Gründungsparteitag des Bündnis Sahra Wagenknecht - Die anständige Alternative?

Das Bündnis Sahra Wagenknecht zeigt sich auf dem Gründungsparteitag in Berlin als straff organisierte neue Heimat des Linkspopulismus.

Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine beim Gründungsparteitag des „Bündnis Sahra Wagenknecht - für Vernunft und Gerechtigkeit“, 27.01.2024 / dpa
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Jakob Ranke ist Volontär der Wochenzeitung Die Tagespost und lebt in Würzburg. Derzeit absolviert er eine Redaktions-Hospitanz bei Cicero.

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Vor dem Ostberliner „Kosmos“ in der Karl-Marx-Allee hat sich eine Schlange gebildet. Etwa 380 der 450 Auserwählten, die sich Mitglieder des „Bündnis Sahra Wagenknecht – für Vernunft und Gerechtigkeit“ nennen dürfen, warten am Samstagmorgen darauf, in die große Halle des ehemaligen Kinos gelassen zu werden. An der Seite hat sich eine Handvoll Demonstranten hinter einem „Free Assange“-Banner versammelt. „Aber da sind wir doch dafür“ raunt ein älterer Herr mit sächsischem Dialekt seinem Nachbar zu. Dass affirmative Demonstrationen gerade en vogue sind, ist anscheinend an ihm vorbeigegangen. 

Die junge Partei, erst Anfang Januar gegründet, trifft sich an diesem Wochenende zu einem ersten Parteitag. Zu beschließen gibt es die Erweiterung des Parteivorstandes; bei der anschließenden Europawahlversammlung sollen die designierten Kandidaten für die Europawahl bestätigt werden. Der Zeitplan ist eng getaktet: An einem einzigen Tag soll so vollbracht werden, wozu jüngst die AfD zwei Wochenenden benötigte. Nicht zu Unrecht eilt der Neugründung der Ruf voraus, Fehler älterer Parteigründungen zu vermeiden. Man will nicht zu schnell wachsen Karrieristen und Querulanten sollen draußen bleiben. Und setzt dabei auf straffe Organisation von oben, um unangenehme Überraschungen zu vermeiden. 

Im großen Saal des Kinos beginnt der Parteitag pünktlich um 10 Uhr. Daniela Dahn, Publizistin und Mitgründerin der DDR-Reformpartei „Demokratischer Aufbruch“, verbreitet als externe Gewährsfrau für aufrechten Antifaschismus in der ersten Rede wohlige Ostalgie. Nicht zufällig sei dieser Gründungsparteitag auch Holocaust-Gedenktag; unmissverständlich gehe von ihm die Botschaft des Antirassismus und des Antifaschismus aus. Zu „ewigem Dank“, führt Dahn aus, sei man Russland verpflichtet, das – „nicht die Alliierten!“ – Ausschwitz befreit habe. Und fragt: Der Kapitalismus, „bringt er abermals das hervor, was schon einmal ins Verderben geführt hatte?“ Jedenfalls, so Dahn frei nach Brecht, sei der Schoß „fruchtbar immer noch“. Und verweist auf jüngst publik gewordene Beratungen „faschistoider“ Hinterzimmer.

 

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Nach Dahn spricht auch eine ehemalige stellvertretende Bürgermeisterin der polnischen Kommune, in der Auschwitz liegt, ein paar mahnende Worte. Die Anwesenden erheben sich für eine feierliche Schweigeminute. Die Mitglieder sind mit dem Auftakt erkennbar zufrieden: Linke-Chefin Janine Wissler habe ein Interview gegeben, in dem sie die neue Konkurrenz als „rechtsoffen“ bezeichnet habe, erzählt einer. Gelächter. „Dahn war spitze! Damit haben wir das abgeräumt“.

Nach dem beinahe andächtigen Auftakt beginnt das Schaulaufen des Parteivorstands. Die Kandidaten, die zum Vorstand hinzugewählt werden sollen, haben keine Gegenkandidaten, Kampfabstimmungen bleiben genauso aus wie etwa Anträge zur Tagesordnung. Die Co-Parteivorsitzende Amira Mohamed Ali bringt zum ersten Mal etwas Bierzeltstimmung in die Halle. Man komme aus der Breite der Gesellschaft, wolle kein Teil der „abgehobenen selbstgerechten Politikblase“ sein. „Völlig losgelöst“ sei die Ampelregierung, sagt Mohamed Ali, und erinnert zum ersten mal an Ricarda Lang. Die Grünen-Vorsitzende hatte kürzlich in einer Talkshow vermutet, die Durchschnittsrente in Deutschland betrage 2000 Euro – und lag damit deutlich zu hoch. „Wie weit entfernt vom Alltag der Menschen kann man eigentlich sein?“ 

„Eine offene Debatte ist nicht mehr möglich!“

Nicht nur sei die Regierungspolitik Mohamed Ali verweist auf die miese Wirtschaftsentwicklung die „dümmste“ in Europa. Auch das soziale Klima beunruhigt die ehemalige Linken-Politikerin. „Eine offene Debatte ist in diesem Klima der angeblichen politischen Korrektheit nicht mehr möglich!“ Und wer Bauern- und Friedensdemos als rechts frame, stärke damit nur Rechtsextremisten.

