AfD und Verfassungsschutz - Der Schuss geht nach hinten los

Der Verfassungsschutz will die AfD vom „Prüffall“ zum „Verdachtsfall“ hochstufen – und wird prompt von einem Gericht zurückgepfiffen. Dieser Fall macht deutlich: Der deutsche Geheimdienst hat die Sache komplett vermasselt. Das Bundesamt gehört in die Hände des Bundesverfassungsgerichts.

Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang / picture alliance
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Die repräsentative Demokratie lebt von gewichtigen Voraussetzungen. Werden die politischen Entscheidungen nicht vom eigentlichen Souverän, dem Wahlvolk, sondern seinen Repräsentanten getroffen, muss die Freiheitsgarantie aller Bürger durch besondere institutionelle Sicherungen nahtlos auf die Repräsentanten übertragen werden.

Als Transmissionsriemen zwischen Bürgern und Abgeordneten treten dabei die politischen Parteien in Erscheinung. Sie sind das Bindeglied zwischen dem Volkswillen und dem Staatshandeln. Und so, wie sich jeder Bürger seine eigene Meinung bilden und seine Wahlstimme frei und ungehindert abgeben kann, muss auch der Meinungswettbewerb der Parteien stets in freier Form erfolgen, denn sie handeln schließlich in Stellvertretung ihrer Wähler. Nur, wenn dies gesichert ist, kann die Demokratie mit vollen Händen aus ihren Legitimationsquellen schöpfen und ein wirklich repräsentatives Parlament erzeugen. Ihre Grundlagen finden diese Prinzipien in Artikel 21 Absatz 1 des Grundgesetzes.

Das ist aber zunächst nur die Theorie, denn in der Demokratie als einer auf Mehrheitsentscheidungen gründenden Herrschaftsform schlummert eine Paradoxie: Schließlich könnte sich eine Mehrheit auch dazu entschließen, die Demokratie abzuschaffen – und das wäre dann formal ganz demokratisch. Jede parlamentarische Demokratie, die den politischen Suizid verhindern will, kommt daher nicht ohne Eingriffe in ihren Fundamentalwert der Freiheit aus. Wir nennen das „Wehrhaftigkeit“.

Riskante Angelegenheit

Allerdings ist das eine ziemlich vertrackte Angelegenheit und hochriskant: Wenn echte Demokratie den freien Meinungswettstreit voraussetzt, droht mit jedem Eingriff in diese Freiheit eine Selbstbeschädigung der Demokratie. Und diese Gefahr ist aus verständlichen Gründen gar nicht so klein. Immerhin wird der Staat letztlich von Parteien und damit Interessengruppen geführt. Die Versuchung, die Machtinstrumente des Staates gegen unliebsame politische Gegner einzusetzen, ist gar nicht so klein, wie man hoffen sollte.

Aus gutem Grund sieht daher das Grundgesetz ebenfalls in Artikel 21 vor, dass über die Verfassungswidrigkeit einer politischen Partei nur ein einziger zu entscheiden hat – nämlich das Bundesverfassungsgericht. Keinem Innenminister, keiner Bundeskanzlerin und keinem Parlament kommt dieses Recht zu. Das letzte Wort in Sachen Demokratiesicherung ist damit dem Parteienstreit entzogen.

Für Mandatsträger wie Minister kommt es sogar noch ein bisschen dicker: Da sie letztlich Repräsentanten des Staates und nicht ihrer Parteien sind, haben sie sich in diesen Angelegenheiten in strikter parteipolitischer Neutralität zu üben. Daran musste das Verwaltungsgericht Köln den nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Reul (CDU) unlängst in einem Urteil erinnern. Er hatte die örtliche AfD öffentlich zum „Prüffall“ für den Verfassungsschutz erklärt. Das Kölner Gericht schrieb ihm daraufhin ins Stammbuch, „rechtswidrig“ gehandelt zu haben und erinnerte ihn an seine „Neutralitätspflicht“. Sein Vorgehen sei geeignet gewesen, das Ansehen der AfD ungerechtfertigt zu beschädigen und stelle insofern einen Eingriff in das Parteiengrundrecht dar.

Neutralitätspflicht des Staates

Die Sonderstellung des Bundesverfassungsgerichtes und die gleichzeitige Neutralitätspflicht des Staates rufen allerdings ein ganz handfestes praktisches Problem hervor: Für die Demokratie könnte es nämlich längst zu spät sein, bis ein Verfassungsgericht seine Entscheidung getroffen hat. Und woher sollen Antragsteller oder die obersten Richter eigentlich die nötigen Sachinformationen gewinnen, um rechtzeitig, also weit vor dem Sturz der Demokratie, den Anführer einer Revolte „auszuschalten“?

Genau an dieser Stelle kommt das gute alte Bundesamt für Verfassungsschutz ins Spiel. In gewisser Hinsicht blicken wir mit ihm ins Zentrum der Paradoxie der Demokratie. Der Inlands-Nachrichtendienst ist eine unvermeidbare, aber verfassungspraktisch wie -theoretisch äußerst labile Konstruktion. Er kann durch seine Arbeit die Demokratie zugleich schützen wie massiv beschädigen. Seine Arbeit gleicht einem Ritt auf der Rasierklinge staatspolitischer Freiheit.

Einem solchen Ritt dürfen die Bundesdeutschen seit einigen Wochen live und in Farbe zusehen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz will die AfD von einem „Prüfffall“ zu einem „Verdachtsfall“ hochstufen. In einem rund 1000 Seiten umfassenden Dossier will es aus öffentlich zugänglichen Quellen ausreichende Belege dafür gefunden haben, dass gemäß Verfassungsschutzgesetz „tatsächliche Anhaltspunkte“ für extremistische, verfassungswidrige Bestrebungen vorliegen. Mit der Hochstufung zum „Verdachtsfall“ wäre es dem Verfassungsschutz möglich, einen Gang höher zu schalten und die Partei mit geheimdienstlichen Mitteln zu überwachen.

