Westbalkan - Das Pulverfass

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht bereist derzeit Bosnien, Serbien und den Kosovo. Einige Wochen zuvor war bereits Außenministerin Annalena Baerbock auf dem Westbalkan. Die Region hat die Folgen der Jugoslawienkriege noch immer nicht verdaut – und laviert im Ukrainekrieg im Spannungsfeld zwischen West und Ost. Droht der ohnehin instabilen Region ein neuer Krieg?

Vom „Bruder“ zum „Krieger“: Putin-Porträt mit blutigen Augen an einer Mauer in Belgrad / Thomas Roser
Anzeige

Autoreninfo

Thomas Roser ist Korrespondent für den Balkan mit Sitz in Belgrad.

So erreichen Sie Thomas Roser:

Anzeige

Serbiens bekanntester Kriegsverbrecher ist in der Belgrader Njegoseva-Straße nicht mehr allein. Nur 250 Meter vom Mauerbildnis des Ratko Mladic entfernt posieren an der Ecke zur König-Milutin-Straße zwei junge Männer zur Selfie-Aufnahme vor dem überlebensgroßen Konterfei von Wladimir Putin. Die „Mörder“-Aufschrift auf seiner Stirn ist entfernt. Stattdessen prangen blutrote Flecken auf seinen Augen. Das B von „BRAT“ (Bruder) ist übertüncht. Die Botschaft neben dem Konterfei des Kremlchefs lautet nun „RAT“ (Krieg).

„Serbien und Russland – auf ewig Brüder“, skandierten die rund 1000 russophilen Putin-Fans aus der rechtsextremen Szene, die Anfang März in der Belgrader Innenstadt vor das Zarendenkmal vor Serbiens Präsidentenpalast zogen. Zwei Wochen später rollte ein Autokonvoi mit wehenden Russlandflaggen zur „Unterstützung des russischen Volkes“ durch das Zentrum der Zweistromstadt an Donau und Save: Selbst das russische Panzer-„Z“ prangte aus Solidarität mit den Aggressoren in der Ukraine auf serbischem Autoblech.

Die Folgen des Ukrainekriegs

Die Folgen des Ukrainekriegs haben die Nachfolgestaaten des im Kriegsjahrzehnt der 1990er Jahre zerfallenen Jugoslawien in teils ähnlicher, teils völlig unterschiedlicher Form erreicht. Auf unerwartet direkte Art hat ihn das Nato- und EU-Mitglied Kroatien zu spüren bekommen. Am 10. März schlug um 23 Uhr eine sechs Tonnen schwere, in der Ukraine abgefeuerte Drohne sowjetischer Bauart in einem Park in der Hauptstadt Zagreb ein – nur wenige Hundert Meter von einem Wohngebiet entfernt. 

Zwar sind die exjugoslawischen Nachfolgestaaten keineswegs das bevorzugte Ziel von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine. Doch in Montenegro haben Ukrainer und Russen, die über eine Ferienwohnung im Adriastaat verfügen, wegen des Krieges bereits verfrüht ihr Sommerdomizil aufgesucht. Da das Nato-­Mitglied Montenegro die Sanktionen gegen Moskau mitträgt, haben viele der in dem Küstenstaat lebenden Russen allerdings keinen Zugang mehr zu ihren Bankguthaben in der Heimat. Die Folgen davon sind auf dem stark vom russischen Kapital gespeisten Immobilienmarkt genauso wie auf dem Bau zu spüren: In der beliebten Touristenhochburg Budva geraten die Arbeiten auf immer mehr Baustellen ins Stocken. 

