80 Jahre Stalingrad - Die gefährliche Instrumentalisierung des Erinnerns

Der Jahrestag des Endes der Schlacht von Stalingrad wird in Russland für propagandistische Zwecke missbraucht. Aber auch für die Ukraine und ihre deutschen Unterstützer gilt: Historisches Erinnern sollte niemals zur Legitimation von aktuellem politischen Handeln herangezogen werden.

In Wolgograd, dem einstigen Stalingrad, wurde eine neue Stalin-Büste eingeweiht / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Historisches Gedenken hat eine Tücke: Es gedenkt Historischem. Und Historisches ist vergangen. Wer an geschichtliche Ereignisse erinnert, sollte sich daher immer klar machen, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Und weil sie sich nicht wiederholt, kann man auch nicht aus ihr lernen. Allenfalls Trivialitäten: Führe keinen Krieg, verübe keinen Massenmord. Wer das erst lernen muss, der möge es tun. Gerne auch aus der Geschichte.

Für alle anderen gilt: Lehren aus der Geschichte lassen sich nicht ziehen. Weil jeder historische Konstellation einzigartig ist.

Dennoch erliegen Menschen immer wieder der Versuchung, Lehren aus der Geschichte ziehen zu wollen, historische Vergleiche zu ziehen oder zumindest, sich selbst und das eigene Handeln mit Hilfe historischer Ereignisse zu legitimieren oder zu glorifizieren.

Dass Wladimir Putin anlässlich des 80. Jahrestages des Endes der Schlacht von Stalingrad – am 2. Februar 1943 kapitulierte auch der sogenannte Nordkessel unter General Strecker – es sich nicht nehmen lässt, diesen zu inszenieren und für seine Belange zu instrumentalisieren, verwundert daher nicht.

Ebenso klar ist, dass an diesem putinschen Narrativ so gut wie gar nichts stimmt. Weder ist der Krieg in der Ukraine ein Verteidigungskrieg, noch eine Fortsetzung des Großen Vaterländischen Krieges oder die derzeitige ukrainische Regierung – aller martialischen Töne und Bandera-Verehrung zum Trotz – faschistisch.

Deutsche Panzer sind eine Steilvorlage für Putins Propaganda

Umso bemerkenswerter ist der Weg, den die politische Instrumentalisierung und die offizielle Erinnerungsinszenierung derzeit in Russland nimmt. Ganz offensichtlich versuchen Putin und sein Umfeld, eine kontinuierliche gesamtgroßrussische Geschichtserzählung zu etablieren. Diese neonationalistische Geschichtsanpassung geht so weit, dass Stalin nunmehr entstalinisiert wird und als großer Führer der russischen Nation wieder auferstehen darf. So wird aus dem „Woschd“ (Führer) und Generalsekretär der KPdSU simsalabim das von Russland beseelte Väterchen Stalin, dem man nun auch wieder ein Denkmal in der Stadt gesetzt hat, die einmal seinen Kampfnamen trug.

Diese krude Geschichtsklitterung und Instrumentalisierung darf allerdings nicht vergessen machen, dass die Schlacht von Stalingrad ebenso wie die gesamte „Große Vaterländische Krieg“ aus nachvollziehbaren Gründen für die russische Gesellschaft eine herausragende Bedeutung hat – ganz jenseits aller Inszenierungen durch irgendeine Regierung.
Dass nun, 80 Jahre nach Stalingrad, deutsche Panzer gegen Russen eingesetzt werden sollen, ist daher eine Steilvorlage für Putins Propaganda, von der zu befürchten ist, dass sie durchaus verfängt.

 

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Doch wie gesagt: Mit historischen Bezügen sollte man keine Politik machen. Denn historische Bezüge sind immer verlogen. Die Ereignisse vor 80 Jahren sind weder ein Argument für noch ein Argument gegen deutscher Panzerlieferungen. Verantwortungsvolle Politik orientiert sich immer an der Gegenwart, an aktuellen Möglichkeiten, Risiken und Strategien (so man welche hat).

Das bedeutet aber zugleich, dass Stalingrad auch keine Legitimation für einen Kampf bis zum bitteren Ende sein darf. Nicht jeder Staatschef, der sein Nachbarland überfällt, ist ein Hitler, und Putin ist es auch nicht.

Traumabewältigung darf keine Leitlinie deutscher Außenpolitik sein

Russland hatte vor 80 Jahren nur eine Chance: das nationalsozialistische Deutschland zu besiegen, koste es, was es wolle. Und der Preis, den Russland für diese Einsicht gezahlt hat, war grauenvoll.

Die Situation der Ukraine hingegen ist zwar bedrohlich, da ihre Existenz als prosperierender und überlebensfähiger Staat in Frage gestellt ist, dennoch ist die Lage aus politischen, militärischen, ökonomischen und historischen Gründen eine vollständig andere.

Wer das begriffen hat, sind übrigens die Amerikaner. Mit amerikanischem Pragmatismus stattet man die Ukraine immer gerade so weit aus, dass sie sich den forcierten russischen Angriffsbemühungen erwehren kann – aber auch mit keinem Raketenwerfer mehr. Offensichtlich plant man in Washington ein Ende des Krieges ohne Sieger und ohne Verlierer. Das zeugt von Realismus und kühlem machtpolitischen Rationalismus fern jeder politischen Romantik.

In Deutschland hingegen beschäftigt man sich mit dem, womit man sich hierzulande am liebsten beschäftigt: mit sich selbst. Also übt man sich wieder einmal in Traumabewältigung. Doch die Weltpolitik ist keine Psychologencouch. Und der aus psychotherapeutischer Sicht nachvollziehbare Wunsch, endlich auf der richtigen Seite zu stehen und Hitler in Gestalt von Putin noch einmal persönlich besiegen zu dürfen, darf keine Leitlinie deutscher Außenpolitik sein. Denn historische Vergleiche in autotherapeutischer Absicht sind nicht nur falsch, sondern auch gefährlich. Das gilt übrigens für alle Beteiligten.

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