Die Kanzlerin und Frankfurt - Das Schweigen der M.

Nach dem Mord an einem achtjährigen Jungen am Frankfurter Hauptbahnhof unterbricht Innenminister Horst Seehofer seinen Sommerurlaub. Von der Kanzlerin kommt hingegen kein Wort. Das hat Methode

Schon bei früheren Vorfällen schwieg Angela Merkel / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

So erreichen Sie Christoph Schwennicke:

Anzeige

Man hat Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) die Erschütterung angemerkt, die in ihm nachwirkte, am Tag nach dem Mord an einem achtjährigen Jungen auf dem Frankfurter Hauptbahnhof und einem Mordversuch an dessen Mutter und einer 78-jährigen Frau. Er wirkte teilweise fahrig, moderierte den BKA-Chef Holger Münch für dessen Stellungnahme schon an und redete dann über genau das, was Münch eigentlich sagen sollte. Er lachte kein einziges Mal sein ansonsten sardonisches Lachen, war erkennbar bemüht, jedes einzelne Wort richtig zu wählen. Und seine der Situation geschuldete partielle Unbeholfenheit wirkte so menschlich sympathisch wie seinerzeit Angela Merkels etwas linkischer, aber mütterlicher Trost für das palästinensische Flüchtlingsmädchen Reem in Rostock im Sommer 2015. 

Er fand die richtigen Worte für die Mutter, die Angehörigen, die geschockten Passanten, den Lokführer, das Bahn-, das Rettungs- und das Sicherheitspersonal. Und für die Zivilisten, die dabei halfen, den 40-jährigen Eritreer auf seiner Flucht zu stellen. Die richtigen Worte schaffen keine Abhilfe, aber sie sind enorm wichtig in solchen Augenblicken. Und so erschüttert und konzentriert Seehofer sich präsentierte, so sehr machte sich das dröhnende Schweigen der Bundeskanzlerin zu diesem schrecklichen  Vorfall bemerkbar. 

Plakativer Aufmacher

Man muss und sollte diese Diskrepanz vielleicht nicht so perfide plakatieren wie die Bild-Zeitung an jenem Tag. Für etwa eine halbe Stunde startete die Homepage der Boulevardzeitung mit einem Aufmacher, der unter der Zeile „Hier flieht der Killer“ das Video des Täters auf der Flucht zeigte. Daneben ein Horst Seehofer mit verschränkten Armen und entschlossenem Blick, der sagt: „Ein abscheuliches Verbrechen“. 

Direkt darunter ein milchig-bläulicher Schnappschuss von Angela Merkel und ihrem Mann im Sommerurlaub in Sulden. Sie sitzen auf der Terrasse eines Lokals, Merkel nimmt gerade einen kräftigen Schluck aus einem vollen Glas Rotwein. „Erste Fotos aus dem Urlaub“ steht leuchtend rot zwischen der Kanzlerin und ihrem Mann: „Merkel gönnt sich eine Auszeit“. Und wie um empörte Anrufe des Kanzleramtes parieren zu können, triefte der dazugehörige Text vor Mitgefühl für eine Regierunschefin („....hat sich die Kanzlerin ihre Ruhe redlich verdient“), die auch mal eine Pause brauche. 

Aber erst, wenn man auf die Zeile klickte. 

Screenshot Bild am 30.7.2019, 11.27 Uhr

Horst Seehofer hat in seiner Pressekonferenz nicht erwähnt, ob er in Kontakt stand mit Merkel und ob es etwas zu diesem etwaigen Kontakt zu sagen gebe. Er wurde leider auch nicht danach gefragt. Er sprach nur immer wieder im Namen der „Bundesregierung“, die Kanzlerin erwähnte er nicht. 

Angela Merkel sei der Urlaub von Herzen gegönnt. Sie muss ihn auch nicht abbrechen wie Horst Seehofer das umgehend getan hat. Aber ein Wort, ein Satz, eine Stellungnahme, wäre das zu viel verlangt? Vor jedem ihrer Sommerurlaube, so auch vor diesem, sagt sie, dass sie jederzeit erreichbar sei und „immer im Dienst“. 

Wäre das nicht ein Moment, in dem sie ihren Regierungssprecher eine Botschaft überbringen lassen könnte, müsste? Vielleicht sogar eine Videobotschaft? Eine Kamera ist schnell installiert auf den Anhöhen von Südtirol. Die Kanzlerin hält sich nicht auf einer unerreichbaren Hütte auf, die nur über Klettersteige erreichbar wäre. 

Die Methode dahinter

Dieses Schweigen der Kanzlerin dröhnt. Und ist Vorsatz. Kein Versehen. Sie hat sich in ihrer Präsenz sehr zurückgehalten nach dem fürchterlichen Attentat auf dem Berliner Breitscheidplatz kurz vor Weihnachten 2016, sie hat es jetzt wieder so gehalten. Zugleich gibt es Fälle, vor allem mit rechtsextremem und/oder antisemitischem Hintergrund, bei denen sie zu Recht und verlässlich mit einem Statement aufwartet. 

Dieses spezifische Schweigen hat System und Methode. Es hat sich zwar erwiesen, dass der Täter von Frankfurt keiner war, der im Zuge der Merkelschen Flüchtlings-Freizügigkeit zwischen Herbst 2015/2016 nach Deutschland kam. Er kam 2006 in die Schweiz und war nun offenbar auf der Flucht vor den eidgenössischen Sicherheitsbehörden. Gleichwohl weiß sie auch, dass die Synapsen in den Köpfen vieler Menschen angesichts des Vorfalls schalten und Zusammenhänge herstellen. Zumal auf den Nachrichtenseiten zeitgleich mit Frankfurt im Zuge eines Prozesses fürchterliche Details über die Gruppenvergewaltigung eines jungen Mädchens in Freiburg zu lesen sind („Sieben Männer waren auf mir“). Die Angeklagten im Breisgau sind in der großen Mehrheit Ankömmlinge jener Zeit.

Ebenfalls Schweigen aus der SPD

Bemerkenswerterweise wird diese verbale Absenz der Kanzlerin kaum thematisiert. Auch nicht von der SPD, die sich sonst derzeit auf alles stürzt, was sich zur Abgrenzung der Sozialdemokraten vom Koalitionspartner und der Kanzlerin anbietet: Zuletzt zu besichtigen bei der Nominierung Ursula von der Leyens als EU-Kommissionspräsidentin. Jetzt wieder bei der Frage einer etwaigen militärischen Beteiligung an einer europäisch geführten Seeüberwachung in der Straße von Hormus nach dem Kidnapping eines britischen Tankers durch den Iran, wie sie CDU-Fachpolitiker in Betracht zogen.

Was die SPD dabei übersieht: Dort, wo sie mit ihren innerkoalitionären Attacken ansetzt, liegt gar nicht das Lindenblatt von Angela Merkel. Es liegt an ganz anderer Stelle. An der sich Merkel nicht selbst ein Kreuz auf ihren Blazer näht – und lieber schweigt. 

Das Lindenblatt müsste die SPD schon selbst finden. 

Anzeige