Unterstützung für Russland in Serbien

In Serbien registrieren die Makler hingegen einen ungekannten Kundenandrang aus dem Osten: Vor allem kleinere Studios zur Miete oder größere Kaufwohnungen sind bei russischen Neueinwanderern gefragt. „Viele Russen eröffnen nun ein Konto bei uns“, berichtet in der Raiffeisenbank-Filiale am Belgrader Befreiungsboulevard eine Angestellte. Da die Neuimmigranten aus dem slawischen Bruderstaat in Serbien kein Einreisevisum benötigen, hat sich Belgrad neben Istanbul zu einem der populärsten Ziele in Europa für auswanderwillige Russen gemausert – egal, ob sie Putin, dem Krieg und den autoritären Verhältnissen oder eher den Sanktionsfolgen in ihrer Heimat entfliehen. Die Donaustadt ist für sie zumindest leicht erreichbar: Weil der zwischen Ost und West lavierende EU-Anwärter Serbien die EU-Sanktionen bisher nicht mitträgt, ist die staatliche Air Serbia eine der wenigen Airlines in Europa, die noch stets Moskau und Petersburg ansteuert.

Die langen Schatten der Jugoslawien­kriege bestimmen die Reaktionen auf den neuen Krieg. Er sei im Kosovokrieg 1999 als Rekrut in Prizren stationiert gewesen, erzählt der vor der Belgrader Sinisa-Nikolajevic-Schule auf seinen Sohn wartende Familienvater Milan (Name geändert). „Damals hatte uns die Nato völkerrechtswidrig bombardiert – und einen Präzedenzfall geschaffen.“ Die „Quittung“ erhalte der Westen jetzt in der Ukraine, ist der Mann mit dem gestutzten Vollbart überzeugt. Die Nato trage Mitschuld am Ukrainekrieg: „Die Nato rückt den Russen stets näher auf die Pelle, obwohl sie das Gegenteil versprochen hatte.“ 

23 Jahre nach der Nato-Bombardierung sind noch immer 82 Prozent der Serben strikt gegen einen Nato-Beitritt. Zwar hat die Ukraine genauso wie Russland Serbiens seit 2008 unabhängiger Ex-Provinz Kosovo die Anerkennung versagt. Doch viele Serben scheinen die Ukraine in erster Linie als Feind des russischen Freundes zu betrachten – und mit der Nato gleichzusetzen. Auch Mi­lans Mitgefühl für die Kriegsleiden der Ukrainer ist begrenzt. „Warum haben die Idioten sich nicht ergeben, statt ihr Land zerstören zu lassen?“, fragt er mit einem Schulterzucken: „Wenn bei uns 1999 die Bomben in die Wohnblocks von Neu-Belgrad gehagelt wären, hätten wir nie so lange ausgehalten – und sofort aufgegeben.“ 

Schlechte Erinnerung in Bosnien und Herzegowina

Zerstörte Wohnblöcke, ausgebrannte Autos, Flüchtlinge und Leichen auf den Straßen – beklemmende Erinnerungen rufen die Bilder aus Charkiw, Kiew oder Mariupol vor allem in dem zerrissenen Vielvölkerstaat Bosnien und Herzegowina wach. „Alle unsere Demonstrationen für den Frieden fruchteten nichts. Der Krieg kam. Und wir waren mehr als 1400 Tage ohne Nahrung, ohne Wasser, ohne alles“, erinnerte sich Anfang März ein weißhaariger Rentner an der Marschall-Tito-Straße in Sarajevo an die Schrecken des Bosnienkriegs (1992–1995): „Den Ukrainern droht dasselbe Schicksal wie uns.“ 

Ein während des Bosnienkriegs zerstörtes Altenheim in Sarajevo, Anfang März dieses Jahres / dpa

Zumindest bei Ausbruch des Ukrainekriegs hätten viele Menschen „erschüttert und beunruhigt“ reagiert, weil sie „in den Bildern genau das sahen, was sich in Bosnien vor 30 Jahren ereignete“, berichtet in Banja Luka der Psychologe und Analyst Srdjan Puhalo: „Zumindest die Zeitzeugen ließen die Bilder aus der Ukraine nicht unberührt.“ Doch nicht nur die allmähliche Gewöhnung an die Kriegsbilder, sondern auch Bosniens „geteilte Gesellschaft“ habe dazu geführt, dass sich der Blick auf den Ukrainekrieg mittlerweile an den ethnischen Trennlinien im heimischen Politiklabyrinth orientiere: „Die meisten Serben halten zu den Russen. Die Kroaten und Bosniaken stehen eher auf der Seite der Ukrainer.“ 

