Zwei Jahre nach dem russischen Überfall - Der Westen kann es sich nicht leisten, dass die Ukraine verliert

Nicht seit zwei sondern Im Grunde seit zehn Jahren dauert die militärische Aggression von Putins Russland gegen die Ukraine an. Die bisherigen Erfahrungen zeigen nur, dass der Westen die Ukraine nicht im Stich lassen und Putin nie wieder trauen kann.

Ukrainischer Soldat an der Front bei Robotyne / picture alliance
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Autoreninfo

Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Im Spiegel tun es manche der Autoren, in der FAZ, der Neuen Zürcher Zeitung ebenso: Sie schreiben in diesen Tagen von „zwei Jahren Krieg in der Ukraine“. Allerdings hat dieser Krieg schon vor zehn Jahren begonnen. Vor seiner Eskalation durch den russischen Überfall am 24. Februar 2022 waren bereits rund 13.000 Tote im umkämpften Donbass und eine Million Flüchtlinge zu beklagen: Putin ließ 2014 erst die Krim „befreien“, obwohl bei den letzten freien Regionalwahlen die Verfechter eines Anschlusses der Halbinsel  an Russland ganze vier Prozent der Stimmen bekommen hatten. Der Status als autonomes Gebiet in der Ukraine galt der großen Mehrheit auch der Krim-Russen, die etwas mehr als die Hälfte der Einwohner ausmachten, als kleineres Übel gegenüber der Perspektive, den „gierigen Moskowitern“, nämlich dem Machtapparat Putins und den Oligarchen, ausgeliefert zu sein.

Wenige Tage nach dem Auftritt der „grünen Männchen“ auf der Krim begannen russische Truppen, Städte im Donbass zu bombardieren und zu beschießen. Dass die Kremlpropaganda diesen massiven Angriff auf die Industrieregion weiten Kreisen im Westen als Erhebung einheimischer Separatisten verkaufen konnte, darf als einer ihrer größten Erfolge gelten. In Wirklichkeit überwog auch in der russischsprachigen Bevölkerung des Donbass ein ausgeprägter ukrainischer Patriotismus, dessen historischen Bezugspunkte die Kämpfe der freien Kosaken gegen die Zaren sind.

Ein einheitlicher ukrainischer Patriotismus ist entstanden

Die traditionelle Abgrenzung von den „Moskowitern“ bedeutete aber keineswegs Gegnerschaft: Bei Umfragen vor 2014 erklärten stets rund drei Viertel der Ukrainer, dass sie in den Russen ein Brudervolk und gute Nachbarn sehen. Dieser Wert ist in den vergangenen zwei Jahren unter zwei Prozent gefallen. Putin wird wohl nie verziehen werden, dass er vor allem die russischsprachigen Gebiete bombardieren und zerstören lässt, obwohl er behauptet, dass er seine dort lebenden „Landsleute“ vor den „Faschisten in Kiew“ schützen müsse. Doch trat ein von ihm nicht beabsichtigter Effekt ein: Die Eskalation des Kriegs hat die Gräben zwischen der teilweise katholisch geprägten Westukraine, deren Bevölkerung stets antirussisch eingestellt war, und den russischsprachigen Gebieten im Osten und Süden eingeebnet, ein einheitlicher ukrainischer Patriotismus hat sich herausgebildet. In einem Großteil der mit martialischer Musik unterlegten Videoclips über den Abschuss von Panzern oder Hubschraubern mit dem roten Stern, die das Verteidigungsministerium in Kiew regelmäßig veröffentlicht, jubeln die Schützen auf Russisch.

Doch in den letzten Monaten hatte man in den ukrainischen Streitkräften wenig Grund zum Jubel, westliche Kommentatoren malen bereits das Bild einer unabwendbaren Niederlage der Ukraine. Die groß angekündigte Sommeroffensive ist gescheitert, wobei es vor allem westliche Medien waren, die das Thema hochgeschrieben hatten, während Militärexperten eher skeptisch waren. Die Russen hatten nämlich Monate Zeit gehabt, in den besetzten Gebieten Befestigungsanlagen und riesige Minenfelder anzulegen. Vorangegangen war der Abbruch der bis dahin überaus erfolgreichen Gegenstöße der Ukrainer in den Gebieten Charkiw und Cherson im Herbst 2022: Es fehlte an schweren Waffen und an Munition, um die schlecht geführten russischen Truppen weiter zurückzudrängen.

Vorwürfe gegen Deutschland

Nicht ohne Grund machen die Führungen der osteuropäischen Nato-Staaten vor allem die Bundesregierung dafür verantwortlich, weil sich deren Entscheidungsprozesse über Monate hinziehen, weil sie überdies im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung erheblich weniger an Kiew liefert, als dies die Polen oder die drei baltischen Republiken tun. In Berlin ist man sich offenbar über die Stimmung bei den Bündnispartnern nicht ausreichend im Klaren: Zum einen werfen sie den Deutschen vor, mit ihrer grob fahrlässigen Russlandpolitik Putin den Eindruck vermittelt zu haben, er könne die Ukraine weitgehend ungestraft erobern. In der Tat spricht heute Vieles dafür, dass Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier eines Tages in den Geschichtsbüchern wegen ihrer fatalen Fehlentscheidungen in eine Reihe mit den gutwilligen, aber eben doch gescheiterten Appeasementpolitikern Neville Chamberlain und Édouard Daladier gestellt werden. Zum anderen wird auch Olaf Scholz von den Nachbarn mit zunehmender Skepsis betrachtet. Zwar ist die von ihm verkündete „Zeitenwende“ mittlerweile als Fremdwort in den Sprachschatz der Angloamerikaner, Franzosen und Polen eingegangen, doch gilt er als Zauderer, auf den sich das westliche Bündnis nicht verlassen kann.

Ebenso wie der französische Präsident Emmanuel Macron hat Scholz kürzlich eine Erklärung über eine Sicherheitsgarantie für die Ukraine unterzeichnet. Doch ist völlig offen, was diese praktisch bedeutet, ganz abgesehen davon, dass diese Erklärung im Zweifelsfall als rechtlich nicht verbindlich dargestellt werden kann. In Kiew ist man skeptisch gegenüber derartigen Versprechen: 1994 haben sich die USA im Budapester Memorandum, das die Übergabe der in den anderen ehemaligen Sowjetrepubliken eingelagerten Atomwaffen an Russland regelte, verpflichtet, die Unversehrtheit der Grenzen der Ukraine zu gewährleisten. Als Putin 2014 die Krim annektieren und seine Truppen im Donbass eimarschieren ließ, hat US-Präsident Barack Obama dies hingenommen und obendrein erklärt, Russland sei ja nicht mehr als eine „Regionalmacht, die einige ihrer Nachbarn bedroht“. Das Ausbleiben einer politischen Antwort auf die russische Aggression war einer der kapitalen Fehler in der Außenpolitik Obamas, seine überhebliche Äußerung hat Putin überdies angestachelt zu beweisen, dass Russland sehr wohl eine Großmacht ist, indem er Krieg führen lässt.

Unverständnis über Scholz

Scholz’ Weigerung, der Ukraine den Marschflugkörper Taurus zur Verfügung zu stellen, stößt nicht nur bei den Koalitionspartnern und der Opposition in Berlin auf Unverständnis, sondern auch bei den unmittelbaren Nachbarn im Westen wie im Osten. Seine Argumentation bezeichnen Kommentatoren an der Seine wie an der Weichsel als grotesk: Mit Taurus könnten russische Stellungen beschossen werden, und dies wäre eine neue Eskalationsstufe. Nur gibt Scholz keine Antwort auf die Frage, warum die Ukrainer nicht die Möglichkeit haben sollten, russische Militärbasen auszuschalten. Denn genau dies gebietet die Lage angesichts der mehrfachen russischen Überlegenheit an Material und Personal. Dass die Front in den letzten Wochen noch nicht überrollt wurde, ist vor allem der taktisch schlechten Führung der russischen Streitkräfte zu verdanken, abgesehen davon, dass die Kampfmotivation der Soldaten gering ist.

 

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Zweifellos aber verfügt Russland über die weitaus größeren Reserven. Ausgeglichen werden kann dies nur durch die höhere Qualität der westlichen Waffensysteme und ihren intelligenten Einsatz. Dass für Verhandlungen, wie sie deutsche Talkshowpersönlichkeiten fordern, die sich schon in der Vergangenheit mit ihren kuriosen Fehleinschätzungen zur Lage kräftig blamiert haben, nicht einmal die Mindestvoraussetzungen erfüllt sind, hat Putin selbst wiederholt klargestellt: Kiew müsse vor Einstellung der Kämpfe nicht nur die Abtretung der besetzten, sondern auch weiterer von Moskau beanspruchter, aber noch nicht eroberter Gebiete zugestehen.

Im Übrigen haben weder Kiew noch die Regierungen der Unterstützerstaaten Anlass, auf irgendwelche Zusagen oder gar Verträge mit dem Kreml zu setzen: Putin hat alle mit Kiew geschlossenen Abkommen gebrochen, er ist ein notorischer Lügner. Wegen von ihm abgesegneter Kriegsverbrechen hat zudem das Internationale Tribunal in Den Haag ein Verfahren gegen ihn eröffnet, allein dies wäre schon ein formales Hindernis, mit ihm Verhandlungen zu beginnen.

Putin löst Probleme durch Liquidation Andersdenkender

Auch stellt die Kiewer Führung die Frage, ob Verhandlungen mit einem Mann, der offenkundig der Auftrageber für die Ermordung politischer Opponenten und „Verräter“ ist, überhaupt möglich sind. Angesichts des Todes Alexej Nawalnys sowie des Anschlags auf einen übergelaufenen russischen Hubschrauberpiloten in Spanien vor wenigen Tagen sollten sich auch die Träumer, die in der Einstellung von Waffenhilfe für Kiew den Weg zum Frieden sehen, klarmachen, dass Putin nicht nur gegen den Willen der betroffenen Völker die Wiederherstellung des russischen Imperiums anstrebt, sondern dies zudem nach dem bolschewistischen Motto tut: Man löst Probleme, indem man die damit verbundenen Menschen liquidiert. Zum ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj war nach Erkenntnissen westlicher Geheimdienste vor genau zwei Jahren ein russisches Todeskommando unterwegs. In Kiew ist auch das Schicksal Viktor Juschtschenkos sehr präsent, der als aussichtsreichster Kandidat vor den Präsidentenwahlen 2004 Opfer eines Dioxinanschlags wurde. Der Hauptverdächtige ist nach Russland geflohen.

Zwar sind zuletzt Differenzen in der Kiewer Führung offenbar geworden: Selenskyj hat sich wegen der Ablösung des populären Armeechefs Waleryj Saluschnyj Kritik eingehandelt, vor allem der Kiewer Oberbürgermeister Witali Klitschko positioniert sich zunehmend als sein innenpolitischer Gegenspieler. Doch am Ziel, den russischen Aggressoren nicht nur standzuhalten, sondern sie auch aus den besetzten Gebieten zu vedrängen, halten sie geeint fest. In Kiew gilt es keineswegs als ausgemachte Sache, dass Donald Trump im Falle eines Wahlsiegs die Hilfe für die Ukraine einstellt. Es war nämlich erst unter Trump, dass die USA sich an der Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte und der Ausbildung ihrer Stäbe beteiligt haben, nachdem Obama noch entsprechende Vorstöße der Briten und Kanadier zurückgewiesen hatte. Klitschko rühmt sich eines guten Drahtes zu Trump.

Doch gefordert sind nun die EU-Staaten, deren Gesamtwirtschaftsleistung die Russlands um das Siebenfache übersteigt, ganz abgesehen davon, dass die russische Industrie nicht in der Lage ist, Steuersysteme für Präzisionswaffen herzustellen. Brüssel sollte größere Anstengungen unternehmen, Russland den Import solcher Systeme über Drittländer zu erschweren, auch über sie Sanktionen verhängen. Zwar brüstet sich Putin mit Ziffern über Wirtschaftswachstum, doch beruht dieses vor allem auf der gesteigerten Rüstungsproduktion, die volkswirtschaftlich keinerlei Nutzen bringt.

Die Sanktionen wirken 

In den EU-Ländern macht sich zwar Kriegsmüdigkeit breit, doch auch in Russland ist wenig von Kriegsbegeisterung zu spüren. Im Gegenteil: Immer mehr machen sich die Komitees der Soldatenmütter und -frauen bemerkbar, die nicht zentral organisiert und deshalb nur schwer von den Geheimdiensten zu fassen sind. Wohl weit mehr als 100.000 gefallene Soldaten lassen sich von der Kremlpropaganda nicht vertuschen. Auch zeigen die Sanktionen sehr wohl Wirkung: Die Bevölkerung leidet unter der hohen Inflation, die mit einer drastischen Teuerungswelle für Konsumgüter einhergeht, öffentliche Investitionen gehen deutlich zurück, das Gesundheitswesen verkommt noch mehr. Chinesische Produkte schaffen hier nur in geringem Maße Abhilfe.

Vor allem dürfte sich der „chinesische Faktor“ mittelfristig überaus negativ für Putin auswirken. Dass Russland in Gefahr gerät, Juniorpartner der ungeliebten Chinesen zu werden, denen man sich immer überlegen fühlte, stört nicht nur die Oligarchen, die zum früheren Geschäftsverkehr mit dem Westen und in ihre Villen an der Côte d’Azur zurückkehren möchten, sondern auch die intellektuelle Elite. Die chinesische Kultur ist den Russen nämlich völlig fremd. Die zunehmende Abhängigkeit Moskaus von Peking rührt überdies an einen überaus empfindlichen Punkt im russischen Kollektivgedächtnis: das zweieinhalb Jahrhunderte währende Tatarenjoch, das das Land im ausgehenden Mittelalter völlig von den geistigen und technischen Entwicklungen in Europa abkoppelte.

Putins außenpolitische Misserfolge

Vor allem musste Putin hinnehmen, dass, vom belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko und der Führung des armen Tadschikistans abgesehen, keine Regierung der anderen ehemaligen Sowjetrepubliken sich im Konflikt mit der Ukraine auf seine Seite gestellt hat. Die Staaten im Kaukasus und in Mittelasien bieten russischen Wehrdienstflüchtlingen Unterkunft, auch bauen sie ihre Kontakte zur EU und den USA aus. Ebenso sind Putins Versuche gescheitert, die EU-Staaten von ihrer Hilfe für Kiew abzubringen, und nicht nur das: Schweden und Finnland mit ihren hervorragend geschulten Streitkräften verstärken die Nato in nicht geringem Maße.

Die Führung in  Kiew hofft ebenfalls auf die Aufnahme in das Bündnis. Sie sieht konkrete Zusagen des Westens darüber als unabdingbare Voraussetzung für Verhandlungen über einen Waffenstillstand. Verwiesen wird auf die Bundesrepublik Deutschland, die Mitglied im Bündnis wurde, obwohl die DDR existierte, die „deutsche Frage“ also noch offen war. Man erinnert auch daran, dass die Blockierung derartiger Angebote an die Ukrainer und die Georgier durch Angela Merkel und Nicolas Sarkozy 2008 Putin dazu ermuntert hat, das kleine Kaukasusland anzugreifen und zwei seiner Provinzen faktisch an Russland anzuschließen.

Wenn es eine klare Botschaft zum Jahrestag des russischen Überfalls gibt, so ist es diese: Die Demokratien des Westens können es sich nicht leisten, die Ukraine verlieren zu lassen.

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