Nach dem routinierten Auftritt der Vorsitzenden geben die übrigen Vorstandsmitglieder einen Ausblick auf die Breite, die das Bündnis abbilden will. Shervin Haghsheno, Wirtschaftswissenschaftler, Ingenieur und Politik-Neuling steht erkennbar für wirtschaftliche „Vernunft“, will sich für eine Kultur des kontroversen, aber respektvollen Streitens einsetzen. Ralph Suikat, Unternehmer aus Baden-Württemberg, nimmt als erster das Wort „Freiheit“ in den Mund. 

Dann kommt Friederike Benda, 36-Jährige Berliner Ex-Linke-Politikerin. Sie ist sich nicht nur sicher, dass der Ukraine-Krieg hätte verhindert oder längst beendet werden können, auch für die „arbeitende Mitte“ verspricht sie sich einzusetzen: Geschont würden doch immer nur „die Superreichen und Megakonzerne“. 

Generalsekretär Christian Leye befindet, an der Spitze der Gesellschaft gebe es „Geld wie Heu“, während in der Politik anscheinend für nichts Geld da sei, „nur für den Krieg.“ Der AfD wirft er unzureichende Oppositionspolitik vor: Immer wenn es ums Geld gehe, stehe sie an der Seite der Regierung, habe zum Beispiel nicht für die Erhöhung des Mindestlohns gestimmt: „Die sind das System! Aber in undemokratisch und gemein“. 

Mindestbesteuerung für Multis

Fabio De Masi, Europa-Spitzenkandidat und prominentes Zugpferd des BSW, wirbt für eine Mindestbesteuerung gegen „Big-Tech“ auf EU-Ebene, will die „Daumenschrauben anziehen gegen diese großen Multis“. Gleichzeitig soll die EU weniger („ist mehr“) in Kommunen und, vollends deutlich wird dieser Punkt allerdings bei keinem der Redner, wohl auch weniger in die nationale Ebene eingreifen. Vor allem dann, wenn es um die Umsetzung eher marktliberaler Richtlinien geht. 

Schließlich ist die Vorstellungsrunde beendet. Sahra Wagenknecht betritt die Bühne, die Parteimitglieder spenden schon vor dem ersten Wort stehende Ovationen. Die Rede wird der erwartete Rundumschlag, aber auch die große Politanalyse. Man spüre, dass etwas am kippen sei. Was komme nach der derzeitigen „Politik der kleinen Kompromisse“ und der „großen Ignoranz“? Die Katastrophe? Das hänge nun auch vom Bündnis ab. 

Die Heterogenität der neuen Partei aus Altlinken und smarten Streitern für die „Vernunft“ verkauft Wagenknecht, die sich zweifellos der abzusehenden Flügelkämpfe vor allem auf wirtschaftspolitischem Gebiet bewusst ist, als Stärke. Die Unterschiedlichkeit müsse man „als Gewinn begreifen“ – und im pfleglichen Umgang miteinander produktiv werden lassen. „Wir sind keine Linke 2.0“ sagt Wagenknecht. Es klingt fast flehentlich. 

Dann folgt die Abrechnung mit der etablierten Politik, vor allem die Grünen bekommen ihr Fett weg. Ricarda Lang? Ein „Sinnbild der Abgehobenheit“, genau wie „Marie-Agnes Strack-Rheinmetall“ oder der ehemalige „Blackrock-Lobbyist“ Friedrich Merz. Die guten Umfragewerte der AfD seien nicht erstaunlich. Egal ob in der Corona-Pandemie, bei der Sorge um Parallelgesellschaften oder den Bauernprotesten: „Nachdem man den Leuten jahrelang eingehämmert hat, das alles Vernünftige rechts sei, ja, dann wundert man sich, wenn am Ende eine tatsächlich rechte Partei, eine Partei, die Rechtsextremisten und Nazis in ihren Reihen hat, wenn die am Ende aus so einer Debatte als Sieger hervorgeht“. 

