Ampel-Regierung - Falsche Politik mit dem falschen Personal wegen falscher Orientierung

Bundeskanzler Olaf Scholz fehlt, was seine Vorgänger Brandt und Schmidt unter anderem auszeichnete: Die Fähigkeit des Ausgleichs widersprüchlicher Interessen, in Verbindung mit einem Gefühl für die Bedürfnisse der einfachen Bevölkerung. Stattdessen blamiert sich die Ampel-Regierung unter seiner Führung mit ihrem Personal und passt sich an einen Zeitgeist an, dessen Kernelement die Verachtung der Mehrheitsgesellschaft ist. Das Ergebnis: eine hochvolatile Lage.

Hat sich von seiner Juso-Stamokap-Sozialisation nie erholt: Olaf Scholz (m.) mit Robert Habeck (l.) und Christian Lindner / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Olaf Scholz in der Defensive, Friedrich Merz obenauf und dazwischen eine FDP in neuerlicher Sorge um ihr parlamentarisches Überleben – so eine erste Bilanz des Wahlmonats Mai. Manche Beobachter sehen die Liberalen bereits panisch noch vor Ablauf des ersten Ampel-Jahres zur Union wechseln, weil ihr diese rot-grün-gelbe Koalition offensichtlich nicht gut tut. Doch wirklich realistisch ist dieses Szenario auch nach drei krachend verlorenen Plebisziten nicht. Umso weniger, als Sozialdemokraten und Liberale bei näherer Betrachtung an denselben Problemen leiden: Falsche Politik mit dem falschen Personal wegen falscher Orientierung.

Olaf Scholz und Christian Lindner laufen einem woken Zeitgeist hinterher, der von ihrer Stammkundschaft abgelehnt wird und ihren Parteien deshalb erheblich schadet. Je älter die Wähler (FDP) und je geringer deren Einkommen (SPD), desto krasser die Abwendung. Lediglich bei den Unter-30-Jährigen konnten die Freidemokraten ihre Anteile bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen einigermaßen halten. Darüber ging es steil bergab, bis sogar zu einer Massenflucht unter den Pensionären. Die SPD brach ein, weil ihre einstigen Zielgruppen erst gar nicht zur Wahl gingen, sondern sie regelrecht boykottierten; weil sie, die kleinen Leute, von dieser Politik insgesamt nichts mehr erwarten.  

Erpressungsversuche radikaler Minderheiten

Mit Landespolitik alleine kann die Entwicklung nicht mehr erklärt werden. Vielmehr fehlt diesem Kanzler, was seine Vorgänger Brandt und Schmidt in den 13 Jahren nach 1969 unter anderem auszeichnete: Die Fähigkeit des Ausgleichs widersprüchlicher Interessen, in Verbindung mit einem Gefühl für die Bedürfnisse der einfachen Bevölkerung. Sozialliberale Spitzenleute waren sich damals – im großen und ganzen – einig in der Bewahrung innerer und äußerer Sicherheit. Und sie reagierten – alles in allem – geschlossen auf Erpressungsversuche radikaler Minderheiten. Kaufkraftverluste wie etwa 1974 gaben Anlass zu engagierten Debatten und wurden schließlich als Gefahr für den Zusammenhalt der Gesellschaft identifiziert und bekämpft. Legendär Helmut Schmidts Spruch von 1972: „Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslose.“ Woraufhin er, dann als Kanzler, zwei Jahre später beides bekam. Durchsetzen konnte er sich mit diesem Mantra auf Dauer nicht.
 

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Gesellschaftspolitische Experimente, wie sie SPD und Grüne heute gleich en bloc realisieren wollen – ohne dabei von der FDP vernehmbar gebremst werden –, stießen zu sozialliberalen Zeiten noch auf eine gesunde Skepsis. Mindestens aber betrachtete man sie als stark erklärungsbedürftig und verlangte breiteste Mehrheiten, die es dann in der Regel aber nicht gab. Für eine grundlegende Reform des Paragrafen 218, ein historischer Kompromiss, der nun abgewickelt werden soll, weil die Gelegenheit günstig erscheint – die Abschaffung des Werbeverbots für Abtreibungen (Paragraf 219a) ist nur ein Zwischenschritt und Mittel zum Zweck – brauchte es sogar erst eine ostdeutsche Revolution plus Wiedervereinigung.      

