Spekulationen über Grün-Rot-Gelb - Baerbock ist kein weiblicher Brandt

Am Montag zog der Historiker und FDP-Referent Sven Prietzel Parallelen zwischen der sozial-liberalen Koalition von 1969 und einem möglichen Bündnis von Grünen, Liberalen und Sozialdemokraten nach der nächsten Bundestagswahl. Hugo Müller-Vogg widerspricht diesem Vergleich.

Alle Wetter! Drei Frauen in Ampel-koalitionären Regenjacken / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Mit Annalena Baerbock haben die Grünen erstmals die Chance, ins Kanzleramt einzuziehen. In den meisten Medien wird die grüne Spitzenfrau bereits als Heilsbringerin gefeiert, die das Land von allen Übeln erlösen wird. Sven Prietzel, Historiker und Mitarbeiter der FDP-Bundestagsfraktion, sieht sogar historische Parallelen: So wie Willy Brandt 1969 mit der sozial-liberalen Koalition das neue, moderne Deutschland geschaffen habe, so könnte Baerbock zusammen mit SPD und FDP den großen Wandel einleiten.

Zweifellos gibt es Parallelen zwischen 1969 und 2021. Damals wie heute wirkt die CDU/CSU nach 20 beziehungsweise 16 Jahren an der Regierung ausgelaugt, gibt es Klagen über versäumte Reformen und eine gewisse Erstarrung. Damals wie heute sehen viele die Zeit für einen Wechsel gekommen. SPD und FDP bedienten diese Stimmung 1969 mit zwei einprägsamen Slogans: „Wir schaffen das moderne Deutschland“ und „Wir schaffen die alten Zöpfe ab“. Sie trafen die Stimmungslage einer Mehrheit. 

Damals wie heute gibt es ein zentrales Thema, bei dem die Kanzlerpartei und die Partei der Kanzlerkandidatin höchst unterschiedliche Positionen einnehmen. Damals schieden sich vor allem an der neuen Ostpolitik die Geister und die Wähler. Heute ist die Klimapolitik die „neue Ostpolitik“. Es geht um die Frage, wieviel Rücksicht auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit beim ökologischen Umbau des Landes notwendig ist, ob der Staat mit Auflagen und Verboten das Umsteuern befiehlt oder mit marktwirtschaftlichen Anreizen fördert.

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Liberale wollen das Lager wechseln 

Noch eine Übereinstimmung ist auffällig. Wie in den 1960er-Jahren gibt es in der FDP starke Kräfte, die in der CDU/CSU keineswegs (mehr) den natürlichen Koalitionspartner sehen; die das Lager wechseln wollen. Das Vorspiel zur Bildung der Regierung Brandt/Scheel hatte bereits 1966 stattgefunden, als die Freien Demokraten in Nordrhein-Westfalen mit der SPD koalierten.

Mehr als ein halbes Jahrhundert später hat FDP-Generalsekretär Volker Wissing die Weichen in Richtung einer Ampel gestellt. Kaum war er für das neue Amt nominiert, gab er schon im August letzten Jahres die folgende Parole aus: „Die CDU nach so langer Zeit abzulösen, könnte ein wichtiges Signal des Aufbruchs für unser Land sein.“ Mit anderen Worten: Fortschritt gibt’s nur mit Grünen, SPD und FDP – ohne die Union.

Robust und professionell, aber ohne Regierungserfahrung 

Bekanntlich gilt: Nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. Das trifft auch auf den Versuch zu, aus den Ereignissen von 1969 die Erwartung einer grün-rot-gelben Mehrheit am 26. September abzuleiten. Bei allem Respekt für die Professionalität und die Robustheit, mit der Baerbock sich innerparteilich gegen Robert Habeck durchgesetzt hat: Ein weiblicher Willy Brandt ist sie nicht. Ohnehin fehlt den Grünen, was die SPD 1969 vorzuweisen hatte: ein über jeden Zweifel erhabenes Personalangebot. 

Zweifellos bestanden Ende der sechziger Jahre in der Bevölkerung erhebliche Vorbehalte gegen die „Sozis“; die Mehrheit für Rot-Gelb fiel denkbar knapp aus. Aber dass die SPD regieren kann, bezweifelte niemand. Das hatte Willy Brandt als Regierender Bürgermeister der „Frontstadt“ Berlin hinreichend beweisen, ebenso als Außenminister in der Großen Koalition. Mit Karl Schiller hatte die SPD einen ebenso erfolgreichen wie eloquenten Wirtschaftsminister vorzuweisen. Der damalige Verkehrsminister und Ex-Vorsitzende der IG Bau, Georg Leber, verkörperte die engen Beziehungen zwischen Partei und Gewerkschaften. Dem scharfzüngigen Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt war ohnehin jedes Ministeramt zuzutrauen, was er bald darauf als Verteidigungsminister und später als Finanzminister bewies.

Mehr staatlicher Einfluss

Selbst wohlmeinende Kommentatoren, von denen es mehr als genug gibt, sind bisher noch nicht auf die Idee gekommen, Baerbock, Habeck, Hofreiter & Co. mit den sozialdemokratischen Schwergewichten von einst auf eine Stufe zu stellen. Die Grünen stehen für weitreichende politische und gesellschaftliche Reformen und gleichzeitig für mehr staatlichen Einfluss auf allen Gebieten – so wie 1969 die Sozialdemokraten. Wer sie wählt und zur stärksten Fraktion macht, kann keinesfalls damit rechnen, anschließend von Grün-Schwarz oder einer Ampel regiert zu werden, also von zwei linken Parteien und einer FDP.

Wer die Grünen wählt, kann auch den Weg zur einer Koalition von drei linken Parteien ebnen. Kanzlerkandidatin Baerbock hat bisher nicht ausgeschlossen, dass sie sich auch mit den Stimmen der Linkspartei zur Kanzlerin wählen lassen würde. An der grünen Basis genießt Grün-Rot-Rot ohnehin größere Sympathien als eine Ampel mit den als neoliberal verschrienen Freien Demokraten. 

Damals, 1969, waren die Liberalen aus Sicht der SPD ein willkommener Partner, heute wären sie für die Grünen allenfalls ein Mehrheitsbeschaffer. In einer Ampel könnte sich die FDP weniger als Gestalter, denn als Verhinderer von „Schlimmerem“ wiederfinden. Da passte dann das Motto: „Lieber ein bisschen regieren, als gar nicht regieren.“ Geschichte wiederholt sich meistens nicht – und 2021 ist eben nicht 1969.

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