitik sei maximale Abschreckung plus Gesprächsbereitschaft. Und die ehemalige Kanzlerin legte nahe, dass dies eben auch heute angezeigt sei und Kohls Antwort heute wäre: eine Art Doppelbeschluss. „Wir müssen uns Handlungsspielräume neu schaffen.“

Eine Debatte über den Merkel’schen Aufschlag gab es dann nicht mehr. Schließlich warteten Häppchen und Getränke. Zuvor hatte Friedrich Merz von früher erzählt, er sei, als Kohl Kanzler wurde, schon zehn Jahre CDU-Mitglied gewesen. Und er legte nochmal das mehr oder weniger Offensichtliche dar: Kohls Europa sei jetzt „ernsthafter denn je in seiner Geschichte bedroht“. Nun sei Führung gefordert, so Merz. Nur die hat er an dem Zweieinhalb-Kanzler-Abend nicht gezeigt. Merkel hat den Aufschlag gemacht und ihm den Abend genommen. Wieder einmal. Und Kohl schweigt.
 

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