Ende jeder Glaubwürdigkeit

Mit dieser klugen Vorsicht ist es im Jahr 2022 vorbei. Dem amtierenden Bundeskanzler fehlt hier schlicht ein Gen: Scholz hat sich von seiner Juso-Stamokap-Sozialisation nie ernsthaft emanzipieren können; seine spätestens mit der Vereidigung am 8. Dezember fällige Wandlung zum Kanzler aller Deutschen fand, ungeachtet seiner Zeitenwende-Rhetorik, bisher nicht statt. Ob er sie jemals hinbekommt, ist fraglich. Zumal er die Notwendigkeit gar nicht zu erkennen scheint.  

Eine Wahlbeteiligung von inzwischen nur noch 55 Prozent in der Arbeiterhochburg Nordrhein-Westfalen ist ein Ergebnis dieser gegen die Mehrheit gerichteten Steckenpferd-Politik, die nun sogar einen höchst feindselig agitierenden Transgender-Aktivisten zum Staatssekretär beförderte – ein stiller, aber auf Dauer für unsere parlamentarische Demokratie hochgefährlicher Protest. Die beiden nächsten Höhepunkte der großen gesellschaftlichen „Transformation“ – die Freigabe von Cannabis für Genusszwecke und freie Wahl des Geschlechts ab 14, wofür ein kurzer Besuch beim Standesamt reichen soll – sind bereits in der Pipeline. Weder die FDP noch die verbliebenen konservativen Sozis im Bundestag, die „Seeheimer“, scheinen mit diesen „Projekten“ ein Problem zu haben. Nur wird ihnen deren Umsetzung vollends jede Glaubwürdigkeit nehmen.

Nichts dringender als eine klare Birne

„Mehr Vernunft wagen“ böte sich als Motto somit für Sozial- wie für Freidemokraten an. Wer die Welt verbessern will, braucht nichts dringender als eine klare Birne. Alkohol am Steuer und im öffentlichen Raum nun auch noch durch die Legalisierung von Cannabis zu ergänzen, ist als Plan an Idiotie kaum zu übertreffen. Schon Pubertierende zu nicht rückgängig zu machenden Geschlechtsumwandlungen („Transitionen“) zu ermutigen, ist erst recht ein Verbrechen.

SPD wie FDP sollten sich gegen die Grünen zusammenrotten und dem Menschenverstand eine neue Chance geben. Ihre jüngsten Wahlniederlagen gehen zu einem guten Teil auf dieselben Fehler zurück: Anpassung an einen Zeitgeist und Hörigkeit gegenüber Partikularinteressen, deren Kernelemente die Verachtung der Mehrheitsgesellschaft sind. Mit einer Politik der Mitte hat all das schon lange nichts mehr zu tun.

Antifa-induzierte Wahrnehmungsstörungen

Eine Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), die sich allen Ernstes anmaßt, den Begriff „Heimat“ umdeuten zu wollen, wäre unter gestandenen Genossen noch vor nicht allzulanger Zeit nicht einmal in die Nähe eines Ministeramtes gekommen, sondern eine fürsorgliche Therapie empfohlen worden. Alleine der Gedanke, die Inhaberin eines Verfassungsressorts habe das Recht einer „Umdeutung“, ist ja schon gruselig genug. Welches Problem hat eigentlich diese Frau mit Heimat, auch ihrer Heimat?

Schwalbach am Taunus, wo sie aufwuchs und bis heute lebt, eine Region bundesweit an der Spitze beim verfügbaren Einkommen, ist vielleicht keine perfekte Idylle. Aber als Ort zum Leben kann man es überall auf der Welt und sogar in Deutschland mühelos deutlich schlechter treffen. Da müssen – wie schon in der Beurteilung links-, rechts- und islamistischer Gewalt – wiederum womöglich Antifa-induzierte Wahrnehmungsstörungen im Spiel sein, was gerade für eine Bundesinnenministerin keine gute Voraussetzung ist. Sozial und demokratisch ist das alles jedenfalls nicht.

Furcht vor Neuwahlen

Unterstellt, SPD und FDP, Scholz und Lindner verbinde nach einer aufrichtigen Problemanalyse mehr, als sie selbst ahnen, beide aber seien unfähig, es zu erkennen und die richtigen Konsequenzen zu ziehen: Was bedeutete dies für die aktuellen Kräfteverhältnisse in der Bundesregierung und im Bundestag? Wackelt die Ampel? Muss Friedrich Merz nur noch den richtigen Moment abpassen, um sich in einem Konstruktiven Misstrauensvotum in geheimer Wahl zum zehnten Bundeskanzler wählen zu lassen, vielleicht sogar noch vor der Sommerpause?