Mit Lafontaine ins sozialdemokratische Paradies

Was Wagenknecht vorschlägt, klingt nach sozialdemokratischem Paradies. „Wohlstand für alle“, mit diesem Programm sei die Bundesrepublik einst gestartet, und dem gelte es wieder nachzueifern. Mindestlohn, billige Energie aus Russland und Frieden mit Russland, Staatsinterventionismus bei „existenziellen“ Bedürfnissen. Dazu eine maßvolle, nicht näher spezifizierte Wende in der Migrationspolitik und die Kampfansage an moralistische Monopolisten politischer Korrektheit. 

Zwischen den Reden wird abgestimmt. „Einstimmig, vielen Dank, so kann’s weitergehen“, lobt der Versammlungsleiter die Runde. Und es geht so weiter. Die versammelten Mitglieder mögen sich wie Komplizen eines Volksaufstandes von links fühlen. Quertreiber, die der Führung Knüppel zwischen die Beine werfen, hat man aber erfolgreich außen vor gehalten. Nur ein Ergebnis der Europawahlabstimmung wirft Fragen auf: ohne Gegenkandidaten erreicht der auf Platz zwei gelistete ehemalige SPD-Oberbürgermeister von Düsseldorf, Thomas Geisel, nur 66 Prozent Zustimmung. „Die wenigsten kennen mich nicht“, kommentiert Geisel später mit leiser Ironie.

Als sich der Tag dem Ende zuneigt, fasst Oskar Lafontaine, der seine Mitgliedschaft erst wenige Tage zuvor publik gemacht hatte, nochmal zusammen. Es gebe eine echte Lücke im Parteiensystem, und zwar links. SPD und Grüne jedenfalls seien keine linken Parteien mehr. Denn niemand sonst trete für gute Löhne und höhere Renten ein. Ob er zurück in die 80er Jahre wolle? Nun, Gutes gelte es zu bewahren. „Ich möchte zum Beispiel unsere Sprache bewahren, weil ich der Meinung bin, dass eine linke Partei die Sprache des Volkes sprechen muss“ Und tatsächlich werbe er für billigere Energie aus Russland und die Rücknahme von Sozialkürzungen. Das verlange letztlich die Menschenwürde. Auch die Demokratie hält Lafontaine hoch: Die Interessen der Mehrheit setzten sich nicht mehr durch. Dem gelte es Abhilfe zu verschaffen. 

Wichtigster Kritikpunkt, so scheint es, ist Lafontaine der Krieg in der Ukraine. „Alle sind für Krieg und Militarisierung!“ Wenn der Holocaust bedeute, dass Deutschland für das Existenzrecht Israels eintreten müsse, dann verpflichte er auch, jetzt für das Lebensrecht der Palästinenser einzutreten. Was die AfD vernachlässige, der Lafontaine ihre projüdische Haltung noch zum Vorwurf macht. Applaus. Und angesichts des Todes von 27 Millionen Sowjetbürgern dürften nie wieder durch deutsche Waffen Russen zu Schaden kommen. Standing Ovations. Der sozialdemokratische Altmeister tritt von der Bühne. Weil noch Abstimmungsergebnisse zur Europaliste ausgezählt werden müssen, das sonstige Programm aber vorbei ist, tröpfelt der Abend eher unspektakulär aus. 

Linkspopulismus ohne „Genossen“

Viele der Parteifreunde – das traditionelle Wort „Genossen“ wird bei aller Nostalgie nicht aufgewärmt – dürften wohl dennoch das Empfinden eines historischen Ereignisses haben. Tatsächlich verspricht das Bündnis, das seinen Namen perspektivisch nach der Bundestagswahl 2026 ändern will, die politische Landschaft durcheinanderzuwirbeln: Der Linkspopulismus, zweifellos eine Marktlücke, hat nun auch in Deutschland seine Partei. 

Fürchten vor ihrem Erfolg müssen sich tatsächlich mehrere Parteien: Die SPD und die Linke vor einer sozial orientierten Partei, die ihre Wähler nicht mit woker Ideologie nervt. Die AfD vor einer neuen Alternative, die ebenfalls mit Antiamerikanismus und naiver Friedensrhetorik um Stimmen wirbt. Und vielleicht auch die Politiker der BSW selbst: Bei den kommenden Landtagswahlen könnte das heterogene Bündnis schneller in Regierungsverantwortung kommen, als ihm lieb ist. Ob sich dann das imaginierte Sozialparadies der hohen Mindestlöhne und hohen Renten mit „vernünftiger“ Wirtschaftspolitik versöhnen lässt?

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