Ampel-Vorschlag zum Wahlrecht - Auferstanden aus Reform-Ruinen

Die Regierungsparteien wollen den Bundestag verkleinern, indem Überhang- und Ausgleichsmandate wegfallen. Einfacher wird das Wahlrecht durch das „Gesprächsangebot“ der Ampelkoalition nicht. Gerechter auch nicht unbedingt. Aber hinter die Eckpunkte ihres Vorschlags sollte kein Gegenentwurf zurückfallen.

Demnächst mehr freie Plätze? Plenarsaal des Deutschen Bundestags / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Stefan Dietrich leitete bis 2011 das Ressort Innenpolitik bei der FAZ und lebt heute als Publizist in Celle

So erreichen Sie Stefan Dietrich:

Anzeige

Wunder gibt es immer wieder. Nur Träumer haben noch daran geglaubt, dass aus der Mitte des Bundestags jemals ein Wahlrechtsvorschlag kommen könnte, der die Zahl der Mandate auf das gesetzliche Minimum beschränkt und zugleich ohne eine Vergrößerung der Wahlkreise auskommt. Immerhin dürfte es das vorzeitige politische Karriere-Ende eines Großteils der gerade ins Parlament eingezogenen Inhaber von 137 Überhang- und Ausgleichsmandaten bedeuten. Auch die Urheber des jüngsten Reformvorschlags, die Obleute der Ampelkoalition in der Wahlrechtskommission, sind über ihren Schatten gesprungen. Denn vor zwei Jahren noch hatten Grüne und FDP ein ganz anderes Konzept als Stein der Weisen verkauft. Es fußte vor allem auf einer drastischen Reduzierung der Wahlkreise.

Deutscher Perfektionismus hat die verbundene Verhältnis- und Personenwahl scheinbar unlösbar verknotet. Das Parlament soll die politischen Strömungen in der Bevölkerung möglichst proportional abbilden, zugleich aber auch Bürgernähe durch Direktwahl garantieren. Die wundersame Vermehrung der Mandate kam dadurch zustande, dass Union und SPD die meisten Erststimmen auf sich vereinigten, bei den Zweitstimmen aber immer schlechter abschnitten, was ihnen Überhangmandate und den anderen Ausgleichsmandate bescherte. Diesem Problem wollen Sebastian Hartmann (SPD), Till Steffen (Grüne) und Konstantin Kuhle (FDP) damit zu Leibe rücken, dass sie nur noch so viele Wahlkreisabgeordnete zum Zuge kommen lassen, wie den einzelnen Parteien nach dem Zweitstimmenanteil zustehen.

Die Ampel-Lösung heißt „Ersatzstimme“

Die Idee ist nicht ganz neu. Sie war unter anderem auch schon im Reformvorschlag der AfD enthalten. Dabei ergab sich aber das Problem, dass manche Wahlkreise im Bundestag nicht mehr mit einem direkt gewählten Abgeordneten vertreten wären. Die Ampel-Lösung dafür heißt nun „Ersatzstimme“. Künftig hätten die Wähler nicht nur zwei, sondern drei Stimmen. Für den Fall, dass ihr Lieblingskandidat nicht genügend Stimmen erhält, sollen sie einen zweitbesten einer anderen Partei benennen. Direkt gewählt wäre dann, wer die meisten „Ersatzstimmen“ erhält.

Einfacher würde das Wahlrecht damit nicht. Gerechter auch nicht unbedingt. Aber als pragmatische Lösung eines fast unlösbaren Problems verdient der Vorschlag ernsthafte Befassung. Zwei Legislaturperioden lang stand die Wahlrechtsreform auf der Tagesordnung des Bundestags. Was wurde nicht alles getan, um sie dort verschmoren zu lassen! Obwohl den Abgeordneten der großen Koalition deutlich vor Augen stand, dass sich das Parlament mit gewaltigen Schritten dem chinesischen Volkskongress annähert, wurde verzögert, gemauert, getrickst und scheinverhandelt. So lange, bis im Auf und Ab der Pandemie das stille Begräbnis der Reform im August 2020 kaum noch registriert wurde. Es bestand in einem Koalitionsbeschluss, wonach „noch in dieser Legislaturperiode“ – na was wohl? – „eine Kommission eingesetzt wird“, welche sich mit Fragen des Wahlalters und der gleichberechtigten Repräsentanz von Frauen und Männern befassen werde. Als Gipfel der Selbstlosigkeit verkaufte die Union, dass sie die Zahl der Wahlkreise bis 2025 von 299 auf 280 reduzieren wolle.

Geschlechtergerechtigkeit und Senkung des Wahlalters gehören natürlich auch wieder zum Auftrag

Das ist Schnee von gestern. Zwei der drei Parteien, die aus der Opposition heraus die Verkleinerung des Bundestags vorantreiben wollten, Grüne und FDP, gehören nun zur Mehrheit. Angeführt wird die Koalition aber von der SPD, die sich in der Vergangenheit eher als Bremser betätigt hat. Im Koalitionsvertrag hat sich die Ampel das ehrgeizige Ziel gesetzt, innerhalb des ersten Jahres das Wahlrecht zu überarbeiten. „Der Bundestag muss effektiv in Richtung der gesetzlichen Regelgröße verkleinert werden.“ Geschlechtergerechtigkeit und Senkung des Wahlalters gehören natürlich auch wieder zum Auftrag. Seit der Neukonstituierung der Kommission Anfang April sogar vorrangig. Gegen die Stimmen der Union beschlossen die Mitglieder, sich zunächst einmal mit dem Wahlalter 16 zu beschäftigen. War das der Grund, dass die Obleute der Ampelfraktionen jetzt an der Kommission vorbeistürmten mit ihrem Vorschlag zum Kern der Debatte?

Die CDU reagierte sogleich verschnupft: „Ganz schlechter Stil“ sei es, so der Abgeordnete Thorsten Frei, den Beratungen der Kommission vorzugreifen. Und aus der CSU kam sogleich der Einwand, der Ampel-Vorschlag entwerte das Direktmandat. Was immer gegen das „Gesprächsangebot“ der drei Obleute der Ampel-Koalition in der Wahlrechtskommission vorgebracht werden mag: Hinter die Eckpunkte ihres Papiers – Verkleinerung des Bundestags auf seine gesetzliche Normgröße und Beibehaltung der Wahlkreisgrößen – wird kein Gegenvorschlag zurückfallen dürfen.

Anzeige