Antwort: Eher nein. Für einen solchen Seitenwechsel fehlt es im Moment an mehreren Voraussetzungen. Beide Männer müssen derzeit Neuwahlen fürchten, also jede Regierungskrise schon deswegen unbedingt vermeiden, was persönliche Kurskorrekturen wahrscheinlicher machen sollte. Die SPD könnte auf Platz 3 hinter Union und Grüne zurückfallen, die FDP erneut aus dem Bundestag fliegen. Das diszipliniert schon einmal recht wirksam. Noch weniger haben die Grünen ein Interesse an einem Kanzlerwechsel, alleine schon, weil ihnen Scholz habituell unverändert viel mehr liegt als Merz.

Energiemangel, Massenverarmung, Rekordverschuldung

So viel Freiheiten zur Selbstdarstellung und Politikgestaltung wie in diesen Monaten werden Robert Habeck und Annalena Baerbock nicht wieder bekommen – und ein Bundeskanzler Merz (CDU) wäre sicherlich nicht so töricht, ihnen erneut die beiden aktuell wichtigsten Ressorts für Äußeres, Wirtschaft und Klima zu überlassen. Der Krieg gegen die Ukraine und damit der Konflikt um die heimliche Sabotage des Kanzlers und seiner Verteidigungsministerin, was Waffenlieferungen angeht, wird in der öffentlichen Wahrnehmung voraussichtlich an Bedeutung verlieren, so dass auch dieses Motiv für einen eventuellen Koalitionsbruch jedenfalls nicht stärker werden dürfte. Und ein Misstrauensvotum, das für den Urheber schief geht, aus welchen Gründen auch immer – Rainer Barzel lässt grüssen – hätte gerade für Merz final karrieretötenden Charakter. Dieses Risiko wird er nur auf der Grundlage klarer Absprachen und Zusagen eingehen. Nichts davon ist im Moment erkennbar.

 

Aber die Lage ist hochvolatil. Bereits im Herbst könnten die Karten im Regierungsviertel neu gemischt werden. Sollte Habeck einen Weiterbetrieb der verbliebenen drei Atomkraftwerke durch Nichtstun vereiteln – und exakt danach sieht es aus, denn maßgebliche Fristen laufen bereits Ende Mai ab  – und damit einen flächendeckenden Stromausfall provozieren und verantworten, wird er innerhalb von 48 Stunden vom genial kommunizierenden Sunny Boy zum Trottel der Nation mutieren. Wie überhaupt alle Zutaten für einen perfekten Sturm – Inflation, Energiemangel, Massenverarmung, Rekordverschuldung, Konjunktureinbruch, Euro-Krise – längst bereit liegen und höchste Staatskunst erfordern werden, die man einem Olaf Scholz aber nicht zutrauen mag und Christian Lindner mit seinem derzeitigen Amtsverständnis ebenfalls nicht.

Lobby-Interessen und Befindlichkeiten

Einer solchen historischen Situation, wie sie sich bereits abzeichnet, wäre das deutsche Koalitionsmodell, das sich unter anderem einbildet, auch Minderbegabte in beliebiger Zahl in höchste Ämter zu bringen, um sie dort ungerührt von den Krisen der Welt ihre persönlichen Hobbys, Verhaltensauffälligkeiten, Lobby-Interessen und Befindlichkeiten pflegen zu lassen, nicht gewachsen. Dessen Problemlösungskompetenz reicht für existentielle Krisen voraussichtlich nicht aus, nicht jedenfalls mit hierfür nicht geeigneten Regierungschefs.

Vielmehr wird dann schnell die Frage aufkommen, ob ein Expertenkabinett, etwa nach italienischem Vorbild, unter Führung von Friedrich Merz mit je nach Sachfrage wechselnden Mehrheiten zu installieren wäre, das auf Partikularinteressen keine Rücksicht mehr nimmt, sondern nur noch das große Ganze im Blick hat, sprich: Eine Legitimitätskrise der deutschen Demokratie abzuwenden. Klingt abenteuerlich? Stimmt. Aber: Sag niemals nie – wenigstens das sollte uns nach den Disruptionen der letzten zweieinhalb Jahre klar geworden sein.

 

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