2022 - Das Ende der Zukunft

Nie zuvor in der jüngeren Geschichte fühlte sich ein neues Jahr von Anbeginn so alt an wie 2022. Nirgendwo Freude oder Aufbruch. Stattdessen Einschränkungen, Verbote und Vorschriften. Corona wirkt wie ein Menetekel. Was einmal Zukunft war, erstarrt in Regelungen und Geboten.

Dauerberieselung mit Propaganda: Impfaktion im Supermarkt / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Als früher der Zeiger an Silvester sich der ominösen 12 näherte und man daranging – tipsy but enabled to move easily –, die Feuerwerksraketen in Sektflaschen zu positionieren und ausgelassen auf das neue Jahr anzustoßen, konnte man sich noch einbilden, im kommenden Jahr werde alles besser. Die Zukunft schien offen und kannte im Wesentlichen nur eine Richtung: nach oben.

Aus und vorbei. Der Freundeskreis am gestrigen Silvester war wieder, wie schon im letzten Jahr, kleiner als zu früheren Zeiten. Von der Zukunft erwartet eigentlich niemand etwas. Geschweige denn etwas Besseres. Eher schon rechnet man mit der ewigen Wiederkehr des Immergleichen. Und Silvesterraketen zündete ohnehin keiner. Das war nämlich verboten.

Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik fühlte sich ein neues Jahr schon an seinem ersten Tag so alt und so verbraucht an wie das Jahr 2022. Es hat nichts Neues, Frisches, Unverbrauchtes oder Positives. Wenn die Inzidenzzahlen steigen, droht der Lockdown. Wenn sie fallen allerdings auch. Geschäfte, Betriebe und Schulen sollen geschlossen werden, selbst wenn der grassierende Virustypus weit weniger gefährlich ist als seine ohnehin schon vergleichsweise harmlosen Vorgänger. Und wer dagegen demonstriert, bewegt sich außerhalb des Verfassungsbogens.

Nudging, Framing und andere Formen manipulativer Politpädagogik gehören zum Alltag

Unterdessen wird von Plakatwänden und in Kinospots massiv für Impfungen geworben. Selbst in harmlosen Supermärkten bleibt man davon nicht verschont. Nie zuvor gab es in der Bundesrepublik eine so vollkommen scharmlose Dauerberieselung mit politischer Propaganda. Was kommen morgen für Parolen? – Spare Energie! Reduziere CO2! Ernähre Dich vegetarisch! Wir dürfen gespannt sein. Nur eines scheint klar zu sein: Wir erleben einen Paradigmenwechsel in politischer Kommunikation. Nach Corona werden Nudging, Framing und andere Formen manipulativer Politpädagogik zu unserem Alltag gehören. Schöne neue Welt.

Über diese einfältigen Versuche gezielter Propaganda könnte man zur Not noch lachen. Doch es kommt auch ganz handfest. Dank CO2-Steuer steigt der Preis für Benzin seit heute erneut, ebenso für Heizöl. Plastiktüten sind verboten. In Baden-Württemberg gilt eine Solardachpflicht. Ab dem Sommer müssen neue PKW-Typen mit zusätzlichen Assistenzsystemen ausgestattet sein. Die Richtung ist klar: Man will weg vom individuellen Fahren und hin zum total überwachten, IT-gesteuerten Verkehr.

Und auch der alltägliche Konsum wird mehr und mehr reglementiert und kontrolliert: Getränkedosen und Einwegflaschen aus Kunststoff werden mit 25 Cent Pfand belegt. Und auch die Pfandpflicht für die beliebten Kunststoffeinwegflaschen für Milchprodukte steht schon in Aussicht. Gleichzeitig gilt ab heute wieder einmal eine erhöhte Tabaksteuer. Tabakwerbung im öffentlichen Raum ist nunmehr verboten.

Man will den freien Menschen nicht mehr

Man kann über jede einzelne Bestimmung mit den Schultern zucken. Als Ganzes aber ergibt sich ein bedrückendes Bild: Verbote, Vorschriften, Einschränkungen. Der Bürger soll erzogen werden. Zum richtigen Konsum, zum richten Fahren, zum richtigen Essen. Dass in einer freien Gesellschaft freie Menschen untereinander aushandeln, was sie tun, lassen oder kaufen, scheint inzwischen ein geradezu obszöner Gedanke zu sein. Man will den freien Menschen nicht mehr. Man will den fügsamen, den einsichtigen und gehorsamen Bürger. Und wer all das nicht ist, der wird mit Hilfe von Gesetzen und Verordnungen dazu gebracht. Man braucht kein Schwurbler zu sein, um den Eindruck zu gewinnen, Corona sei ein willkommenes Experimentierfeld, um auszutesten, was geht. Man kann jetzt schon sagen: Es geht viel zu viel.

Nein, die Zukunft fühlt sich an diesem Neujahrstag nicht mehr nach Zukunft an. Zumindest dann, wenn man unter Zukunft etwas Freudiges verstand: Freiheit, Offenheit und Möglichkeiten. Der Horizont wird enger. Die gangbaren Wege des Lebens werden vorgebahnt. Mehltau legt sich über unsere Gesellschaften, der als alternativlos deklariert wird. Positiv gewendet: Politik hat wieder existentielle Tiefe. Es geht nicht mehr um Petitessen. Es geht um die Freiheit und Autonomie jedes Einzelnen. In diesem Sinne: Ein schönes neues Jahr!

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