Verwerfungen und Teilungen seien in Bosnien und Herzegowina „leider nichts Neues“, sondern schon vor dem Ukrainekrieg „Normalzustand“ gewesen, so Puhalo. Von entscheidender Bedeutung sei jedoch die Frage, wann und wie das Land die wirtschaftlichen Folgen des Waffengangs zu spüren bekomme, „und wie sich die Verteuerung und der Mangel an bestimmten Rohstoffen und Waren auf unseren Lebensstandard auswirken wird“. 

Ewig in der Warteschleife

Ob in Form rückläufiger Touristenzahlen, steil steigender Energiepreise und Inflationsraten, rückläufiger Exporte oder sinkender Wachstumsraten: Die wirtschaftlichen Folgen des Ukrainekriegs bekommt ganz Südosteuropa zu spüren. Doch am härtesten treffen sie die EU-Anwärter auf dem Westbalkan, deren Lebensstandard sich eigentlich dem der EU annähern sollte: Die Wohlstandskluft zwischen dem ausgezehrten EU-Wartesaal und seinen EU-Nachbarn droht sich durch den Krieg noch zu vergrößern.

Albanien sowie die fünf exjugoslawischen Nachfolgestaaten Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien zählen zu den ermatteten Dauergästen in der EU-Warteschleife, denen nicht nur autoritäre Tendenzen, Emigration und Vergreisung, sondern vor allem auch fehlende Entwicklungsperspektiven zu schaffen machen. Die Folgen des Ukrainekriegs drohten dem Westbalkan wirtschaftlich und politisch eine „neue Eiszeit“ zu bescheren, fürchtet Dusan Reljic, Leiter des Brüsseler Büros der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Schon auf dem EU-Gipfel von Thessaloniki 2003 hatte die EU den Westbalkanstaaten eine Beitrittsperspektive zugesagt. Seitdem ist nur Kroatien 2013 der Beitritt geglückt. Obwohl zumindest Montenegro (2012) und Serbien (2014) Beitrittsverhandlungen eröffnen konnten, liegt der Erweiterungsprozess praktisch auf Eis: Auch das Beitrittsziel 2030 gilt selbst für das Spitzenduo der abgehängten Anwärter auf der EU-Dauerwartebank als nicht mehr realistisch. 

Das traurige Beispiel Nordmazedonien

Einerseits verfolgt die erweiterungsmüde Alt-EU das bei westeuropäischen Wählern ohnehin unpopuläre Erweiterungsprojekt nur noch lustlos. Andererseits bremsen bei den Anwärtern rechtsstaatliche Mängel, populistische Strippenzieher und ausbleibende Justizreformen den Fortgang des zähen Beitrittsmarathons. Stattdessen wird die EU-Erweiterungspolitik des energischen Tretens auf der Stelle durch Floskeln, Süßholzraspeln, mantrahaft wiederholte Versprechen und das Wedeln mit dem Scheckbuch flankiert. 

Ein tristes Beispiel, das Analysten der Region das „türkische Szenario“ einer endlosen EU-Annäherung fürchten lässt, ist der EU-Umgang mit Nordmazedonien: Als Mazedonien hatte das Land bereits 2005 den Status eines Beitrittskandidaten erhalten. Zunächst war es Griechenland, das die Beitrittsverhandlungen mit Skopje jahrelang blockierte: Das EU-Mitglied störte sich wegen seiner gleichnamigen Provinz am Landesnamen der Nachbarn.