Die AfD freilich ist dagegen sofort vor Gericht gezogen. Das Bundesamt sagte zu, bis zu einer Entscheidung die AfD nicht öffentlich als „Verdachtsfall“ einzustufen und vorerst auf die Anwendung geheimdienstlicher Mittel zu verzichten. Warum das Gericht darauf drängen musste, ist nicht schwer zu verstehen: Eine solche Einstufung führt allein durch die öffentliche Berichterstattung zu einer Diskreditierung der Partei und stellt somit einen faktischen Eingriff in ihr Recht auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb dar. Das ist keine Kleinigkeit, es geht hier um Verfassungsrechte!

Komplett vermasselt

Aber es dauerte nicht lange und der deutsche Geheimdienst hatte es komplett vermasselt. Sein oberster Chef, Thomas Haldenwang, stufte die AfD intern als „Verdachtsfall“ ein und informierte hierüber seine Länderkollegen in einer Telefonschaltkonferenz. Schwer vorstellbar, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) in diesen Vorgang nicht eingebunden war. Es dauerte nur Stunden, bis dies – offenbar aus dem Verfassungsschutz selbst – an die Öffentlichkeit „durchgestochen“ wurde. Es wäre ja fast witzig, dass ausgerechnet ein Geheimdienst an Inkontinenz leidet. Wenn es nicht so traurig wäre! Sogar die Erwiderungsschrift der Antragsteller soll Journalisten zugänglich gemacht worden sein.

Dem Verwaltungsgericht Köln riss prompt der Geduldsfaden. In ungewöhnlicher Schärfe stellte es am 5. März 2021 fest, dass durch das Handeln des Bundesamtes und damit des Staates die „Vertrauensgrundlage“ für die getroffenen Verabredungen zerstört sei. Es untersagte dem Bundesamt für Verfassungsschutz daraufhin, die AfD öffentlich als „Verdachtsfall“ einzustufen und gegen die Partei nachrichtendienstliche Mittel in Anwendung zu bringen. Alles andere sei ein unzulässiger „Eingriff in die Chancengleichheit der politischen Parteien“.

Für die AfD war dieser Vorgang freilich ein Freudenfest. Ihr Fraktionsvorsitzender Alexander Gauland fragte denn auch süffisant: „Wer schützt eigentlich die Demokratie und die Verfassung vor dem Verfassungsschutz?“ Die Partei hatte ohnehin von Anfang an gemutmaßt, dass es kein Zufall sei, dass der Bund ausgerechnet im Vorfeld mehrerer Landtagswahlen sowie der Bundestagswahl die Kandare anziehe. Es handele sich um nichts anderes als die demokratiefeindliche Instrumentalisierung des Staates gegen unliebsame politische Gegner.

Wie berechtigt die Einstufung der AfD als „Verdachtsfall“ wäre, ist ohne Möglichkeit der Einsichtnahme in die Akten schwer einzuschätzen. Und trotzdem kann man das Vorgehen der Bundesregierung für eine ziemliche ungeschickte Angelegenheit halten. Freilich finden sich in den Reihen der AfD ausreichend irrlichternde Gestalten, und durch die technologischen Möglichkeiten des Internets hat die politische Logorrhoe ungeahnte Ausmaße angenommen. In diesem Meer an „Beweismaterial“ können die wissenschaftlichen Referenten des Bundesamtes ihre Schleppnetze mühelos versenken und allerhand Beifang an Bord hieven. Aber eine Ansammlung ungehobelter Dummschwätzerei begründet noch keinen Extremismus. Politische Dummheit ist nicht verfassungswidrig.

Eindruck bestätigt

Es steht daher zu befürchten, dass der gesamte Vorgang nach hinten losgehen wird: Ein substanzieller Teil der AfD-Wähler wird, als Anhänger einer möglicherweise extremistischen Partei beschimpft, schon aus Gründen der Selbstachtung anschließend nicht jene wählen, die ihn beschimpft haben, sondern der AfD die Treue halten. Und der Staat könnte am Ende so dastehen, wie die AfD ihn seit Jahren karikiert: als ein von den etablierten Parteien eroberter „Leviathan“, der seine Waffen unter Verletzung der Neutralitätspflicht gegen die politische Konkurrenz richtet. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat den ersten Akt in diesem Drama bereits erfolgreich zur Aufführung gebracht.

Dabei wäre die Lösung des Problems ganz einfach. Neutralitätsgebot des Staates hin, Neutralitätsgebot her: Auch Minister und Beamte sind nur Menschen und Erstere für die Beförderung Letzterer zuständig. Es ist nicht schön, aber wahr, dass angesichts dieser Abhängigkeiten die Beschädigung der Neutralitätspflicht des Staates durch parteipolitische Lenkung eintreten kann. Es ist daher eine Fehlkonstruktion unserer Verfassung, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz, zumindest soweit Artikel 21 des Grundgesetzes berührt ist, überhaupt in der Hand der Exekutive liegt.

Wenn allein das Bundesverfassungsgericht über die Verfassungswidrigkeit einer Partei zu entscheiden hat, sollten ihm auch alle Vorstufen zum Eingriff in die Chancengleichheit der Parteien obliegen. Nur so ließe sich ein echter und freier Wettbewerb der politischen Meinungen garantieren und ein parteipolitisch gelenkter Missbrauch staatlicher Macht ausschließen. Macht abzugeben kann die Demokratie manchmal auch stärken.

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