Kampf gegen Corona - Warum der deutsche Föderalismus besser als Frankreichs Zentralismus ist

In Frankreich versucht man der Corona-Krise mit landesweiten Beschränkungen Herr zu werden. Frankreich ist schwer getroffen – die Bewunderung für Deutschland ist groß. Ist der Zentralismus das falsche Machtinstrument?

Die Ausgangssperre zeigt auch auf der Avenue des Champs-Élysées in Paris Wirkung / dpa
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Kay Walter arbeitet als freier Journalist in Frankreich

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Ein amerikanischer Mathematiker hat kürzlich Daten veröffentlicht, die belegen sollten: Überall wo Frauen regieren, sterben eklatant weniger Menschen an Corona, als dort, wo Männer Chef sind. Das stimmt für Skandinavien, aber offensichtlich kannte der Mann Belgien nicht. Nun ist das Thema zu ernst, um Statistiken und deren Sinn und Fehlerhaftigkeit zu diskutieren.

Sicher ist: Ein Virus macht Menschen nicht schlauer, nur kranker. Aber am Umgang mit der Pandemie zeigt sich, wer klug handelt und was verantwortliche Politik leisten kann. Wo sie Fehler gemacht hat und auch, welche Strukturen hilfreich sind und welche weniger.

„Das deutsche Mysterium“

Donald Trump bestreitet heute, dass er noch im März bestritten hat, dass das Coronavirus überhaupt eine Gefahr darstellt. Boris Johnson hat das ebenfalls lange bestritten, gibt aber nach seiner Genesung zu, dass es ziemlich knapp war. Unter dem Titel „Das deutsche Mysterium“ befand Laurent Joffrin, Herausgeber der linken Tageszeitung Libération, jüngst in einem Leitartikel, dass Deutschland im Umgang mit der Corona-Pandemie schon fast unvergleichbar viel besser dastehe, als alle Nachbarländer – allen voran Frankreich.

Viel mehr Tests und erheblich weniger Tote seien ja nur die eine Seite. Deutschland verzeichne gleichzeitig einen um 50% geringeren Einbruch der Wirtschaftsdaten und habe obendrein durch die Politik der schwarzen Null mehr Reserven als der Rest der EU. Zu allem Überfluss erziele Deutschland diese Daten trotz weniger strikter, staatlich verordneter Einschnitte.

Nicht nur ein statistisches Problem

Deutschland, so befand Joffrin, zerstöre gerade gleichzeitig die Lebenslügen und Dogmen der französischen Linken wie der Rechten. Viele Franzosen schauen derzeit täglich auf die neuesten Daten zum Coronavirus und betreiben vor dem Hintergrund der rigiden Ausgangssperren ihr ganz persönliches bench-marking: Wirken die Notverordnungen der Regierung? Wie steht mein Land da? Wie hoch ist mein Risiko?

Und sie sehen, dass bei nahezu identischer Anzahl von Kranken Frankreich mehr als viermal so viele Tote zu beklagen hat wie Deutschland. Das ist dann eben kein statistisches Problem mehr, also die Frage, wie viele Kranke überhaupt erfasst werden oder wie hoch die Dunkelziffer derjenigen ist, die das Virus bereits überstanden haben, ohne es zu wissen. 4,3-mal so viele Tote in der Relation zu Infizierten verweisen auf andere, ganz grundsätzliche Probleme.

Unterschiedliche Qualität der Krankenversorgung

Premierminister Édouard Philippe bezweifelte neulich, dass Deutschland wirklich täglich 100.000 Tests auf Corona durchführen könne, um nicht erklären zu müssen, wie unfassbar weit die Zahl von der Realität in seinem Land entfernt ist. Präsident Macron hatte in seiner letzten TV-Ansprache versprochen, dass am 11. Mai ausreichend Tests vorhanden sein werden, um dann alle Menschen mit Symptomen zu testen.

Hier zeigt sich (bei allen statistischen Ungenauigkeiten) die unterschiedliche Qualität im System der Krankenversorgung. Die weltweit höchste Zahl an Intensivbetten pro 1.000 Einwohner ist nur ein Teil der Erklärung des guten deutschen Ergebnisses, ebenso deren relativ gleichmäßige Verteilung in der Fläche. Viel wichtiger sind Anzahl und Zeitpunkt der Tests.

Paris und die Ausgangssperre

Die Krankheit zu erkennen, schon bevor gravierende Probleme auftreten, ist der Schlüssel. Jeder kann erkennen: Der Zugewinn von möglichst vielen Tests, frühzeitig und für möglichst viele Menschen ist keine Frage von Statistik, sondern eine von Leben und Tod. Natürlich stellen sich die Probleme auch anders dar: Eine Wohnung von 70qm gilt für eine vierköpfige Familie von Normalverdienern in der Seine-Metropole als ausgesprochen großzügig.

Die Stadt Paris ist über fünfmal dichter bevölkert als beispielsweise Berlin. Die Menschen hocken enger aufeinander. Und stecken sich schon deshalb schneller an. Denn die notorisch regelfeindlichen Franzosen halten sich an die Vorgaben des confinement, also der Ausgangssperre. Obwohl die härter sind, als in Deutschland. Und obwohl sie schon länger gelten und auch noch länger in Kraft bleiben werden.

Föderalismus schlägt Zentralismus

Ausnahme sind nur die Stadtbürger, die mit Kind und Kegel schon vor Wochen ins Landhaus in der Perche oder die Drittwohnung am Meer gezogen sind. 1,4 Millionen Menschen sollen, trotz Verbots im Übrigen, Paris, Straßburg oder Lyon verlassen haben. Schließlich schlägt ein Faktor zu Buche, den wohl niemand auf der Rechnung hatte: Der Föderalismus beweist sich als strukturell leistungsfähiger, als zentralstaatliche Machtbefugnisse.

Beispiel: Die Besatzung des Flugzeugträgers „Charle-de-Gaulle“ hat sich am 13. März (!) beim Landgang im Hafen von Brest mit Coronaviren infiziert. Es gab kein frankreichweites Ausgangsverbot, also hat der Kapitän seiner Mannschaft Freigang erteilt. Am selben Freitag, dem 13. März, war in NRW oder Baden-Württemberg bereits die Schließung aller Schulen und Kitas Beschlusslage. Man konnte also wissen, dass der Einschluss vieler junger Menschen auf engem Raum drohte, problematisch zu werden. Auch in Frankreich.

Viele Spekulationen und null Transparenz

Denn ebenfalls seit Mitte März verbietet die „Santé publique France“ alle Versuche der untergeordneten Instanzen auf lokaler oder regionaler Ebene, ihre Fallzahlen zu veröffentlichen, was die Verstorbenen angeht. Nur zentral gesteuerte Daten werden freigegeben. Es gibt dadurch null Transparenz, wo die Probleme besonders groß und wo kleiner sind. Jedenfalls nicht von offizieller Seite. Um so mehr schießen Spekulationen ins Kraut. Sicher ist: Die meisten Infizierten leben auf der Île de France, im Großraum Paris. Circa ein Viertel der Toten stammt ebenfalls von hier.

Es gibt auch Regionen, die so gut wie nicht betroffen sind. Aber für alle gilt die nämliche Ausgangssperre – selbst für die menschenleeren Hochebenen des Aubrac. Das reiche Nizza wollte Maskenpflicht einführen und deshalb kostenlos wiederverwendbare Masken ausgeben. Innenminister Castaner hat das verboten. Zentralismus unterscheidet nicht.

Weder fehlerfrei noch Allheilmittel

Andererseits hat der Zentralstaat Masken konfisziert und für die Allgemeinheit requiriert, die die Region Franche-Comté in China bestellt und auch bezahlt hatte. Auch bei der schrittweisen Aufhebung der Beschränkungen erweist sich der Föderalismus als vorteilhaft. Eben weil er Unterschiede zulässt. Weil er anerkennt, dass die Situation sich in Hamburg oder Berlin anders darstellt als in Satrup oder in Ribbeck. Weil er in sein Lagebild einbeziehen kann, dass ausgerechnet drei nordbayerische Landkreise die kompliziertesten Daten aufweisen und deshalb anders behandelt werden müssen, als etwa München. Um genau zu sein, jeweils eigenständig bewertet.

Nun hat sich Deutschland die föderalistische Struktur bekanntlich nicht selbst ausgesucht. Auch ist der Föderalismus weder fehlerfrei noch ein Allheilmittel. Aber gerade in Zeiten von Krise und Pandemie über seine Vorteile nachzudenken statt ständig nur uneinheitliche Regeln zu bekritteln – und das, ohne die Effekte in den Blick zu nehmen – wäre ja auch schon ein Schritt in die richtige Richtung.

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