Protest in Skopje gegen den Kompromiss beim „Namensstreit“ zwischen Griechenland und Mazedonien, Juni 2018 / dpa

2018 verständigte sich Skopje mit dem am längeren EU-Hebel sitzenden Athen auf die Umbenennung in Nordmazedonien. Trotz Lobeshymnen für die Kompromissbereitschaft blieb der erwartete EU-Lohn dennoch aus. 2019 waren es erst Berlin, dann Paris, die aus innenpolitischen Gründen einen Aufschub der Beitrittsverhandlungen erwirkten. 2020 trat Bulgarien auf die Verhandlungsbremse: Die Nachbarn müssten erst anerkennen, dass eine eigene mazedonische Identität vor 1945 nicht existiert habe, begründete Sofia sein Veto. Dieses trifft auch noch einen weiteren Anwärter: Da Albanien seinen Beitrittsmarathon gemeinsam mit Nordmazedonien beginnen soll, hängt es ebenfalls in den Startlöchern fest. 

Von der EU vertröstet

„Jetzt Kurs halten, nicht aufgeben, weitermachen“, versuchte sich EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen beim letzten EU-Westbalkan-Gipfel im Oktober erneut in der Rolle des Wartesaal-Motivators und Muntermachers: „Das Ziel ist vor Augen.“ Die Staaten des Westbalkans würden „im Herzen Europas liegen“, säuselte Frankreichs Präsident und notorischer Erweiterungsbremser Emmanuel Macron: Die Anwärter hätten sich Investitionen, Handel und „eine eventuelle EU-Mitgliedschaft verdient“.

Doch die Realität sieht für die EU-Anwärter anders aus. Eine EU-Mitgliedschaft ist in diesem Jahrzehnt für keinen der sechs Kandidaten mehr in Sicht. Zwar wickeln die Westbalkanstaaten drei Viertel ihres Außenhandels bereits mit der EU ab und stammt ein Großteil der Investoren aus der EU. Doch eine Annäherung an die Lebensverhältnisse von Europas Wohlstandsbündnis hat die Integration in den gemeinsamen Markt nicht gebracht. Im Gegenteil: Das immer größere Wohlstandsgefälle zur EU beschleunigt die Abwanderung von Fachkräften in den Westen.

Die Rolle als verlängerte Billigwerkbank und Arbeitskräftelieferant für die EU und vor allem für Deutschland sei für die Beitrittskandidaten längst zum „Dauerzustand“ geworden, so Reljic: „Das ist der Platz in der internationalen Wertschöpfungskette, der ihnen nach dem Zerfall Jugoslawiens zugefallen ist.“ Dank der mit Niedriglöhnen und hohen Subventionen angelockten Investoren hätten zwar viele Menschen „ein bescheidenes Auskommen erhalten“. Doch selbst „die ärmsten Bürger“ würden mit ihren für Subventionen verwendeten Steuern „dafür zahlen, dass reiche Auslandskonzerne sich auf dem Westbalkan ansiedeln und mithilfe billiger Arbeitskräfte für den Export produzieren“.

Wirtschaftliche Entwicklung stagniert

Eigentlich müsste der Erweiterungsprozess die Region so verwandeln, „dass die Menschen einen höheren Lebensstandard und mehr Rechtssicherheit haben“, sagt Reljic. Doch auf dem gemeinsamen Markt seien die EU-Anwärter, aber auch die neuen EU-Mitglieder im Osten „gegenüber den EU-Zentren immer im Nachteil“. EU-Neulinge wie Polen, Ungarn, Slowakei, Tschechien oder die baltischen Staaten hätten aber ihre wirtschaftliche Aufholjagd zum Großteil mithilfe der EU-Strukturfonds realisieren können: „Ihnen wurde Wachstum mit der Solidarität der EU ermöglicht; diese Kompensierung erhalten die Westbalkanstaaten nicht.“

Wenn man die EU-Annäherung als Geldautomaten betrachte, an dem Gelder ein- oder ausbezahlt würden, „zahlen die Westbalkanstaaten mehr Mittel ein, als sie von der EU erhalten“, sagt Reljic. Einerseits habe sich mit der vollen Öffnung ihrer Märkte ihr gesamtes Handelsdefizit mit der EU jährlich bereits auf zehn Milliarden Euro vergrößert. Andererseits wanderten immer mehr von den Beitrittsländern ausgebildete Ärzte, IT-Fachkräfte, Ingenieure, Krankenschwestern und Handwerker in den Westen ab. 

Die Entwicklungskluft zwischen den Beitrittskandidaten und ihren EU-Nachbarn werde durch den im letzten Jahr geschaffenen Corona-Wiederaufbaufonds der EU noch vergrößert, fürchtet Reljic: „Griechen oder Kroaten erhalten pro Kopf aus dem Topf zehn bis elf Mal so viele Gelder wie Serben oder Albaner.“ Wenn sich die Schere zwischen EU-Mitgliedern und Anwärtern aber weiter öffne, könnten sich nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die politischen Verhältnisse kaum angleichen: „Die Leute messen ihr Lebensgefühl auch an ihrem Einkommen. Wenn sie von der Demokratie nichts haben, geht auch die Unterstützung für diese zurück – und haben Rechtspopulisten und Nationalisten leichtes Spiel.“ 

Nach der Ukraine der Westbalkan?

Auch wegen des niedrigen Lebensstandards trifft die Erhöhung der Benzin-, Gas- und Lebensmittelpreise durch den Ukrainekrieg die stark oder zum Teil vollständig von russischen Energielieferungen abhängigen EU-Anwärter besonders hart. Für fraglich hält Reljic, „ob die EU helfen wird, dass die Region zu Gas, Erdöl und Kohle kommt“. Doch zumindest politisch kann sich der oft verwahrloste EU-Vorhof seit Kriegsausbruch der verstärkten Aufmerksamkeit der EU-Partner sicher sein: Es sind die westlichen Ängste vor dem russischen Einfluss vor allem in Serbien, aber auch in Bosnien und Herzegowina, die seit Kriegsausbruch eine verstärkte Pendeldiplomatie nach Belgrad und Sarajevo ausgelöst haben.

Sie wolle „deutlich machen, dass wir diese Region im Herzen Europas nicht dem Einfluss Russlands überlassen werden“, begründete Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bereits vor Antritt ihrer Blitzreise auf den Westbalkan im März. Zuvor hatten Bosniens frühere „Hohe Repräsentanten“ Christian Schwarz-Schilling und Valentin ­Inzko in einem dramatischen Appell an die EU und Nato gar vor einem neuen Balkankrieg gewarnt: „Wir fürchten, dass sich die Aggression gegen die Ukraine auf den Westbalkan ausweiten könnte. Niemand weiß, was Putins Ziele sind.“ In dasselbe Kerbholz schlägt Kosovos Premier Albin Kurti: Russland könnte den Westbalkan zum „neuen Kampfgebiet“ machen – mithilfe Serbiens oder der bosnischen Republika Srpska, warnte er Anfang April gegenüber CNN.

Kaum für Krieg vorbereitet

Tatsächlich haben sich nicht nur Russland, sondern auch China, die Türkei und Ungarn das durch das Desinteresse der EU entstandene Machtvakuum auf dem Westbalkan in den letzten Jahren zunutze gemacht. Gleichzeitig droht der bosnische Serbenführer Milorad Dodik regelmäßig mit einem Referendum über eine Abspaltung der Republika Srpska. Zwar ist die kürzliche Verdopplung der Stärke von Bosniens internationaler Eufor-­Schutztruppe auf 1100 Mann sicher auch als Signal an Russland gedacht: Moskau soll vermittelt werden, dass die EU am Westbalkan festhält. Doch eine realistische Kriegsgefahr vermögen die meisten Analysten in der Region trotz des aufgeregten Medienwirbels im Westen kaum zu erkennen.

Es sei zwar eine Tatsache, dass die Regierungspolitiker in der Republika Srpska eng mit Moskau kooperierten und dass Russland im Teilstaat beliebter als die Nato sei, sagt in Banja Luka Srdjan Puhalo. Doch an einem neuen Balkankrieg sei derzeit weder der Republika Srpska noch Serbien oder gar Moskau gelegen: Russland habe derzeit einfach „andere Prioritäten“. Heimische Politiker würden wissen, dass der Westen „nervös“ sei und bei einem Konflikt „scharf reagieren würde“. Zudem stelle sich die Frage, wie eine etwaige Militärhilfe aus Russland überhaupt in das „von Nato-Staaten umringte“ Bosnien gelangen sollte. 

„Selbst falls es Leute geben sollte, die einen neuen Krieg führen wollten, gibt es in Bosnien nichts mehr, mit dem sie sich überhaupt noch bekriegen könnten“, verweist Puhalo auch auf den desolaten Zustand des Landes: „Wir haben weder genügend funktionsfähiges Kriegsgerät noch Nahrung oder Toilettenpapier für eine Armee im Kampfeinsatz. Wir haben nichts, womit wir einen solchen Krieg bezahlen könnten. Die andere Frage ist, wer einen solchen Krieg überhaupt führen sollte. Unsere jungen Leute emigrieren schon jetzt in den Westen. Wer von ihnen wäre bereit, in Bosnien in einen Krieg zu ziehen?“

Düstere Perspektive

Tatsächlich machte die Kaserne von Banja Luka zuletzt weniger durch Übungen für den Ernstfall als durch ungewöhnliche Kurzarbeit von sich reden: Da die Baracken selbst bei Minustemperaturen wegen des Mangels an Heizöl kaum beheizt werden konnten, machten die fröstelnden Beschäftigten in diesem Winter schon um 14 statt um 16 Uhr Feierabend. 
Durch den vermehrten Auftrab von EU-Politikern gespeiste Hoffnungen in der Region, dass der Ukrainekrieg den trägen Erweiterungsprozess beschleunigen könnte, hält SWP-Direktor Reljic für wenig begründet. Nur bei EU-Ängsten, „dass die russische Armee bald an die Adria vorstoßen könnte“, wäre ein „sehr schneller Erweiterungsprozess“ vorstellbar. Doch er sehe nicht, dass wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine „irgendwo in Südosteuropa Kriege ausbrechen könnten“: „Das sind keine kommunizierenden Röhren.“

Durch die dicken Gardinen im altehrwürdigen Aeroklub in Belgrad fällt fahles Licht. Eher getrübt wirkt auch das Bild, das die Teilnehmer der Konferenz „(Fehl)Wahrnehmungen der EU auf dem Westbalkan“ zeichnen. Selbst ein Drittel der Stipendiaten der „Europäischen Bewegung in Serbien“ glaube nicht mehr daran, dass ihr Land jemals Mitglied der EU werde, klagt deren Vorsitzende Jelena Milic. Ein Drittel von Kosovos Bevölkerung habe das Land bereits verlassen, berichtet der kosovarische Soziologe Gezim Krazniqi, der selbst an der Universität Edinburgh lehrt: „Die Zustimmung zur EU ist in Kosovo zwar noch groß. Doch es besteht das Risiko, dass populistische Politiker oder Parteien das Gefühl der unfairen Behandlung durch die EU für die eigenen nationalistischen und autoritären Zwecke ausnützen könnten.“ 

Wie andere Wissenschaftler plädiert auch der Zagreber Politologe Dejan Jovic dafür, den EU-Anwärtern schon vor Beitritt zur Angleichung der Lebensverhältnisse den vollen Zugang zu den EU-Strukturfonds zu gewähren: „Um mit den Folgen des Ukrainekriegs fertig zu werden, müsste Europa endlich die der Jugoslawienkriege bewältigen.“

 

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen

Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige